26. Juli 2010 Lesezeit: 4 Min.

"Verleger-Schreck" Flipboard: Auch auf Tablets gelten Marktdynamiken des Webs

flipboard

Vor zwei Monaten hatte ich über Medien-Applikationen auf dem iPad geschrieben und ausgeführt, dass auch auf dem iPad die Marktdynamiken des Internets weitgehend ihre Gültigkeit behalten. Das betrifft beispielsweise die zunehmend um sich greifende Trennung von Produktion und Distribution von Inhalten. Ich schrieb unter anderem:

Auch in einem Ökosystem, in dem Apple die meisten Infrastruktur-Fäden in der Hand hält, bleibt die Grundausgangslage die gleiche: In einem digitalen Markt, der von Vernetzung bestimmt ist, kommt es zu einer kleinteiligeren Arbeitsteilung zwischen Unternehmen, weil die Vernetzung eine einfachere Verknüpfung der Wertschöpfungsbeiträge ermöglicht. Die mittlerweile bekannte Senkung der Transaktionskosten. Jene Art von Kosten, welche nach Ronald Coase bekanntlich massgeblich für das Entstehen von Unternehmen verantwortlich sind.

Das macht sich unter anderem in Feedreader-Applikationen bemerkbar. Das iPad scheint aber auch eine besondere Art von Apps zu begünstigen, die neben oder statt RSS-Feeds auf Links aus dem Social Graph setzen. Als Webapplikationen dieser Art von Aggregatoren sind Twitter Times und andere bekannt.

Eine bemerkenswerte neue Applikation dieser Gattung für das iPad ist das jüngst erschienene Flipboard. Es setzt neben auswählbaren Inhaltebündeln vor allem auf die Integration der auf Twitter und Facebook geposteten Links. Nach Integration des Twitter- und/oder Facebook-Accounts mit Flipboard, landen dort die Artikel, die von Freunden verlinkt wurden. Und es kommt mit einer ansprechenden Optik. Das Flipboard ging nach dem Launch einmal quer durch die Blogosphäre und die Mainstreammedien . Eine Zusammenfassung der Funktionen findet man auf dem iPad-Magazin.

Was zeichnet das kostenlose Flipboard aus?

Es sieht gut aus.

Es bezieht die Inhalte statt aus einer hierarchischen Redaktion aus dem Social Graph des Nutzers; also von seinen Online-Kontakten auf Twitter und Facebook. Die so erhaltenen Inhalte werden ausserdem noch automatisch ausgewertet.

Und es ist gut in die bestehenden Netzwerke integriert (Man kann beispielsweise bereits Links an Twitter schicken und auf Facebook eingestellte Inhalte mit einem 'Like' versehen.)

Punkt Zwei ist die Trennung von Produktion und Inhalt. Die Flipboard-Macher müssen sich nicht mit der Produktion von Inhalten beschäftigen. Das Web gibt ihnen die Möglichkeit, die Produktion (Publisher) und die Distribution (Nutzer von Facebook und Twitter) anderen zu überlassen.

Die Flipboard-Macher konzentrieren sich auf die Aufbereitung, das Interface und weitere Funktionen. Das führt zu Punkt Eins und Drei. Bereits in der ersten Version kann die Flipboard-App mit vielen Verlags-Applikationen mithalten und ist im Bereich Eye-Candy sogar oft besser.

Während die Presseverlage alles - Inhalte zu allem, und ihre Verbreitung und Aufbereitung - aus einer Hand bieten wollen, konzentriert sich Flipboard auf genau eine Aufgabe. Weil der Rest vom Web erledigt wird. Flipboard hat für das Aufbauen eines Unternehmens rund um die Lösung dieser Aufgabe von Investoren 10,5 Millionen Dollar erhalten. Welcher IT-Abteilung eines Presseverlages wird wohl ein ähnliches Budget zur Verfügung stehen?

Ich führte die unterschiedlichen Ausgangslagen von unabhängigen App-Entwicklern und internen Lösungen von Presseverlagen vor zwei Monaten so aus:

Gute(!) Entwickler haben in der Regel bessere Verdienstmöglichkeiten mit selbständig angebotenen Apps, statt diese im Auftrag für Verlage zu entwickeln. (Der Entwickler Marco Arment kann von den Instapaper-Einnahmen nach eigener Aussage sein Haus bezahlen.) Und sie haben einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil auf der inhaltlichen Seite.

Der Vorteil auf der inhaltlichen Seite: Applikationen wie das Flipboard sind publikationsagnostisch. Die Inhalte erscheinen, egal wo sie publiziert wurden. Die Apps der Presseverlage sind lediglich hübschere, an die Multi-Touch-Bedienung angepasste Oberflächen der eigenen Websites.

Fazit: Im Vergleich zum industriellen Zeitalter finden wir eine kleinteiligere Arbeitsteilung im vernetzten Informationsmarkt vor.

Das Geschäftsmodell der heutigen Presseverlage beruht darauf, alles aus einer Hand anzubieten. Folglich passt ihnen diese Entwicklung natürlich nicht. Vielen wird bald angesichts von Flipboard dämmern, dass Eye-Candy nicht das durchschlagende Argument für Bezahlschranken auf dem iPad sein wird.

Meedia hat bereits zum Launch getitelt: Flipboard: Verleger-Schreck auf dem iPad. Spiegel Online fragt gleich im Lead-In seines Testes: "Ein Angriff auf klassische Medien?" und schließt mit folgendem Fazit:

Viele Profi-Layouter, Journalisten und andere Fachleute werden nicht begeistert sein, dass das Social-Media-Magazin von morgen von einem Algorithmus gestaltet werden soll. Aber wesentlich besser, reicher, wertiger als eine Twitter-Timeline oder ein Facebook-Newsfeed sieht das Angebot von Flipboard schon jetzt aus. Und der Angriff auf die klassischen Medienanbieter hat erst begonnen.

Und Carta führt aus:

Mit ziemlicher Sicherheit dürfte sich in den nächsten Monaten irgendwo einen Verlag finden, der seine Inhalte hier zu Unrecht übernommen sieht. Das Grundproblem hierfür liegt aber weniger in der Auslegung überkommener oder neuerer Rechtsvorschriften (Leistungsschutzrechte!), sondern im Paradigmenwechsel der Distribution von Nachrichten.

Hierfür werden die Verlage noch einsehen müssen, dass die klassischen Bindung der Leser, wie sie im Zeitalter der Printmedien möglich und üblich war, sich in der digitalen Gesellschaft nicht wird aufrechterhalten lassen.


Beschwerden von Verlagsseite liesen nicht lang auf sich warten: Unter anderem Handelsblatt und Sueddeutsche veröffentlichten eine Meldung der dpa, in der sich der BDZV (Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger) vorsorglich bezüglich Urheberrecht und Leistungsirgendwas besorgt zeigt. Matthias Spielkamp kommentiert recht passend die Frage, wie der BDZV über Fragen zu einem Recht sinniert, das gar nicht existiert.

Aber die Existenz von Flipboard könnte auch darauf deuten, was die Presseverlage mit dem Leistungsschutzrecht auch wollen: Die Kontrolle über ihre Inhalte so weit ausbauen, dass notfalls disruptive Markteinsteiger abgewürgt werden können. Mit dem Urheberrecht kommen sie da bisher nicht weit. (Wie man unter anderem an Aggregatoren wie Google News sehen kann.)

Anbieter von Applikationen wie Flipboard haben enorme Wettbewerbsvorteile, wie oben bereits ausgeführt wurde. Das Geschäftsmodell der Presseverlage und ihre eigenen Strukturen verhindern ihnen mehr oder weniger, einen ähnlichen Weg zu gehen. Also müssen sie diesen Weg für andere unterbinden, notfalls eben mit gesetzlichen Schranken.

Natürlich wird es noch eine Debatte rund um Flipboard und dessen Praktik geben müssen, Artikel von Websites zu nehmen und in der Applikation anzureissen. Siehe dazu etwa Gizmodo und GigaOm. Man kann argumentieren, dass Flipboard lediglich eine Art hübscherer Feedreader mit innovativer Abo-Funktion ist. Aber vor allem Websites von Mainstream-Angeboten bieten oft nur RSS-Feeds mit kurzen Teasern an, die für die längeren Anrisse bei Flipboard nicht verwendet werden. Flipboard setzt eine eigene Parsing-Engine ein, die die Länge der Artikel-Anreisser auch von der Länge der Inhalte in den RSS-Feeds abhängig macht, wie man gegenüber Gizmodo ausführte.

(Davon abgesehen ist die New York Times kürzlich erst gegen eine RSS-Applikation vorgegangen, weil diese den NYT-Feed verwendet hat. Der Beweggrund der NYT dürfte der selbe gewesen sein, wie der der deutschen Presseverlage bei der Initiative zum Leistungsschutzrecht. Es geht um Kontrolle der Distribution.)

Flipboard wird nicht die letzte Applikation dieser Art sein. Ganz im Gegenteil. Und schließlich wird nicht eine Applikation allein die für das Web so fundamentale Trennung von Produktion und Distribution weiter vorantreiben, sondern die gesamte Klasse dieser Applikationen.

Sollte Deutschland ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage bekommen, könnten etwa Applikationen wie Flipboard über kurz oder lang aus dem deutschen AppStore verschwinden. Dass damit eine effizientere Lösung des Problems der Informationsverbreitung eliminiert würde, ist dabei ein Feature, kein Bug.

Bemerkenswert, wie schnell der Traum der Verleger platzt, Multitouch-Tablets könnten die Medienwelt zurückdrehen und die Netzökonomie aushebeln. Aber zum Glück gibt es ja noch Lobbyisten.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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