13. Sep. 2010 Lesezeit: 2 Min.

Versagen von Geschäftsmodellen liegt nicht an fehlender Moral und Verantwortung

Letzte Woche hatte ich hier schon über Adblocker und den Glauben, ein Anrecht auf Werbefinanzierung als Geschäftsmodell zu haben, gesprochen.

Auf netzwertig.com wurde das Thema weiter diskutiert, allerdings mit dem heutzutage leider oft anzutreffenden Argument, es fehle denen an Moral und Verantwortungsgefühl, die sich nicht gemäß den dem Geschäftsmodell zugrundeliegenden Annahmen verhalten. In einem Kommentar schrieb ich:

Es ist leider weit verbreitete Zeitverschwendung, von Geschäftsmodellen zu reden und mit Mentalität und Verantwortungsgefühl zu argumentieren.
Das blendet den Hauptpunkt des Betrachteten aber elegant aus: Entweder das Angebot schafft Mehrwert dergestalt, dass ein Markt dafür da ist oder eben nicht. Das schließt das Geschäftsmodell mit ein.

Leander Wattig hat ebenfalls angesprochen, warum man Moral und Ethik aus den Geschäftsmodellfragen, die wir hier diskutieren, besser heraushalten sollte. Willkürlichkeit:

Das Problem bei vielen der Moral-Diskussionen wie der von Marcel mit Sascha Lobo ist auch aus meiner Sicht, dass die Leute allzu schnell ihre individuelle Moralvorstellung auf andere übertragen. Das gleitet schnell ab in die Willkürlichkeit.

Ich führe das hier im Folgenden noch mal etwas aus, weil es offensichtlich noch Diskussionsbedarf zu diesem Thema gibt. Außerdem ist es auch außerhalb der Werbeblocker-Debatte nicht unüblich, bei Geschäftsmodellfragen fehlleitende Abkürzungen zu machen.

Ein Beispiel, das es vielleicht verdeutlicht:
Ein Buchverlag verkauft seine aufwendig erstellten Bücher unter Kosten, weil er mit dem Verkauf der Batterien für die in den Büchern integrierten Lampen Geld verdienen will.
Er stellt also zwei Annahmen für sein extravagantes Geschäftsmodell an:
1. Seine Bücher werden vornehmlich im Dunkeln gelesen.
2. Die Leser kaufen die Batterien bei ihm.

Wenn beides oder eins davon jetzt nicht eintritt, kann der Verlag seine Kunden dafür verantwortlich machen. Immerhin ermöglichen sie ihm nicht, gemäß seines Geschäftsmodells zu wirtschaften!

Aber in Wahrheit ist es seine Schuld, wenn er ein Angebot schafft, dessen Grundannahmen nicht ausreichend genug mit der Realität übereinstimmen, um Gewinn zu erwirtschaften.

Das Versagen eines Geschäftsmodells mit fehlendem Verantwortungsbewusstsein bei den Kunden zu erklären, ist widersinnig und bestenfalls naiv. Und es ist nie zielführend.

Ich habe bewusst ein besonders groteskes Beispiel gewählt, um die Absurdität der Aussage zu verdeutlichen, Schuld am Misserfolg des Anbieters hätten die unmoralischen Kunden.

Noch ein anderes Beispiel, das nicht so weit hergeholt ist:
Ein Blogger will von seinen Texten leben und wählt als Einnahmequelle das Micropaymentsystem Flattr. Er sagt "Es gibt keine Alternative zu Flattr!", weil er keine anderen Erlösströme erschliessen will.
Die Annahmen, die seinem Geschäftsmodell zugrunde liegen:
1. Seine Leser besitzen Flattr-Accounts.
2. Seine Leser belohnen ihn mit Flattr-Klicks in solchem Ausmaß, dass er einen Profit erwirtschaften kann.

Wenn das funktioniert: Super. Wenn es nicht funktioniert: Haben seine Leser sich dann unmoralisch und unverantwortlich verhalten, weil sie ihr Verhalten nicht an seine Annahmen angepasst haben (oder ihr Verhalten zumindest nicht zu den vermuteten Einnahmen geführt hat)?

Natürlich nicht.

Niemand würde das behaupten. Aber beim Einsatz von Werbeblockern behaupten wir es. Warum? Weil das werbefinanzierte Modell älter ist als wir es sind. Es ist ein seit langem anerkannter, weit verbreiteter Weg zur Refinanzierung von Inhalten.

Wenn also jemand dieses Modell auf Annahmen basierend einsetzt, die nicht zutreffen, weil die Kunden auf einmal eine Wahl haben, die sie vorher nicht hatten, sehen wir auf einmal ein in vielen Branchen etabliertes Geschäftsmodell von einer neuen uns unbekannten Seite angegriffen.

Der Fehler ist aber nicht bei den Kunden/Lesern/Hörern etc. zu suchen, deren Verhalten sich durch neue technische Möglichkeiten geändert hat. Der Fehler ist beim Anbieter zu suchen, der seine dem Geschäftsmodell zugrunde liegenden Annahmen diesen Möglichkeiten und dem ihnen folgenden Nutzerverhalten nicht anpasst.

Mit erhobenem Zeigefinger nach mehr Moral und Verantwortung rufen, ist eine Scheindebatte, die von der wesentlichen Frage ablenkt:

Wie schaffe ich als Anbieter Mehrwert?

Wer Mehrwert schafft, hat auch einen Markt für sein Angebot. Und wer einen Markt für sein Angebot hat, findet auch ein Geschäftsmodell. Wenn auch vielleicht nicht unbedingt ein Geschäftsmodell, das ihm gefällt. Aber das ist sein Problem und sein Problem allein.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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