Mindestens ebenso unsinnig wie das Gerede rund um eine Umsonstkultur im Internet ist die Behauptung, das Internet hätte einen Geburtsfehler: Eben diese Umsonstkultur. Neueste Person, die das behauptet:
Monika Piel, die neue ARD-Vorsitzende, in einem Interview im Tagesspiegel.
Den Geburtsfehler des Internets – kostenlose Inhalte – zu beseitigen ist aber schwierig und langwierig.
Seit das Internet im Mainstream in der zweiten Hälfte der Neunziger angekommen ist, versuchen Presseverlage in der westlichen Welt regelmäßig und bis auf sehr wenige Ausnahmen erfolglos, Bezahlschranken zu etablieren. Den einzigen Geburtsfehler hatten solche Websites, die von Anfang an mit Bezahlschranken ausgestattet waren, bis diese mangels Erfolg abgeschaltet wurden. (Ein Beispiel von vielen ist das Handelsblatt.) Die Debatte ist so alt wie das Internet und wer heute von einem Geburtsfehler redet, kennt weder die Geschichte der Branche noch die auf die sie wirkenden Marktdynamiken.
Außerdem sagt Monika Piel:
Wir bieten Kooperationen an. Mathias Döpfner, der Springer-Chef, denkt bei diesem Thema in die richtige Richtung. Er will eine Allianz der Qualitätsanbieter im Wettbewerb, unter anderem gegen Google, Apple und Vodafone. Die ARD steht dafür bereit.
Das ist eine bemerkenswerte Aussage. Inwiefern stehen Google, Apple und Vodafone dem Erfolg der Presseverlage im Wege? Was hat das mit der ARD zu tun? Und was ist mit dem Kartellrecht passiert?
Es wird noch verwirrender:
Ist Google eine Bedrohung für die ARD?
Natürlich. Das gilt aber nicht nur für uns, sondern für alle Qualitätsmedien.
Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, in welcher Situation Google gefährlich für die ARD ist. Google hilft wie bei den privaten Angeboten auch bei den Öffentlich-Rechtlichen bei der Verbreitung ihrer Inhalte. Da diese Inhalte vom Gebührenzahler finanziert sind, ist eine maximale Verbreitung wünschenswert.
Wird die ARD auch von Kabelanbietern bedroht? Von DVB-T-Antennen-Herstellern?
Und was ist eigentlich mit Facebook, Twitter und Co.? Bedrohen diese auch die ARD? Einige deutsche Presseverleger haben schließlich Facebook als die neue „Gefahr“ (lies: potentielle Einnahmequelle) bereits im Juni 2010 erkannt.
Piel weiter:
Wir bieten in Apps nichts anderes an, als das, was ohnehin auf unseren Internetseiten abrufbar ist. Wir wollen keine Wettbewerbsverzerrung betreiben. Wenn es die Verleger schaffen, alle ihre Apps kostenpflichtig zu machen, werde ich mich in der ARD dafür einsetzen, dass auch wir Geld verlangen.
Die ARD finanziert also Applikationen für ein Betriebssystem, das nur von einer verschwindend geringen Zahl der Gebührenzahler genutzt wird und diese Applikationen, die mit gebührenfinanzierten Inhalten befüllt werden, sollen auch noch kostenpflichtig werden?
Wenn das Privatfernsehen komplett auf Pay-TV umschalten würde, würde die ARD dann auch nachziehen?
(Randnotiz zu den durchaus zu kritisierenden iOS-Apps: Ein sinnvollerer Einsatz der Ressourcen wäre gewesen, HTML5-Seiten mit Multitouch-Optimierung auszubauen und zu verbessern, weil diese automatisch Multihoming und damit maximale Verfügbarkeit mitbringen. Das Gleiche gilt für Programmierschnittstellen.)
Monika Piel weiter:
Noch gibt es allerdings beispielsweise an die hundert kostenlose Sport-Apps. Ich kann mir zudem mit den Verlagen eine gemeinsame Internetplattform vorstellen. Dort könnten die Verlage und die Anstalten dann ihre kostenpflichtigen Qualitätsinhalte vertreiben. Es ist vieles denkbar, wenn wir uns mit den Verlegern auf diesem Gebiet endlich zusammenschließen.
Die vielen kostenlosen Applikationen werden auch bestehen bleiben. Der Grund ist unter anderem das Gefangenendilemma.
Der gemeinsame Vertrieb aller ‚Qualitätsinhalte‘ von Presseverlagen und Öffentlich-Rechtlichen? Am besten noch mit gegenseitiger Verzichtserklärung, Angebote kostenlos oder unter einem festgelegten Preis anzubieten?
Nochmal: Kartellrecht?
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Ich glaube, dass die meisten Aussagen von Monika Piel nicht unbedingt ernst gemeint sind und eher dazu gedacht sind, die zunehmend hysterisch auch gegen die ARD zu hetzenden Presseverlage zu beruhigen. Immerhin wurde das Interview von Hans-Peter Siebenhaar und Gabor Steingart geführt. Also den zwei Spezis, die auch für das legendäre Döpfner-Handelsblatt-Interview letzten November verantwortlich waren.
Ich bezweifle allerdings, dass es eine kluge Strategie der ARD ist, die widersinnigen Positionen und Argumente der besonders lauten Presseverleger zu wiederholen und damit zu verfestigen.
Klarheit und Besonnenheit wäre in der deutschen Medienwandel-Debatte, die aktuell völlig aus dem Ruder läuft, dringend nötig. Schade, dass das nicht von der ARD kommen wird.
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Siehe zum Thema auch:
- netzpolitik.org: ARD-Vorsitzende Piel will Geburtsfehler des Internets beseitigen
- und Rivva für die Reaktionen auf das Interview
- Update: Stefan Niggemeier: Frau Piel, wir müssen reden
Robert says
„…Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, in welcher Situation Google gefährlich für die ARD ist.“ Vielleicht in einer Situation, in der Google TV die Reichweite der ARD senkt?
Jürgen Messing says
Wunderbarer Artikel. Insbesondere spricht mir die (leider in (Klammern) verunwichtigte) HTML5-Empfehlung aus der Seele. Ich befürchte nur, dass die Frau Piel so wirr unterwegs ist, sie wird nicht verstehen können, was hier steht. Ist halt auch eine Frage der Qualität.
TJ says
Mathias Döpfner, der Springer-Chef, will eine Allianz der Qualitätsanbieter. Wie bitte? Springer-Verlag und Qualität? Das passte noch nie zusammen.
mein-spessart-media says
Danke.
Was soll man noch viel dazu sagen?
Es dauert vermutlich noch 2 Generationen bis das ewig gestrige Denken des Leistungsschutzes, des überholten Urheberrechts und der peinlichen Eigentumsdiskussion über immaterielles Gut verstummt ist.
Ob ich das erleben werde?
sikki says
…gier essen hirn auf…
Marcel Weiss says
Google TV ist eine Plattform, die Inhalte verbreitet und nicht selbst erstellt. Das steht in der Wertschöpfungskette auf der gleichen Höhe wie Satellitenbetreiber.
Aktiv geblockt werden ÖR Inhalte auf so einer Plattform auch nicht.
Ich bezweifle auch, dass Frau Piel Google TV schon auf dem Schirm hat.
Marcel Weiss says
Das ist mir auch wichtig. Es steht nur in Klammern, weil es mit dem Interview mit Frau Piel nicht viel zu tun hat.
Robert says
Satellitenbetreiber verkaufen keine Werbung und betreiben keine EPGs. Google TV kann also mehr für den Konsumenten und Werber leisten als nur Verteilung zu betreiben – sofern die Contentlieferanten nicht blocken.
Das wird Marktanteile von Sendern verschieben, ähnlich wie ich heute Radio nicht mehr nur von den Anbietern höre, die über die Antenne reinkommen.
Hannes says
Was Leute wie Frau Piel wohl übersehen ist, dass bisher noch nie ein Medium durch ein anderes vollständig substituiert wurde. Das Radio hat Buch und Zeitung nicht ersetzt/verdrängt, das Fernsehen hat das Radio nicht ersetzt/verdrängt und das Internet hat das Fernsehen nicht ersetzt/verdrängt.
Richtig hingegen ist, dass sich die Nutzungszeiten diverser Medien verschieben (Radio wird nicht mehr so häufig genutzt wie noch vor 50 Jahren), was aber auch vollkommen logisch ist (Fernsehen bietet eben auch Bilder, das kann das Radio aus verständlichen Gründen nicht).
Bei kostenlosen Inhalten im Internet von einem „Geburtsfehler“ zu sprechen ist ungefähr so, als würde ich private Fernsehanstalten dafür kritisieren, dass sie keine Gebühr für ihr Programm verlangen.
Marcel Weiss says
„Bedroht“ dann jeder private Inhalteanbieter die ÖR, weil er ihnen
Marktanteile nimmt?
stationsarzt says
„Die ARD finanziert also Applikationen für ein Betriebssystem, das nur von einer verschwindend geringen Zahl der Gebührenzahler genutzt wird und diese Applikationen, die mit gebührenfinanzierten Inhalten befüllt werden, sollen auch noch kostenpflichtig werden?“
Die App gibt es doch schon von Anfang an für alle gängigen Smartphone-OS. Klar wäre vielleicht HTML5 besser gewesen, aber in dem Punkt ist die ARD den meisten Privaten einen Schritt voraus.
Robert Wetzlmayr says
*Jeder* private Inhalteanbieter bedroht den ÖR nicht, weil sich die Zielgruppen nicht in jedem Fall gut überschneiden: Horoskopsendern o.ä. nehmen dem ÖR hoffentlich keine relevanten Marktanteile weg.
Google TV ist aber was anderes, glaube ich: Viel Geld, breitenwirksam, vorhandener Kundenstamm, meistbesuchte Website der Welt als Landingpage, eindeutige Strategie zu vertikaler Vertiefung.
In dieser Situation kommt es eher drauf an, wie martialisch man als Verantwortlicher das Wort „Bedrohung“ auslegt.
Wenn ein Medium das Ziel hat, relevant zu sein und Reichweite als Relevanzkriterium einsetzt (das wird wohl für den ÖR gelten), dann kann ein Verantwortlicher jeden zusätzlichen Marktteilnehmer schon als bedrohlich empfinden.
Salz says
Döpfner will eine Allianz der Qualitätsanbieter im Wettbewerb gegen Google, Apple und Vodafone?
Im April letzten Jahres sagte er noch (bezogen aufs iPad): „Jeder Verleger der Welt sollte sich einmal am Tag hinsetzen, um zu beten und Steve Jobs dafür zu danken, dass er die Verlagsbranche rettet“
Quelle: http://is.gd/k6bB6
Modzz says
Die Dame scheint das Interner per se nicht verstanden zu haben bzw. auch noch nie genutzt zu haben. Außerdem vermute ich, dass sie ihre Sekretärin ihre Mails abrufen lässt (nicht unüblich in Chefetagen!!), weil sie dazu nicht in der Lage ist.
Bedenklich sind nicht nur solche Aussagen, weil sie einfach die Unwissenheit bzw. das gefährliche Halbwissen (ich kenne mich zwar nicht aus, melde mich aber trotzdem zu Wort) aufzeigen, sondern sie vor allem eines klar machen, welche Leute in Chefetagen aufsteigen.