Google startet mit Google+ seinen nächsten Versuch, im Social-Networking-Bereich Fuß zu fassen. Nach Orkut, Wave und Buzz kann man das durchaus als den vierten Anlauf verstehen.
Der aktuell nur über Einladungen verfügbare Dienst orientiert sich funktionell und auch vom Aussehen stark an Facebook. Was nicht sonderlich überrascht: Facebook ist trotz seiner Größe ein sowohl von den Funktionen als auch vom User-Interface sehr gutes Produkt (von Randdetails wie dem Optionendschungel einmal abgesehen). Der Stream als zentrales Element ist mehr oder weniger zwingend. (Siehe dazu auch zum Beispiel meine Ausführungen zum Social-Web-Pattern auf Exciting Commerce.)
Die wesentlichen Merkmale von Google+ im heutigen Zustand:
- Die Navigationsbar am oberen Rand („Sandbar“)
- Die Videogruppenchat-Funktion „Hangout“ scheint mir als eine Art erstes Killer-Feature implementiert zu sein, um Leute zur Nutzung von Google+ zu überreden. Das ist nicht unclever: Google kann dank seiner einzigartigen Position etwas so Ressourcenintensives kostenfrei anbieten. Es ist ein nur von wenigen Unternehmen kopierbares Tool. (Vorausgesetzt natürlich, es funktioniert einwandfrei.)
- Circles: Das granulare Publizieren in ausgewählte Teilstreams: Man kann die eigenen Kontakte in Gruppen aufteilen, die dann unterschiedlich angesprochen werden können.
Auch Facebook bietet das granulare Publizieren mit seinen Listen an. Laut Facebook wird das Feature kaum genutzt. Ich halte diese Funktion persönlich für extrem wichtig und glaube, dass die geringe Nutzung vor allem an der schlechten Umsetzung bei Facebook liegen könnte. Kann Google das besser umsetzen? Wir werden sehen. Auf jeden Fall hat Google der Umsetzung mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Das Aufteilen des eigenen Social Graphs ist allerdings auch eine Funktion, deren Umsetzung Facebook notfalls von Google auch abkupfern kann, sollte sie dort erfoglreich implementiert sein. Damit kann sich Google mittelfristig wahrscheinlich nur bedingt absetzen.
Wer ausführliche Überblicke zu Google+ lesen möchte, wird unter anderem bei netzwertig.com, heise und Wired fündig.
Up the stack
Bevor Google Google+ startete, konnte man bereits an einigen Stellen lesen, dass Google ein Social Layer plant, das über Google-eigene und andere Dienste gelegt werden soll, um diese zu verknüpfen. Vom Ansatz her, der mit einer einheitlichen Navigationsbar arbeitet und einem ersten Angebot, das eher an eine Ansammlung von Diensten erinnert denn als ein einziger Dienst wahrnehmbar ist, scheint der Grundstein dafür gelegt.
Wir sehen natürlich erst den Anfang von Google+:
The parts announced Tuesday represent only a portion of Google’s plans. In an approach the company refers to as “rolling thunder,” Google has been quietly been pushing out pieces of its ambitious social strategy — there are well over 100 launches on its calendar. When some launches were greeted by yawns, the Emerald Sea team leaders weren’t ruffled at all — lack of drama is part of the plan. Google has consciously refrained from contextualizing those products into its overall strategy.
Google+ soll der Social Layer werden, der etwa auch über Googles größere Communities wie YouTube liegen soll und diese untereinander verbindet. Es bleibt abzuwarten, ob Google sich mit seinen aktuellen Ambitionen nicht überhebt:
it marks just one more milestone in a long, tough slog to remake Google into something more “people-centric.”
“We’re transforming Google itself into a social destination at a level and scale that we’ve never attempted — orders of magnitude more investment, in terms of people, than any previous project,” says Vic Gundotra, who leads Google’s social efforts.
Aber auf jeden Fall dürfte deutlich werden, dass Google plant auf dem bestehenden Stack an Angeboten eine zusätzliche Schicht aufzusetzen, die personenzentrisch ist.
Um erfolgreich zu sein, muss Google+ nicht zum „Facebook-Killer“ werden. Ganz im Gegenteil: Dieses Ziel würde Google+ zur Totgeburt machen. Stattdessen geht es darum, ein eigenes besseres Produkt bereitzustellen. Es geht darum, die Möglichkeiten, die das Einbeziehen von zwischenmenschlichen Beziehungen bringt, zu nutzen. Glücklicherweise scheint Google selbst weiter als viele der Beobachter zu sein:
Emerald Sea is not a Facebook killer, Gundotra told me. In fact, he added, somewhat puckishly, “people are barely tolerant of the Facebook they have,” citing a consumer satisfaction study that rated it barely higher than the IRS. Instead, he says, the transformation will offer people a better Google.
Ein Social-Produkt in einer Facebook-Welt ohne Facebook-Anbindung? Um erfolgreich zu sein, benötigt Google+ eine Facebook-Integration. Die ist aber aufgrund der aktuell angespannten Beziehung zwischen Google und Facebook eher unwahrscheinlich. Das macht es für Google+ recht schwer, die notwendige Masse an Usern aufzubauen. Gleichzeitig kann Google auf Communities wie YouTube zurückgreifen. Es würde mich auch nicht überraschen, wenn Google hier enger mit Twitter kooperieren würde.
Überlegen wir ein Stück weiter, was Circles, im Stack nach oben gehen und Google+ als Diensteansammlung insgesamt bedeuten könnten:
Es wäre nicht nur denkbar, sondern sogar sinnvoll, wenn Google+ eine Art Universalclient für Social-Web-Dienste wie Twitter und co. wird. (Das wäre nur für eine Teilmenge der Nutzer sinnvoll. Aber diese Teilmenge ist zumindest am Anfang wichtig.) Ansatzweise war die notwendige Technik bereits bei Google Buzz vorhanden, das aber blieb aus verschiedenen Gründen hinter den Erwartungen zurück. Google würde auch im Social-Bereich das werden, was sie im Informationsbereich sein wollen: Der große Organisierer.
Fazit
Es sind viele Bälle, die Google da in die Luft wirft. Ob der Suchgigant daraus ein sinnvolles Endprodukt machen kann, ist offen. Möglich ist es allemal. Und Google hat trotz der vielerorts implizierten Hatz in Wirklichkeit mehr als genug Zeit (und Ressourcen sowieso), um das Produkt passend zu machen.
Die Artikel, in denen Traffic von Google+ mit Traffic von Facebook und Twitter verglichen wird und mit süffisantem Lächeln auf ein mögliches Scheitern von Google+ verwiesen wird, werden so sicher kommen wie das Amen in der Kirche. Aussagen werden sie aber nichts.
Was Google machen muss, ist hier dran bleiben und nicht wie bei Wave frühzeitig den Stecker ziehen, wenn Anlaufschwierigkeiten sichtbar werden. Wave und andere Projekte, die Google in den letzten Jahren eingestellt hat, haben dem Konzern Vertrauen bei Entwicklern gekostet, welches Google erst wieder aufbauen muss. Google wird die Entwickler aber benötigen, um rund um das Google+-Layer ein Ökosystem aufbauen zu können.
So lassen sich auch die Äußerungen gegenüber Wired als eine Versicherung nach außen deuten, dass man Google+ nicht schließt, ‚egal wie langsam es vorangehen wird, also bitte Leute, benutzt es und investiert Eure Zeit‘..:
No one expects an instant success. But even if this week’s launch evokes snark or yawns, Google will keep at it. Google+ is not a product like Buzz or Wave where the company’s leaders can chalk off a failure to laudable ambition and then move on. “We’re in this for the long run,” says Ben-Yair. “This isn’t like an experiment. We’re betting on this, so if obstacles arise, we’ll adapt.”
Sollte Google es tatsächlich mit Google+ so ernst meinen, wie es nach außen suggeriert wird, wird die Evolution von Google+ extrem spannend. Schließlich wird es nichts weniger als das größte Internetunternehmen und dessen Angebote massgeblich verändern.
(Comic: xkcd)
severin tatarczyk says
Hallo,
interessanter Beitrag. Ich bin mir ebenfalls sicher, dass das Googles bisher ernsthaftester Versuch ist, der durchaus Erfolg haben kann.
Hier noch 10 Erwartungen von mir:
http://www.severint.net/2011/0…
BG, severin
Tom says
Wenn sie alles nutzen, was sie haben (Docs, Talk und sogar die Wave-Technologie) und mit ihren Nutzern (Normales Konto/ iGoogle, Youtube, Talk und vor allem Android) kombinieren, KÖNNTE es tatsächlich der FB-Killer werden. Ich kenne genügend, die FB gerne abschalten, allerdings auch die Funktionen/Kontakte dahinter nicht missen möchten. Und durch die Circles kann Google+ auch eher als General-Netzwerk daherkommen, denn Geschäftskontakte sind bei mir immer noch in XING und würden nie zu FB eingeladen werden, da sie zu schlecht zu trennen sind.