Instagram ist zweifellos der Webdienst des Jahres 2011. Der im September 2010 gestartete Fotosharing-Dienst ist 2011 in der Nutzung förmlich explodiert. Instagram ist der Beweis für die Ankunft des mobilen Webs, das mit seinen neuen Betriebssystemen und Appökonomien nicht so offensichtlich ist wie es manchem erscheinen mag.
Instagram unterscheidet sich massgeblich von herrkömmlichen Webdiensten, wie man sie bisher kennt: Man kann Instagram nur als mobile App benutzen. Und sogar nur auf iOS, also iPhone.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen: Bereits 9 Monate nach dem Launch konnte man Instagram getrost als den erfolgreichsten Fotosharingdienst nach Flickr und Facebook bezeichnen:
That’s 150 million photos uploaded to Instagram in just the 9 months since the app launched. For comparison’s sake, it took Flickr nearly two years to hit 100 million total photos on their service. Incredibly, Instagram is now seeing 1.3 million photos uploaded each day — that’s a rate of 15 photos per second.
The service is now well past 7 million users, Instagram co-founder Kevin Systrom tells us. Again, that’s up over 2 million in under 2 months.
Die Geschwindigkeit, mit der der auch von Apple zur iPhone-App des Jahres gekürte Dienst gewachsen ist, ist erstaunlich, aber auch gut geeignet, um ein paar Lektionen aus der Erfolgsgeschichte zu ziehen.
1. Die Ankunft des mobilen Webs:
Manches lässt sich schlicht besser mit einem mobilen Gerät erledigen. Wenn die Kamera eigentlich ein Computer ist, der direkt mit dem Internet verbunden ist, wird das Fotografieren sozialer; es macht mehr Spass. Instagram wird bald den führenden Foto-only-Dienst hinter sich lassen. Spätestens wenn Instagram die Webpräsenz ausbaut, bekommt Flickr ein massives Problem.
Ein vergleichbares Verschieben von webbasierten Diensten hin zu mobilen Appdiensten kann man bei der Verschiebung von Qype/Yelp weg und hin zu Foursquare beobachten.
Welche Aufgaben, die heute von Webdiensten erledigt werden, lassen sich besser als App auf dem Hosentaschencomputer umsetzen? Und welche neuen Funktionen und Dienste lassen sich realisieren, die am Desktop wenig bis keinen Sinn ergeben hätten?
Das sind Fragen die uns 2012 beschäftigen werden, während immer mehr Dienste für das mobile (App-)Web entwickelt und ähnliche Dynamiken wie Instagram entwickeln werden.
2. Mobile Betriebssysteme unterscheiden sich in mehr als den Marktanteilen:
Aussagen, wie diese hier von Martin Weigert, dass man nicht nur für iOS, sondern immer auch für Android und am besten für beide sofort gleichzeitig entwickeln muss, sind bestenfalls naiv: Wer nur Ressourcen hat, um entweder A oder B zu machen, findet den Ratschlag ‚Du musst A und B machen!‘ eher belustigend als erleuchtend.
Im schlimmsten Fall sind solche Aussagen aber schlicht falsch: Würde es tatsächlich nur darum gehen, wie viele Marktanteile ein mobiles OS hat, dann müssten die Foto-Apps für Android oder für beide OS wie etwa picplz das iOS-only-Angebot Instagram längst hinter sich gelassen haben. Haben sie aber nicht. Warum?
Vielleicht weil sich Instagram darauf konzentriert hat, für eine Plattform das bestmögliche Angebot zu liefern. (Und auch nur mit der iPhone-App im Angebot musste Instagram bereits exponentielles Wachstum hinter den Kulissen handhaben, was keine leichte Aufgabe ist.)
Vielleicht spielt der tatsächliche Marktanteil auch gar keine so große Rolle wie gemeinhin angenommen. Immerhin wäre nach reinen Marktanteilen Symbian als das immer noch weltweit größte mobile OS dasjenige, dem die Entwickler aus allen Richtungen zulaufen müssten.
Ein weiterer Beweis dafür, dass Marktanteile allein Entwickler nicht zu überzeugen scheinen: Das größere Android zieht immer weniger Entwickler in seinen Bann, während prozentual immer mehr Entwickler iOS bevorzugen. Venturebeat:
About 73 percent of apps created for the fourth quarter are based on iOS, compared with 27 percent for Android. Three quarters ago, the figures were 63 percent iOS and 37 percent Android.
Over 2011, developer support for Android has declined from a third of titles to a quarter of them.
Gründe dafür kann es reichlich geben:
- Wer Apps verkaufen will, hat es im iOS-System dank vertikaler Integration einfacher, weil diese die Transaktionskosten senkt. (Deswegen hat Amazon mit seinem eigenen Appstore gute Chancen innerhalb Android-Ökosystem.) Die Unterschiede können enorm sein. Instapaper wird aus diesem Grund nicht als Android-App angeboten.
- Viele Entwickler dürften iPhones benutzen und deswegen bevorzugt für diese Plattform entwickeln wollen.
- Entwicklung für Android und iOS unterscheidet sich drastisch. Vielleicht sind die Entwicklertools für Android einfach nicht ansprechend genug? (Oder zu schwer zu erlernen. etc.)
- Androids Fragmentierung erschwert die Koordinierung der Entwicklung.
- Man kann exponentielles Wachstum auch auf nur einer Plattform erleben, wenn man seine Kräfte bündelt und diese Entwicklung irgendwann als Sprungbrett benutzen, wie es Instagram macht, das eine eigene Android-App jetzt in Entwicklung hat.
Fazit: Android hat die Verbreitung auf seiner Seite, aber die hat Symbian auch. Viele verschiedene Gründe können gegen die Entwicklung sprechen. Viele sprechen auch dafür. (Wer maximale Reichweite will und die Ressourcen hat, für den ist es ein No-Brainer.) Auf keinen Fall ist es aber so einfach, dass man für das größte mobile OS entwickeln muss, um erfolgreich einen mobilen Webdienst aufbauen zu können.
Auf jeden Fall dürfen wir uns 2012 darauf freuen, noch mehr gut gemeinte, aber irreführende Ratschläge zu mobilen Apps zu lesen. Denn so offensichtlich, wie vieles erscheint, ist es am Ende dann doch nicht. Die 2011er Erfolgsgeschichte Instagram ist dafür der beste Beweis.
Last not least möchte ich auch noch einmal auf die Informationsarchitektur von Instagram hinweisen, die ich bereits im Oktober 2010 beschrieben hatte. Man findet in Instagram wichtige Elemente die, nicht nur aber auch besonders, bei mobilen Apps zunehmend zum Tragen kommen.
Martin Weigert says
Du verkaufst eine Ausnahme als Regel. Instagram ist im Prinzip DIE einzige nur für eine Plattform verfügbare mobile App, die trotz dieser Beschränkung durchgestartet ist.
Das unterschlägst du in deinem Artikel völlig. Und die Empfehlung, alles dafür zu tun, um für beide führenden mobilen Plattformeln entwickeln zu können, als grundsätzlich (!) entweder naiv oder falsch zu bezeichnen, macht mich fast sprachlos.
Es mag Situationen geben, in denen es ausreicht, für eine der zwei Plattformen zu entwickeln (in diesen Fällen heißt diese dann meist iPhone). Dies ist aber eher die Ausnahme als die Regel.
Marcel Weiss says
Ich habe angedeutet, dass Instagram vielleicht nicht trotz sondern wegen der Beschränkung kontinuierlich so erfolgreich ist. (Stichworte Ressourcenverteilung und Handhabung von exponentiellem Wachstum ohne z.B. Serverausfälle.)
Ich habe außerdem darauf hingewiesen, dass etwa Instapaper aus konkreten Gründen nicht für Android entwickelt wird. Zusätzlich habe ich auf die prozentuale Verteilung der Aufmerksamkeit der Entwickler weg von Android verwiesen. Und schließlich habe ich darauf hingewiesen, dass Symbian etwa noch einen größeren Marktanteil als Android hat.
Alles als Beweise dafür, dass allein der große Marktanteil kein Argument dafür ist, dass Entwicklung für Android ein must-have ist. Offensichtlich gibt es Gründe, die Entwickler von Android fernhalten. Und dazu wird nicht gehören, dass ihnen Deine Einsichten fehlen.
BTW. auch andere mobile Breakout-Hits wie Angry Birds haben auf iOS angefangen. Wie viele mobile Hits haben als Android-only angefangen? Warum gibt es da noch keine, obwohl Android schon länger viel größer ist? Kann das Zufall sein?
Die Situation ist komplexer als „Marktanteil groß. Müsst Ihr dabei sein. Case closed.“. Das ist das Einzige, was ich sage.
Michael S says
Meines Erachtens sollte man in der „neuen Appwelt“, also der mobilen Nutzung von Webdiensten, im Idealfall auf Apps verzichten. Solange es keine Funktionen gibt, die nicht auch per mobilem Browser ausgefuehrt werden koennen, gibt es keinen Grund irgendjemanden vom Dienst auszuschliessen. Passt nicht ganz in die „welches mobile OS ist das Wahre?“-Diskussion, aber haette sich jedes Unternehmen bevor es eine App in Auftrag gegeben haette die Frage gestellt „Machen wir die App nur weil jetzt jeder eine App hat, so wie wir vor 2 Jahren gebloggt haben oder koennten wir das auch mit einer mobilen Website realisieren?“, dann waeren mir viele sinnlose Installationen und Deinstallationen erspart geblieben …
PS: Jetzt waere der richtige Zeitpunkt meine Meinung als naiv, belustigend oder falsch zu bezeichnen.
Marcel Weiss says
P.S.: Du schreibst:
„Und die Empfehlung, alles dafür zu tun, um für beide führenden mobilen
Plattformeln entwickeln zu können, als grundsätzlich (!) entweder naiv
oder falsch zu bezeichnen, macht mich fast sprachlos.“
Das habe ich nicht geschrieben. Im Artikel steht:
„Android hat die Verbreitung auf seiner Seite, aber die hat Symbian auch.
Viele verschiedene Gründe können gegen die Entwicklung sprechen. Viele
sprechen auch dafür. (Wer maximale Reichweite will und die Ressourcen
hat, für den ist es ein No-Brainer.) Auf keinen Fall ist es aber so
einfach, dass man für das größte mobile OS entwickeln muss, um
erfolgreich einen mobilen Webdienst aufbauen zu können.“
Es geht um Allokation knapper Ressourcen und das Einbeziehen vieler Variablen.
Marcel Weiss says
„Solange es keine Funktionen gibt, die nicht auch per mobilem Browser ausgefuehrt werden koennen, gibt es keinen Grund irgendjemanden vom Dienst auszuschliessen.“
Das stimmt. Umgekehrt lassen sich viele Funktionen aber nur oder zumindest besser in nativen Apps umsetzen. Es gibt Nutzungsszenarien für beides.
Henning says
Die Frage bleibt trotzdem wie Instagram sein Geld verdient (oder mal verdienen wird): Bis dahin bleibt es schwierig diesen Dienst als das absolute Vorbild zu vertreten.