Google, Frau Wulff, und die Autovervollständigenfunktion. Ein klassisches deutsches Drama.
Am Sonntag habe ich in den Sat.1-Nachrichten anderthalb Sätze zum Fall Wulff gesagt.* Ich glaube, aktuell möchte niemand in der Haut von Frau Wulff stecken. Ein unangenehmes Gerücht verbreitet und verfestigt sich, und zum ersten Mal ist man als deutsche Prominente auch außerhalb der Bild-Seiten hilflos.
Das Verständnis von Meinungsfreiheit im deutschen Recht kennt enge Grenzen. Verleumdung, Rufmord, Behauptung falscher oder zumindest nicht beweisbarer Tatsachen, dagegen kann man gerichtlich vorgehen. Man kann sogar nach einer Verjährungfrist jede noch öffentlich erreichbare Berichterstattung über längere Zeit zurückliegende Verurteilungen und damit auch über die dort verurteilten Verbrechen entfernen lassen. Resozialisierung. Die Würde des einzelnen wiegt(e) in Deutschland immer um ein Vielfaches schwerer als die Meinungsfreiheit. Besonders wenn man sich gute Anwälte leisten kann.
Ich habe dieses Jahr Post von einer Kanzlei bekommen für einen Blogartikel, in dem ich auf einen Zeitungsartikel verwies, der ebenso wie mein Blogartikel entfernt werden musste, weil das darin erwähnte Verbrechen nicht mehr öffentlich mit dem Namen der Person in Verbindung gebracht werden darf. Und das obwohl meines Erachtens in diesem Fall erhebliches öffentliches Interesse besteht.**
Von wegen das Internet vergisst nichts.
Aber was ist, wenn sich die Verbreitung einer Information dann doch überhaupt nicht mehr aufhalten lässt? Was wenn ein Gerücht nicht nur in Zeitungsartikeln, Blogs und Foren kursiert, sondern auch auf Twitter, Facebook und in den Buchschlagwörtern von Amazon, und, selbstverstärkend, danach gesucht, gegooglet, wird? Was wenn user content generieren und Algorithmen das dann auswerten?
Natürlich ist es ein Streisandeffekt, wenn man mit einer Klage, diesem in Deutschland bewährten Eindämmungswerkzeug öffentlicher Kommunikation, die Verbreitung der aufzuhaltenden Information nur noch befeuert. Es spielt dabei leider keine große Rolle, ob die Information selbst tatsächlich stimmt oder nicht.
Und natürlich ist es ärgerlich, das für die Verbreitung von Gerüchten im Internet der Wahrheitsgehalt die gleiche Rolle spielt wie bei der Berichterstattung in der Bild: Oft eine zu kleine. Im Zweifel entscheiden die eigenen Bauchgefühle und die vermuteten der anderen.
Was also tun? Klar, Google verklagen. Weil dieses die Verbreitung von Wortclustern algorithmisch in der Autovervollständigenfunktion der eigenen Suchmaschine abbildet.
Und dann natürlich die Frage: Sollte Google eingreifen? Sollten sie Verantwortung übernehmen? Ethik! Moral! Die großen Geschütze.
Wolfgang Michal, wer sonst***, impliziert auf Carta am 9.9., dass Google die eigenen Funktionen redaktionell begleiten müsse:
Das Recht zwingt die „neutralen“ Plattformen dazu, redaktionelle und verlegerische Aufgaben wahrzunehmen, also auszuwählen, zu filtern, zu ordnen, zu hierarchisieren und zu bewerten. Manche nennen das Zensur, andere sehen darin die Notwendigkeit zur Verantwortung.
Sascha Lobo fasst den Kern der Debatte auf Spiegel Online so zusammen:
Der Zorn, den Google auf sich zieht, wenn es Gerüchte über Gattinnen oder Meinungen über Mohammed verbreitet, entspricht einem bisher ungelösten moralischen Konflikt über die Auffindbarkeit: Ist der Überbringer einer Botschaft für den Inhalt verantwortlich? Eine grundsätzliche Diskussion wird notwendig; sie beginnt mit der schmerzhaften Feststellung, dass die Rolle des Botschafters in der digitalen Sphäre unklar geworden ist. Das liegt auch daran, dass die scheinbar neutrale Rolle des Überbringers, so selbstverständlich sie sich für Netzbewohner anfühlen mag, auch nur eine Hilfsmetapher ist. Und zwar eine, die dem Vermittler sämtlicher Inhalte eine grundsätzliche Neutralität zuschreibt.
Spielen wir das einmal durch:
Was, wenn Google verantwortlich ist, wenn es zur Verantwortung gesetzlich verpflichtet wird? Der reiche US-Konzern kann doch ein paar Leute einstellen, die sich darum kümmern könnten! Oder nicht?
Dann fragen wir doch einmal: Warum gibt es keine Autovervollständigenfunktion bei den internen Suchen von FAZ.net über sueddeutsche.de bis Spiegel Online? Die Inhalte und potentiellen Suchkombinationen umfassen im Vergleich nur einen Bruchteil der Suchen über das gesamte Internet bei Google. Und die jeweiligen Redaktionen sind nicht klein. Warum also nicht? Vielleicht, weil es nicht praktikabel ist, so etwas redaktionell zu lösen, selbst wenn die potentiell zu überblickende Menge vergleichsweise gering ist?
Viel wird bei dieser Debatte von Neutralität gesprochen. Das ist aber eine Nebelkerze. Google ist nicht neutral und kann es nicht sein. Google ist wie jede Suchmaschine eine einordnende Instanz. Aufgrund der algorithmischen Vorgehensweise sind die Möglichkeiten (Skalierbarkeit) auch unmittelbar mit den Grenzen (Unmöglichkeit der Einzefallabwägung) verbunden.
Will man Googles Rolle in diesem Schlamassel verstehen, muss man sich die Position in der Wertschöpfung, also die Stelle, an der Google etwas hinzufügt, veranschaulichen:
Google ist wie der Kioskbesitzer, der (selbstverständlicherweise) nicht für falsche Behauptungen in der Bild-Zeitung verantwortlich gemacht wird, nur weil er sie in seinem Laden verkauft; und übrigens auch nicht, wenn er diese Bild-Zeitung für alle sichtbar in’s Schaufenster legt.
Der Kioskbesitzer ist auch nicht neutral: Er nimmt seinen Kiosk bevorzugt dort in Betrieb, wo viele Leute vorbeikommen. Er platziert die Bestseller für alle Kunden gut sichtbar. Und zwar auch dann, wenn die Bestseller nachweislich permanent falsche Informationen verbreiten.
Und doch: Er hat zu keinem Zeitpunkt einen direkten Einfluss auf die Inhalte in den Publikationen, die er verkauft.
Dass Google nun punktuell Einfluss auf die Ergebnisse der Autovervollständigenfunktion nimmt und etwa filesharingrelevante Anfragen nicht vervollständigt, ändert daran nichts. Google ist nicht gut darin beraten, das zu tun und macht es, weil der Konzern gerade eine fundamentale Veränderung erlebt: Von einem vom Web lebenden Konzern (weil primär Suchmaschine) emuliert Google zunehmend Apples vertikale Integration und benötigt etwa für Google Play (Googles Äquivalent zu iTunes) Verträge von Filmstudios und Musiklabels. Um diese zu bekommen, springt Google auch bei der Suchmaschine durch Hulahoopreifen:
Punktuelle Beschneidung der Vervollständigenfunktion, Adminrechte für Entertainmentkonzerne bei Youtube, Rankingverluste für Websites, die viele DMCA-Takedowns erhalten. Das alles macht Google, weil sie, entgegen ihres Images in Deutschland, überhaupt kein Problem damit haben, großen Rechteinhabern entgegenzukommen. Und es zeigt nicht die Lösung sondern das Problem auf:
Mit jeder dieser Massnahme wird die Googlesuche ein kleines Stück schlechter.
Google kann Themen wie Filesharing oder Pornographie von der Autovervollständigenfunktion ausnehmen. Aber es kann nicht jede Form von Verleumdung vorhersehen. Es kann nicht entscheiden, was „gute“ und was „schlechte“ Wortkombinationen sind. Es ist eine Funktion, die entweder algorithmisch erzeugt angeboten wird oder gar nicht.
Übrigens: Auch Bing, Microsofts Suchmaschine, bietet als Ergänzungen zu den Wörtern „Bettina“ und „Wulff“ unter anderem „Rotlicht“ und „Prostitution“ an.
Letztlich hat das Fazit nur wenig mit dem Internet zu tun: Entweder wir lernen als Gesellschaft unser Verständnis von Meinungsfreiheit liberaler zu fassen, so etwa wie man es aus den USA kennt, also auch mit all den von da bekannten Vor- und Nachteilen, oder uns bleibt nur die gleiche deutsche Lösung wie bei Street View (verkrüppeln; hier aber bis zur Unkenntlichkeit, sprich die Funktion wird auf die handhabbaren ein Prozent der meistvorkommenden Suchen beschränkt) oder dem Like-Button:
Alles abschalten!
–
*Nicht online abrufbar, wenn ich das richtig sehe. Ich bin aber auch nicht in der Lage, die Website von Sat.1 länger als zwei Minuten zu benutzen, ohne ein Gehirnaneurysma zu bekommen.
**Aus nachvollziehbaren Gründen wird jede Vermutung in den Kommentaren, egal ob richtig oder falsch, unverzüglich gelöscht. Wer nicht gesperrt werden möchte, lässt das bitte gleich bleiben.
***Wolfgang Michal hatte vor Jahren einmal angeregt, Google könne doch seinen kompletten Index händisch auf Urheberrechtsverletzungen überprüfen.
Stephan Koß says
Bettina Wulff ist doch nur neidisch auf julia Schramm….
WolfgangMichal says
Lieber Marcel, wo soll ich das, was du
da unter den drei Sternchen schreibst, angeregt haben? „Händisch“ ist
ein Wort, das ich nicht verwende. Google kooperiert auf etwas modernere Weise
mit den Medienunternehmen: YouTube z.B. überprüft anhand von Referenzlisten,
die man von den Verwertern erhält, ob Nutzer Material hochladen wollen, an dem
die Verwerter die Rechte halten, und unterbindet dann den Upload ( =
automatisierter Abgleich). So erklärte es heute der Vertreter von Google beim
Zukunftsforum Urheberrecht in Berlin.
llamaz says
Naja, klassisch deutsch ist an diesem Drama gar nix. Schließlich ist Google bereits in diversen Ländern wegen dieser Funktion verklagt worden.
Ordo Ab Chao says
Google kann zwar nicht vorhersehen, aber im Nachgang könnten sie bestimmte Treffer anzeigen unterbinden. Mit HIlfe einer Datenbank die verbotene Suchanfragen beinhaltet und einer Wenn dann sonst Abfrage lassen sich die Treffer recht unkompliziert ausschließen. Dann kann ich auch weiter nach Bettina Wulff Prostituierte suchen würde allerdings nichts finden ;) …
Marcel Weiss says
Das war ca. 2009. Den entsprechenden Artikel finde ich nicht mehr, sonst hätte ich ihn auch verlinkt. Du hast wahrscheinlich eher „redaktionell“ oder ähnliches verwendet.
Ja, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland macht YouTube, alles, was eine solche Plattform überhaupt machen kann, ohne UGC gleich komplett abzuschalten.
Burny says
Ich habe im letzten Jahr häufiger Begriffe bei der Google-Suche eingegeben, die mit „Bet“ begonnen hatten.. unter anderem „Bettmatratze“, „Bettlaken“ und sogar das Wort „Bettina“… erst seit ein paar Wochen, tauchen durch die Autovervollständigung Vorschläge wie „Bettina Wulff Prostituierte“ und dergleichen auf.
Ich bin nicht unbedingt ein Fan von Verschwörungstheorien, aber mir kommt es so vor, als tauchten diese Begriffe erst auf, nachdem Frau Wulff ihre (Co-)Arbeit an ihrem Buch aufgenommen hat. Das Buch erzählt viel, aber sagt eigentlich nichts. Und wenn man nichts zu sagen hat, dann muss man etwas schaffen, um an dem wenigen Informationsgehalt, ein gewisses Maß an Interesse zu schaffen. So etwas gelingt, in dem man selbst oder durch seine PR-Agentur dafür sorgt, dass entsprechende Gerüchte stärker gestreut werden. Nur vorsorglich: Ich sage damit nicht, dass Frau Wulff dies getan oder in Auftrag gegeben hat, nur ist es halt ein merkwürdiger (und für sie ein zeitlich günstiger) Zufall.
Auch wenn ich es verstehen kann, dass verleumderische Themen durch die Autovervollständigung der Suchmaschinenanbieter eine erhöhte Verbreitung erhalten können, kann ich mich dennoch nicht erwehren, dass diese Funktion kein Übel an sich ist. So stimme ich auch Stefan Niggemeier weder seinem Blog-Artikel, noch seinem Beitrag im aktuellen Spiegel zu. Die Autovervollständigung tut das, wofür sie da ist. Sie sammelt die Suchanfragen der Nutzer und schlägt diese den anderen Nutzern vor. Nicht mehr und nicht weniger. Je mehr diese Begriffe gesucht werden, desto eher tauchen sie als Vorschlag auf. Ein Freund von mir hat mal ein Wort „geschaffen“ und dies zwei Wochen lang ab und an bei Google gesucht. Kurz darauf war es bei mir in den Vorschlägen drin.
Der Autovervollständigung wird gerade viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Hetze, Lüge, Falschaussagen… all das soll dort drin stehen und wird angeblich geglaubt, trotz dessen, dass die gleichen Schlagzeilen in BILD, Die Aktuelle, Frau im Bild und wie dieser ganze Schund noch heißt, ebenfalls stehen und diese gleich als Falschaussagen und Verzerrungen entlarvt werden. Da stimmt doch etwas nicht.
Wir sind allesamt mündige Bürger und müssen demnach auch nicht das
glauben, was an reißerischen Themen im Internet und der Boulevardpresse
steht. Aber nur weil es ein paar Leute glauben würden, muss doch nicht redaktionell auf Suchvorschläge eingegangen werden. Es muss den Nutzern doch frei stehen, was sie glauben und was nicht.
akbwl says
Meiner Meinung nach kann sich Google mit der AutoVervollständigen-Funktion nicht mehr hinter dem passiven Verhalten einer Suchmaschine verstecken. Während letztere nur vorhandenes wiedergibt, wenn auch gewichtet und nicht zwingend neutral, ist es bei ersterem Aktiv, der Nutzer wird gelenkt bzw. ihm wird eine, in Wirklichkeit nicht vorhanden, Verbindung suggeriert. Und genauso, wie ein Unterlassungsanspruch gegenüber den Autoren von falschen Behauptungen besteht, muss er auch hier bestehen. Es steht Google ja frei, bei Suchbegriffen nach „Bettina Wulf“ auch Berichte über eine angebliche Rotlicht-Verbindung zu verlinken. Aber diese selbst aktiv zu suggerieren (AutoVervollständigen ist hier mit der Schlagzeile auf einer Zeitschrift zu vergleichen), darf nicht rechtens sein, bzw. muss unterbunden werden können.