Clay Shirky hat einmal geschrieben, dass bei umwälzenden Veränderungen wie denen, die wir dank der Digitalisierung in nahezu allen Bereichen beobachten können, immer zuerst das Alte kaputt geht, bevor irgendwann das Neue in seiner erfolgreichen Ausprägung gefunden wird.
Wenn man darüber nachdenkt, ist diese Beobachtung, wie so viele Aussagen von Herrn Shirky, so logisch, dass sie sofort offensichtlich erscheint, auch wenn man vorher gar nicht über diesen Aspekt nachgedacht hat.
Nur weil der Matrose im Mittelalter weiß, dass er mit einer Triere keinen Ozean überqueren kann, heißt das nicht automatisch, dass ihm gleichzeitig mit dieser Erkenntnis der Bauplan für eine Karavelle in den Schoß fällt.
Die Zeit im Blick
Diese Erkenntnis ist wichtig, will man die aktuellen Entwicklungen nicht nur richtig einordnen, sondern auch das eigene Unternehmen auf die turbulente Zukunft vorbereiten. Denn wenn das Alte schneller kaputt geht als man das Neue finden kann, dann werden Experimente überlebenswichtig, um die Durststrecke zu verkürzen und möglichst auch zu überleben. Je mehr Experimente, je mehr ausprobiert wird, je mehr Testballons gestartet werden, desto mehr Feedback erhält man, vom Markt, von den Nutzern, und desto eher findet man den Bauplan für die Zukunft.
Das war die BWL-Sicht. Als Beobachter, der die gesellschaftlichen Entwicklungen einordnen will, ist natürlich auch der volkswirtschaftliche Blick wichtig. Und hier ist es ebenfalls wichtig, nicht zu erwarten, dass quasi ein gesellschaftlicher Kippschalter umgelegt wird. So funktioniert weder gesellschaftlicher Wandel allgemein noch tiefgreifender Strukturwandel in der Wirtschaft im Speziellen. (Trotzdem kommt dieser Wandel mittlerweile sehr schnell. In der Smartphonebranche etwa sind die einzigen zwei profitablen Unternehmen am Markt, eines das vor fünf Jahren noch nicht in diesem Markt war (Apple) und eines, das vor zwei Jahren noch nicht in diesem Markt war (Samsung). (Siehe auch Asymco zu den Zahlen und Entwicklungen.))
Während die alten Riesen straucheln, werden die neuen erst verlacht und wachsen dann exponentiell, wie etwa aktuell der E-Commerce-Sektor in Deutschland:
E-Commerce wurde erst von den Katalogversendern als keine Konkurrenz abgetan und später als ein Nebenbeigeschäft behandelt, als ein weiterer Kanal, den man nicht entsprechend seinen Eigenheiten besonders behandeln muss.
Neckermann und Quelle sind heute (mehr oder weniger) Geschichte.
Hätten beide Unternehmen 2000 korrekt ihre Strategien für die nächsten 12 Jahre verkündet, hätte man auch 2000 schon sagen können, dass diese Unternehmen langfristig nicht überleben werden. Und das trotz der Tatsache, dass es 2000 in Deutschland noch praktisch keinen nennenswerten E-Commerce-Markt gab.
Strukturelle Veränderung ist von ihrem Wesen her immer eher ein Marathon als ein Sprint. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Unternehmen und auch nicht gewinnorientierte Institutionen von der GEMA bis zu Behörden in Netzwerke eingespannt sind, die ihren Handlungsspielraum bestimmen. Clay Christensen spricht in seinem extrem wichtigen Buch "The Innovators Dilemma" hierbei von Wertschöpfungsnetzwerken.
Der E-Commerce ist in Deutschland aktuell auf dem Weg, den Marktumsatz des klassischen Versandhandels selbst aus dessen besten Zeiten weit hinter sich zu lassen.
Deutsche Webmedien und ihre punktuellen Erfolge
Frank Schirrmacher schreibt nun in der FAZ über das in Deutschland eingezogene Printsterben und die Reaktionen:
Achtzig Millionen Deutsche, die über Nacht ihre eigenen Verleger, Drucker, Autoren werden konnten - welches Modell hat funktioniert? Wo ist der neue Pulitzer, Augstein, Suhrkamp? Wer hat profitiert? Wo gibt es das Blogger-, Startup-, Nachrichten- oder Kommunikationsmodell, das auch nur ansatzweise funktioniert? Was ist wirklich geschehen mit der „Demokratisierung von Information“? An Versuchen hat es, wie jeder weiß, nicht gemangelt. Ihr Scheitern ist Legion. Alternativmedien, für die seinerzeit sogar Journalisten wie der Kollege Prantl ihre Urgesteinshaftigkeit zur Verfügung gestellt haben, Debattenportale, Netzzeitungen.
Natürlich gibt es diese Erfolge. Exciting Commerce, wo ich auch als Autor tätig bin, kann dieses Jahr Einnahmen im "mittleren sechsstelligen Bereich" verzeichnen. Aber natürlich können diese Erfolge nicht sofort die Dimensionen erreichen, für die die klassischen Medienunternehmen Jahrzehnte bis zu über einem Jahrhundert Zeit hatten. Aber weder müssen sie das, noch werden sie das höchstwahrscheinlich, weil ein Strukturwandel eben auch die Verteilung der Unternehmensgrößen in einem Markt beeinflusst. Und natürlich sind diese Erfolge hierzulande rarer gesät als in anderen westlichen Ländern. Der Unterschied zu den USA ist hierbei besonders extrem.
Frank Schirrmacher:
der Grimme-Online-Preis ist ein Kataster hochinteressanter, aber meist ökonomisch total erfolgloser geistiger Kleinfabriken.
Das könnte auch daran liegen, dass der Grimme-Online-Preis bevorzugt hochinteressante, aber meist ökonomisch total erfolglose geistige Kleinfabriken auszeichnet.
Weder Zalando noch SoundCloud, weder Exciting Commerce noch Mobile Geeks (ehemals netbooksnews) und erst recht nicht myDealz, werden jemals einen Grimme-Online-Award erhalten, wenn die Nominierungen und Awards der letzten Jahre Indizien für die Zukunft sind. Allesamt stehen sie stellvertretend für die, ja, vielen, wirtschaftlich erfolgreichen Internetunternehmen auch in Deutschland, wobei die letzten drei nicht nur profitabel sondern auch journalistisch tätig sind. Der Grimme-Online-Award ist weder ein Gradmesser für wirtschaftliche Erfolge im Netz noch scheint er das sein zu wollen.
Netzwerkeffekte: Plattformen und ihre Konzentrierung
Herr Schirrmacher weiter in der FAZ:
Tatsache ist: Die Informationsökonomie hat in ihrer heutigen Alpha-Version ausschließlich zum Entstehen industrieller Giganten geführt, zu Konzentrationsprozessen, die den Einzelnen immer häufiger zum Ausbeuter seines eigenen Ichs machen. [..]Kellys Prognose, dass jeder von zu Hause seine 15 Megabyte Ruhm und seine sprudelnden Werbeeinahmen generieren könne, hat sich, und das ist gesetzmäßig in der neuen Ökonomie, weltweit nur für einige wenige erfüllt. Das Einzige, was einem auf Anhieb einfällt, ist das Internetprojekt der Millionärin Arianna Huffington, von AOL gekauft und dafür bekannt, dass es seinen Autoren keine Honorare zahlt.
Frank Schirrmacher verquickt hier zwei Ebenen der Wertschöpfung. Das ist etwas, das mir in Gesprächen auf Konferenzen häufig begegnet.
Es gibt hier zwei Ebenen, die wir betrachten müssen:
Die Plattformen, die Aktivitäten verschiedenster Arten ermöglichen.
Die Aktivitäten auf diesen Plattformen.
Beides, die Konzentrierung unter den Plattformen (1.) und die Aktivitäten auf ihnen selbst (2.) sind geprägt von Netzwerkeffekten. Was auf der einen Ebene (1.) zu Konzentrierung führt, führt auf der anderen Ebene (2.) zu all den neuen Interaktionsformen von kollaborativem Konsum (carsharing) über Trödelverkauf (eBay) bis Finanzierung (Crowdfunding).
Erst die Konzentrationsprozesse auf der einen Ebene ermöglichen, auf den ersten Blick paradoxerweise, den Wohlfahrtszuwachs auf der anderen. Denn Netzwerkeffekte sind Externalitäten, die sich als positive Skaleneffekte äußern.
Was bedeutet Erfolg in einer vernetzten Informationsökonomie?
Und natürlich hat nur Arianna Huffington, die Millionärin, es geschafft, ein Medienimperium mit Hilfe des Internets hochzuziehen. Ist sie deswegen die einzige oder zumindest eine von sehr wenigen, die erfolgreich ist?
Nur wenn man die Maßstäbe einer industriellen Informationsgesellschaft anlegt.
Wenn der Maßstab dagegen lautet, wer heute im Kleinen wie im Großen besser als gestern gestellt ist und seinem Geschäft heute im Kleinen wie im Großen durch das Internet besser nachgehen kann, dann sind es sehr viele, die heute sehr viel erfolgreicher sind.
Schauen wir uns etwa den noch recht jungen Trend Crowdfunding an.
Die Crowdfunding-Plattform Kickstarter ist reichlich drei Jahre alt. (Sie wurde im April 2009 gegründet.) Auf dieser Plattform wurden bis Mai 2012 über 23.000 Projekte von über zwei Millionen Menschen mit insgesamt über 230 Millionen US-Dollar finanziert. Das sind über 23.000 Projekte, die ohne Kickstarter und die Finanzierungsaktivität, die die Plattform ermöglicht, entweder gar nicht oder auf einem niedrigeren Niveau entstanden wären. Über 50 Millionen flossen in Filme, über 30 Millionen in Musikprojekte.
Das sind keine Peanuts.
Aber das ist nicht in der Größenordnung von Film- oder Tonträgerindustrie.
Aber das wird die Größenordungen dieser Industrien erreichen.
Und es wird die Größenordnungen dieser Industrien übersteigen.
Noch einmal. Speziell diese Plattform ist erst drei Jahre alt, und bereits jetzt wird darüber diskutiert, ob man Kickstarter als den zweitgrößten Publisher von Graphic Novels bezeichnen kann, weil die Plattform in diesem Bereich eine viel genutzte Alternative zu den etablierten Verlagen ist. Kickstarter selbst ist nicht nur erst drei Jahre alt, es ist auch Teil eines Trends, der für viele Menschen etwas Neues darstellt: Die Produktion vom Endkunden, Endnutzer, Fan vorfinanzieren zu lassen, war nicht der klassische Weg der vom Crowdfunding berührten Bereiche. Das heißt aber auch, dass viele Crowdfinanzierer eben dies zum ersten Mal in ihrem Leben gemacht haben.
Man kann jetzt die Crowdfundingzahlen betrachten und naserümpfend feststellen, dass man damit keinen Hollywoodblockbuster finanzieren kann. Also alles ein Luftschloss, richtig?
Wo wird diese Entwicklung in zehn Jahren stehen?
Was, wenn Crowdfunding als Ganzes eine Hockeystick-Entwicklung erfahren wird, wie es aktuell im deutschen E-Commerce passiert?
In Zeiten des Strukturwandels ist eine von den Entwicklungen losgelöste Betrachtung des Status Quo keine gute Ausgangsbasis für eine Aussage darüber, was dieses oder jenes bedeutet. Auch wenn damit viel Schindluder getrieben wird: Es geht nicht ohne eine Einbeziehung des relativen Wachstums der betrachteten Märkte, Unternehmen und Trends.
Versprechen, Abmahnungen und Leistungsschutzrechte
Frank Schirrmacher weiter:
Wer also unter denen, die die Chance ihres Lebens hatten, konnte den technologisch-ökonomischen Imperativ erfüllen? Nimmt man ernst, was die Heiligen der Netzintellektuellen zwischen TED-Konferenz und Internet-Beratung (das einzig florierende Geschäftsmodell) seit Jahren prognostizieren und fordern, kann man nur sagen: Chance verschlafen. Wer einfach nur sagt, Verlage (und sie sind nur ein Symbol) hätten ihre Chance im Netz verschnarcht, kann genau das Gleiche über all die sagen, die von Anfang in ihm zu Hause waren.
Er hat natürlich ein Stück weit recht in der Bestandsaufnahme des deutschen Medienwebs. Sowohl im Kleinen, wo etwa die im deutschen Social Web bekannteste Privatperson ihre Bekanntheit nur für eine wöchentliche SPON-Kolumne im Netz nutzt statt etwas eigenes, und wenn es nur nebenbei wäre, aufzubauen. Als auch im Großen: Das deutsche Web und seine Netzmedien krankten immer auch an der fehlenden strukturellen Unterstützung. Es fehlten lange Zeit hierzulande etwa die Durchlauferhitzer, die in den USA Digg und reddit waren und kleinste Nischenblogs in ihren jeweiligen Nischen relativ bekannt und damit auch wirtschaftlich tragfähig machen konnten.
Mittlerweile, und wie so oft, werden diese Funktionen auch hier von US-Unternehmen übernommen - Facebook, Twitter, Google+, Linkedin. Und das nicht zuletzt, und hier kommen wir wieder zu den Ursachen auch dank der FAZ, die gern juristich gegen deutsche Unternehmen vorgeht: Die verklagt nämlich gern neue Player vom Perlentaucher bis zu Startups wie Commentarist und Echobot. Die FAZ unterstützt auch, mit teilweise ausgesprochen dubiosen Methoden, das geplante Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das in seiner aktuell geplanten Version katastrophal für das Web und besonders für junge Unternehmen wäre. Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest ein Stück weit zynisch, wenn ein Mitherausgeber der FAZ darauf verweist, dass nicht viel neues entstanden sei. Rechtsunsicherheit auf Märkten führt dazu, dass neue Unternehmen, die sich keine juristischen Auseinandersetzungen leisten können, nicht auf diese Märkte gehen. Die Massenabmahnungen gegen Blogger seit Jahren kann man auch vor diesem Hintergrund betrachten.
Partizipationsausprägungen und Likes
Frank Schirrmacher:
Auch die vom Silicon Valley vorausgesagte politische und soziale Selbstaufklärung des Menschen, der alle Informationen unter seinen Fingerkuppen hat, lässt medial noch auf sich warten. Partizipation beschränkt sich immer öfter auf Belohnungssysteme, die im Wesentlichen auf Empfehlungsbuttons hinauslaufen, permanente Plebiszite des Konsumenten und seiner „I like“- Befindlichkeit.
Auch hier muss man wieder differenzieren. Es liegt in der Natur der Sache, dass die schnell getätigte Ein-Klick-Geste in größerem Ausmaß auftritt als andere Arten der Partizipation, die mehr Zeit und damit mehr Aufwand in Anspruch nehmen. Diese vollkommen natürliche Verteilung sagt nichts darüber aus, wie stark die Partizipation zugenommen hat. Im Gegenteil, unterstützt sie doch die Distribution der Ergebnisse.
Akademiker und andere Freiwillige haben auf Guttenplag seinerzeit die Plagiatsstellen in der Doktorarbeit von Herrn Guttenberg zusammengesucht. Guttenplag selbst und die Ergebnisse daraus, wie etwa die empörten Artikel in der FAZ, wurden auch via Like-Button auf Facebook verbreitet, das mittlerweile mit Abstand das größte Social Network in Deutschland ist.
Man kann es auch so ausdrücken: Je besser alle möglichen Zeitfenster - von der einen Sekunde nach dem Lesen eines Artikels bis hin zum abendlichen Artikelschreiben auf Wikipedia - abgedeckt sind, desto mehr Partizipation wird es in all ihren Formen online geben. Desto besser kann sich das kognitive Surplus (Clay Shirky) online entfalten.
Jede Website mit Like-Buttons ist somit partizipativer als jede Printzeitung, wenn auch in den meisten Fällen nur marginal.
Frank Schirrmacher:
wer, im Ernst, von Einzelpersonen über Verlage bis zu ganzen Staaten, sagt denn, er verweigere sich dem Netz?
Das war noch vor zwei, drei Jahren eine Position, die man ohne Probleme in deutsche Feuilletons hineinschreiben konnte. Auch heute ist das leider noch keine seltene Position in der deutschen Öffentlichkeit.
Markt, Staat und P2P
Herr Schirrmacher weiter in der FAZ:
Nicht nur bei den Verlagen, in fast allen Bereichen geht es um das Verhältnis von Wert und Preis. Selbst kritische Köpfe vermögen immer seltener zu unterscheiden zwischen den legitimen Bedürfnissen des Konsumenten und der Tatsache, dass politische und kulturelle Werte mitsamt dem Inhalt des eigenen Kopfes zu Produkten dieses globalisierten Marktes werden. Netzkommunikation ist längst in der Phase, wo buchstäblich jedes Signal, das man sendet, Gegenstand einer Preisfindung, einer algorithmisch in Millisekundenschnelle ablaufenden Online-Auktion wird.
Es gibt, sehr allgemein gefasst, drei Produktionsformen:
Staatlich finanziert, also bürokratisch organisiert.
Marktwirtschaft.
Allmendebasierte Peerproduktion.
Über die Potentiale der allmendebasierten Peerproduktion schreibt Yochai Benkler in seinem 2006 erschienen Buch "The Wealth of Networks", das bereits heute ein Klassiker ist. Zu den auf diese Weise produzierten Dingen zählen neben Linux und Wikipedia eben auch hierzulande Guttenplag.
Das Entscheidende ist, dass hier kein Marktmechanismus im Mittelpunkt steht. Die Vermarktlichung, Herr Schirrmacher spricht auch von der Ökonomie des Geistes, findet hier eben nicht statt. In dieser dritten Produktionsform und ihrer Verwebung mit den beiden anderen steckt das Potential des Internets.
Die wahre Vermarktlichung des Geistes steckt eher im von den Presseverlagen vorangetriebenen Presseleistungsschutzrecht. Dieses soll einen Marktmechanismus einführen, wo vorher keiner ist, mit all den systemischen und transaktionskostenbasierten Nachteilen. Nicht kollaborativ und lose verbunden sondern kontrolliert von Konzernen wie Axel Springer und klagewütigen Verlagen wie der FAZ.
Alle wollen nur Profite
Interessant ist, dass Herr Schirrmacher zumindest die Profitorientierung von Presseverlagen anerkennt; etwas, das in der pathosgetränkten Verteidigung des Leistungsschutzrechts durch eben diese eher selten ist:
Das Schlimme ist, schaut man beispielsweise auf die Sparmaßnahmen in Regionalzeitungen, dass Selbstausbeutung jetzt überall institutionalisiert zu werden beginnt. Von Apple lernen heißt siegen lernen! Wenn das magische iPhone von chinesischen Arbeitern in einer Charles-Dickens-Welt produziert wird, kann das auch mit Gedanken geschehen. Wer glaubt denn im Ernst, dass gerade ausschließlich auf Profite und Reflexe dressierte Verlagsunternehmen nicht begeistert von der Internetökonomie lernen könnten und noch Generationen blühen und gedeihen werden?
Unsinnig ist allerdings, dass er Internetökonomie und (Selbst-)Ausbeutung praktisch gleich setzt. Die Presseverlage mussten nicht von irgendjemandem erst lernen, ihren Mitarbeitern, besonders ihren freien, so wenig wie möglich zu zahlen.
(Apple lässt, wie alle anderen auch, in China produzieren. Der Bericht eines US-Performancekünstlers von Anfang des Jahres, bei Foxconn, das unter anderem von Apple beauftragt wird, würden Kinder arbeiten, hatte sich Wochen später als Lüge herausgestellt. Ein Arbeitsplatz bei Foxconn ist vor allem in den ländlichen Bevölkerungsschichten Chinas sehr beliebt. Chinesen stehen Schlange, wenn Foxconn neue Stellen ausschreibt. Eine Stelle bei Foxconn scheint viele also besser zu stellen. Sind die Bedingungen dort deswegen optimal? Nein. Aber man muss das auch im jeweiligen Kontext betrachten. Etwas, das aus europäischer Sicht schlecht ist, stellt für jemanden eine Besserung der eigenen Situation dar, wenn zwischen 'schlecht' und 'sehr schlecht' gewählt werden muss. Die Löhne in China steigen übrigens gerade so stark, dass bereits wieder ein Abwandern der Arbeitsplätze befürchtet wird. Foxconn will außerdem in Roboteranlagen investieren. Hat das irgendetwas mit der Internetökonomie und dem Medienwandel zu tun? Ich habe keine Ahnung. Fragen Sie Herrn Schirrmacher.)
Frank Schirrmacher:
Streitet das Land im einundzwanzigsten Jahrhundert ernsthaft über die Frage, ob man Dinge, die man liest, anfassen kann?
Leider ja. Haptik war in den letzten Jahren eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente, warum die Printzeitung nicht sterben wird. Jetzt, wo langsam alle aufwachen, wollen wir diese Groteske nicht vergessen.
Die entscheidenden Fragen
Frank Schirrmacher schließt seinen Text mit einem Plädoyer für den Journalismus, wie er ihn kennt:
Wie kann eine Gesellschaft ohne guten Journalismus überleben? Jetzt, wo sich leider auch immer mehr Journalisten sich ihre sozialen Prognosen vom Silicon Valley und der Wall Street schreiben lassen, riskieren wir eine ganz einfache und ebenso gelassene Vorhersage: gar nicht.
Die entscheidende Frage ist nicht, wie eine Gesellschaft ohne guten Journalismus überleben kann. Die Frage lautet, wie können die Aufgaben des Journalismus in einer Gesellschaft gelöst werden, die von Digitalisierung und damit vernetzter Informationsökonomie geprägt ist. Das ist weder an Institutionen (sprich Presseverlage) gebunden, wie ich hier im Gespräch ausführte, noch an unsere Definition von Journalismus, wie wir ihn aus der industriellen Informationsökonomie kannten. Das ist Strukturwandel hautnah.
Kein Vertreter eines Enzyklopädien herausgebenden Verlages hätte jemals geglaubt, dass etwas wie die Wikipedia funktionieren könnte, geschweige denn, dass so etwas gesellschaftlich so viel wichtig werden könnte als irgendeine herkömmliche, industriell produzierte Ausgabe davor.
Wie kann eine Gesellschaft ohne guten Journalismus überleben?
Nein. Das ist nicht die Frage.
Nehmen Sie sich ein leeres Blatt Papier oder meinetwegen eine leere Textdatei.
Welche gesellschaftlich wichtigen Aufgaben nehmen Journalisten wahr?
Lassen sich diese Aufgaben auch auf andere als die bekannten Arten lösen?
Gibt es möglicherweise für manche Aufgaben bessere (in Bezug auf Objektivität, Effizienz, Ausmaß) Lösungsansätze als hierarchisch strukturierte, gewinnorientierte Unternehmen? Wie könnten diese aussehen?
Was, wenn wir heute bei Null anfangen würden?
Das sind die Fragen, denen wir uns stellen müssen. Und dann Experimente. Und Geduld und Aufmerksamkeit.
Wir haben den Vorteil, dass wir mit dem Blick in die USA einen Blick in die Zukunft werfen können. Ja, wir hinken in Deutschland, und in ganz Europa, hinterher. Aber wir hinken immerhin, wir sind noch nicht stehengeblieben.
Warum sollte ich als Trierenhersteller einen Blick über den Ozean werfen? Ist da überhaupt irgendetwas? Sieht nur nach Wasser aus.
Eine Herausforderung ist auch, dass der mittelalterliche Matrose hinter dem Ozean nicht das Ende der Scheibe sondern einen neuen Weg nach Indien erhoffen muss, um sich überhaupt auf die beschwerliche Reise zu machen, oder zumindest erst einmal ernsthaft darüber nachzudenken. Im Idealfall entdeckt er dann ein neues Land.