Andreas von Gunten über Massenmedien:
Interessanterweise wird Öffentlichkeit so definiert, dass es sich um einen “Ort” handelt, wo Dialog und Austausch der Bürger stattfinden kann. Während die vielen Zeitungen des 19. Jahrhunderts, diesem Anspruch noch eher gerecht werden konnten, da wohl tatsächlich die meisten, die sich zu dieser Zeit aktiv an der Demokratie beteiligten auch in ihren Zeitungen zu Wort kommen konnten, sind die Massenmedien, wie wir sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, längst keine Dialogmedien mehr. Es sind Broadcaster im wörtlichen Sinne, und die Meinungen die dort ausgetauscht werden, sind nicht, die der Bürger & Bürgerinnen, sondern eher zufällig ausgewählter Protagonisten, wie Sportler, Popstars, Mister & Missen und hin und wieder Politikerinnen und Wissenschaftler.
Wenn wir also wirklich daran interessiert sind demokratische Öffentlichkeit im Sinne der oben genannten Vorstellungen zu realisieren, dann sollten wir wohl kaum an den Massenmedien festhalten, sondern die Netzmedien, die viel besser als Dialogmedien geeignet sind, begrüssen.
Der Punkt ist, dass “Öffentlichkeit”, also Reichweite, in welchen Kreisen und in welcher Größe auch immer, nicht mehr zwingend aus der Publikation selbst heraus kommen muss, sondern von außen kommen kann.
Andreas von Gunten:
Richtig, ein einzelner Blog erreicht kaum relevante regelmässige Leserzahlen, aber darum geht es gar nicht. Die Vorstellung, dass sich “Öffentlichkeit” nur dadurch einstellen kann, weil ein Thema massenmedial verbreitet wird, hält sich wohl nur darum so hartnäckig, weil wir es nicht anders gewohnt sind. Dieser These können wir nur schon die Geschichte entgegen halten. Es hat bereits politische “Öffentlichkeit” gegeben, als es noch kein Radio und kein Fernsehen gab, die Zeitungslandschaft viel stärker fragmentiert war und die einzelnen Blätter nur Bruchteile der Auflagen heutiger Massenmedien erreichten.
Wer, wie etwa FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, Blogs vorhält, sie hätten nicht die Reichweite von Massenmedien erreicht und wären deshalb gescheitert, hat wenig davon verstanden, wie sich eine vernetzte Öffentlichkeit von einer massenmedial organisierten Öffentlichkeit unterscheidet oder verfolgt eine Agenda.1
Öffentlichkeit, im großen wie im kleinen, entsteht auf Aggregatoren wie Reddit, über Social Networks wie Facebook und Twitter und Memetrackern wie Techmeme, Rivva und Google News.2
2010 schrieb ich über Aggregatoren:
Liefern die Aggregatoren doch ein gesellschaftsnäheres Bild ab, weil sie die Themen marktlich anhand der Diskurse der Experten gewichten, statt anhand der gering gesamtgesellschaftlich repräsentativen Diskurse zwischen wenigen Personen mit viel Macht innerhalb einer Hierarchie (vulgo: Redakteur).
Tatsächlich ist der Mechanismus natürlich nicht 'marktlich', weil es hier eben keinen Marktmechanismus gibt, sondern eine Art P2P-Produktion, die auf Kooperation aufsetzt – small pieces loosely joined – und nur auf diese, transaktionskostenarme, Art ihr Potential entfaltet.
Über die meines Erachtens unbegründete Angst vor Fragmentierung und der Bildung von Öffentlichkeit im Web schrieb ich vor drei Jahren:
Die Befürchtung: Wenn jeder nur noch auf der Website seines Anglervereins verweilt, statt die FAZ von vorn bis hinten zu lesen, zerfällt die Gesellschaft. Oder: Wenn sich jeder nur noch auf radikalen Blogs am kollektiven Schulterklopfen beteiligt, statt sich über Massenmedien allgemein zu informieren, zerfällt, zersplittert, die Gesellschaft.
Studien, wie die, die Benkler in seinem Buch zitiert, scheinen die letztgenannten Befürchtungen bereits vor 2006 widerlegt zu haben. Das Abschotten scheint eher ein Randphänomen statt ein systemweites zu sein.
Was die Anglervereinshypothese angeht: Informationen und Diskurse besitzen eine unterschiedlich hohe Interessanz für den einzelnen. Je interessanter oder relevanter etwas erscheint, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Information über Gruppen hinweg verteilt werden, die unter Umständen mit dieser Art von Information oder Diskurs gar nichts oder nur wenig zu tun haben.
Der Unterschied zum Fortpflanzen des Diskurses im Web zum selbigen Vorgang im Massenmedienzeitalter ist folgender:Im Web entscheiden die Einzelpersonen zunehmend selbst, ob sie die Nachricht für verbreitenswert halten. Im Massenmedienzeitalter entscheidet der an der Spitze der internen Hierarchie stehende Redakteur.
Klassische Massenmedien behalten auch weiter einen Platz, dieser wird aber weniger bedeutend. Spiegel Online und, leider, auch Bild Online werden zu den wenigen gehören, die überleben werden. Aber ihre Bedeutung für die Bildung von Öffentlichkeit wird langfristig sehr viel geringer werden. Genau genommen werden sie die Agenda irgendwann kaum noch setzen können.
Wie genau das in Zukunft aussehen wird, ist noch relativ unklar. Klar ist nur, dass wir die neuen Mechanismen viele Jahre bevor sie nach Deutschland kommen werden in den USA und in andern Ländern werden beobachten können.
Wer behaupten würde, dass ein Fachmagazin für Angler, das hinter der Auflage der BILD zurück bleibt automatisch ein Flop ist, würde dafür ausgelacht werden. Denn hier ist das Verständnis von Erfolg und Misserfolg klar etabliert. ↩
Das Problem in Deutschland ist natürlich, dass hier just mit dem Presseleistungsschutzrecht ein Gesetz verabschiedet wurde, das diese Öffentlichkeitshersteller bei den alten Institutionen genehmigungspflichtig macht und, wie auf neunetz.com zur Genüge ausgeführt wurde, deswegen hierzulande das Innovationspotenzial an dieser wichtigen Stelle eliminiert wird. ↩
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.