20. Okt. 2016 Lesezeit: 4 Min.

Warum #wearetwitter ein unrealistischer Traum ist

Warum #wearetwitter ein unrealistischer Traum ist

Angestachelt von den Verkaufsgerüchten von Twitter -wer nicht aufgepasst hat: mindestens Disney und Salesforce haben genauer hingeschaut und dankend abgelehnt-, denken ein paar der Twitter-Nutzer darüber nach, Twitter zu übernehmen und in eine den Nutzern gehörende Kooperative (weil Genossenschaft zu altbacken klingt) zu überführen.

Aus der auf Twitter Wellen schlagenden Petition:

Einige von uns wollen eine Kooperative ins Leben rufen, die weitere Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer gewinnen will, in der Hoffnung, einen Deal hinzubekommen. Einen fairen Deal, der diejenigen belohnt, die dabei geholfen haben, das Twitter wie wir es lieben zu kreieren. Wir hoffen, dass diese mit uns zusammenarbeiten werden. Twitter ist dabei nur ein Anfang, eine Chance, einfach mal über ein Werkzeug nachzudenken, mit dem man große Plattformen gemeinsam besitzen könnte; unsere Kooperative denkt bereits darüber nach, wie man gemeinschaftlich geteilte Inhaberschaften auch an anderen Stellen des Internet umsetzen könnte.

Wir, die Unterzeichner, fordern Twitter auf mit uns zusammenzuarbeiten, um die Zukunft des Unternehmens gemeinsam mit denjenigen zu gestalten, die am meisten an seinen Services hängen. Einige von uns sind TWTR-Aktionäre und haben bereits zugesagt, unser Anliegen durch die Übertragung ihrer Stimmrechte zu unterstützen, damit der Aufkauf durch ein Großunternehmen verhindert und eine bessere Lösung gefunden werden kann.

Markus Spath beschreibt einige der Herausforderungen auf hackr.de:

in einem zweiten schritt müsste man dann zeigen, dass ein genossenschaftliches modell ein garant dafür wäre, dass twitter in ein bald nicht mehr erkennbares konstrukt transformiert würde, das dann zwar allen u/o vielen gehört, jeden ursprünglichen sinn aber verloren hat. das nur mal in den raum gestellt, aber wer sich in johnnys googledoc anschaut, welches abstruse macro- und micromanagement sich schon bei einer beteiligung von 10 oder 20 leuten einstellt (kaufen oder reicht auch nachbauen? open sourcen oder nicht? be excellent als motto oder nur kein dick? vl. ein karma-system, aber ab wann ausschluss und was ist überhaupt hatespeech? foto/video/audio oder nicht? 140 zeichen oder mehr? oder 140 zeichen aber links und sagen wir 10 mentions werden nicht mitgezählt? favs oder hearts? conversations als baum oder liste? vl. ein flag für important? vl. verlust vom handle bei inaktivität? und wer machts eigentlich, ein team oder freestyle open source prozeß und offices vl. in berlin? free oder freemium oder paid und ggf. was wann und wie überhaupt mit ads? vl. auf basis vom interplanetary file system? […]

Reden wir nicht lang um den heißen Brei herum: Die schiere Unmöglichkeit des Unterfangens ist geradezu grotesk.

Zunächst allgemein:

  • Es gibt keinen Präzedenzfall, in dem ein milliardenschweres, an der Börse notiertes Unternehmen in eine Genossenschaftsform überführt wurde.
  • Es gibt große und kleine Shareholder, die hier ein Mitspracherecht haben. Die Kleinanleger, die jetzt bereits an Bord sein mögen, sind in jeder Hinsicht irrelevant.
  • Es braucht ein mehrstufiges Governance-Modell und ein Übergangsmodell, für die längere Übergangszeit, welche beide ausgehandelt werden müssten. Hat irgendeine/r der Initiatoren bereits ein Unternehmen an die Börse gebracht oder von der Börse genommen? Die Komplexität hier ist enorm.
  • Es gibt keine erfolgreiche Kooperative, die einen Internetdienst bereitstellt, der auch nur annähernd in der Liga von Twitter spielt, was Reichweite und Komplexität des Tagesgeschäfts betrifft. Es ist sehr viel einfacher (um Dimensionen einfacher) eine Kooperative neu aufzubauen, als diese Governanceform über ein bereits bestehendes, zehn Jahre altes Unternehmen mit Tausenden Mitarbeitern zu stülpen.

Das sind die allgemeinen Bedenken, die bereits ausreichen sollten. Wer wirklich an Kooperative und Twitter glaubt, sollte einen neuen Mikrobloggingdienst aufsetzen. Das hat mehr Erfolgsaussichten und wird nicht Jahre benötigen, um überhaupt bestenfalls an einen Anfang zu kommen, an dem ein nennenswerter Wechsel in spürbare Reichweite rücken könnte.

Aber kommen wir jetzt zu den Bedenken konkret bei Twitter:

  • Wie viele Initiatoren haben sich die jüngsten Quartalsberichte von Twitter angeschaut?
  • Das Unternehmen verzeichnet seit Jahren jedes Jahr jährliche Verluste von mehr oder weniger einer halben Milliarde US-Dollar.  (Obwohl der Umsatz konstant wächst.)
  • Kombiniert mit einer Belegschaft von mehreren Tausend Mitarbeitern und einer fehlenden substanziellen Weiterentwicklung des Produkts haben wir hier ein schlecht geführtes, unprofitables Unternehmen (das zufällig einen populären Dienst betreibt).
  • Ein Problem für Twitter ist seit Jahren die extrem hohe Bewertung des Unternehmens, die aus den frühen hohen Erwartungen entstanden ist. Twitter ist, um es schlicht zu sagen, hoffnungslos überbewertet, auch mit dem heutigen Aktienkurs noch. Twitter war und ist zu teuer. (Paywall) Neben anderen Gründen dürfte auch das dazu gefunden haben, das keiner der Kandidaten für eine strategische Übernahme zugegriffen hat.

Das führt uns zu folgender Situation:

Die künftigen Twittergenossen müssten bereit sein:

a.) Viel Geld zu verlieren. (Sobald tatsächlich ein Übernahmeprozess in Gang kommen würde, würde der Aktienkurs eher etwas steigen statt fallen.) Sie müssten Twitter zu einem Preis übernehmen, den das Unternehmen nicht wert ist. Sprich, egal welche Einnahmequellen künftig aufgemacht würden, ein signifikanter Teil des Geldes wäre unwiderruflich verloren.

b.) Die Twittergenossen müssten -jetzt wird es düster-, bereit sein sehr viele Twitter-Mitarbeiter, vielleicht mehr als Tausend, zu entlassen. Es ist offensichtlich, dass zu viele Menschen bei Twitter arbeiten, die einerseits die Kosten hoch treiben (an erinnere sich an die halbe Milliarde US-Dollar Verluste pro Jahr trotz steigender Umsätze), andererseits aber nichts Relevantes zum Produkt oder Geschäft beitragen. (man vergleiche die Mitarbeiterzahlen von Twitter mit Facebook oder Snapchat)

Ein Twitter ohne exorbitante Verluste geht nur mit Entlassungen.

So unschön das ist, aber was Twitter tatsächlich braucht, sind nicht blauäugige Twitternutzer, die es gut meinen, sondern einen Gordon Gekko. Twitter braucht jemanden, der radikal den Rotstift ansetzt, so bitter das für die heutigen Angestellten ist.

Und zu diesem Zeitpunkt haben wir noch nicht einmal darüber gesprochen, wie Produktentscheidungen künftig getroffen werden sollten. Ich bin nicht so skeptisch wie andere, dass man eine Organisation und (Weiter-)entwicklung nicht gemeinschaftlich/genossenschaftlich organisieren könnte. Das verlangt "nur" entsprechende mehrstufige Abstimmungsprozesse und entsprechende Werkzeuge und Organisationsstufen; eine Metaorganisation sozusagen. So etwas in funktionierender Form zu bauen, ist allerdings ausgesprochen schwierig. (Es ist in dieser Liga sehr viel komplexer als eine reine Unternehmensorganisation.) Besonders ohne Orientierungspunkte, wie das in dieser Dimension funktionieren könnte. Dieses Vorhaben gleich mit der Übernahme eines so schwierigen Falles wie Twitter mit all seinen Herausforderungen, bestehenden Strukturen und Prozessen verbinden zu wollen, ist völlig illusorisch und fernab jeder organisatorischen Realität.

Warum beschäftigen sich also so viele intelligente Menschen mit einer solchen kolossalen Zeitverschwendung? Weil ihnen, den täglichen Twitternutzern, denen, die in vielen Fällen Twitter seit nun bald zehn(!) Jahren täglich(!) benutzen, dieses Twitter so viel bedeutet. Es wäre für sie eine Katastrophe, würde Twitter einen langsamen, aber unaufhaltbaren Tod sterben. Aber genau danach sieht es immer mehr aus.

Es ist ein Traum, nicht mehr, nicht weniger; leider ein völlig unmöglich umzusetzender Traum.

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Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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