Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr wir den Status Quo überschätzen und jede Veränderung, die das Potenzial hat, an den Grundfesten zu rütteln, unterschätzen. Je umwälzender und schneller die Auswirkungen sein können, desto eher neigen wir dazu, die Standfestigkeit des uns bekannten Status Quo zu überhöhen.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir dazu neigen, den Status Quo als unsichtbar und gegeben zu akzeptieren. Was dagegen davon abweichen will, soll sich erstmal zünftig erklären.
Man kann das etwa bei E-Scootern beobachten: "Der E-Scooter als Symbol für den Umgang mit dem Neuen"
COVID-19 ist eigentlich ein ganz anderes Thema, aber dann auch wieder nicht, wenn es um diesen Aspekt der Abschätzung der Folgen geht: Auch hier überschätzen wir die Sicherheit des virusfreien Status Quo und unterschätzen, wie rasant der Virus sich aufgrund seiner Eigenschaften verbreiten kann (siehe dazu etwa Lars Fischer) und welche Folgen das für Gesellschaft und Wirtschaft haben kann.
Ich beispielsweise gehe mittlerweile davon aus, dass ich bis vor wenigen Tagen den Virus zwar ernst genommen habe -ernster als viele in der Bevölkerung-, das Ausmaß aber trotzdem völlig unterschätzt habe.
Für den Kontext hier die entscheidenden jüngsten Entwicklungen zur Einordnung:
Erstens: Seit gestern hat die italienische Regierung ganz Italien zur Schutzzone erklärt. Tagesschau:
Italien als Schutzzone, das heißt: Die Einschränkungen, die bisher schon in weiten Teilen Norditaliens gegolten haben, gelten nun im ganzen Land. Menschen in Italien dürfen jetzt also nur noch aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen unterwegs sein - oder wenn es anderweitig dringend notwendig ist.
Zweitens: Mediziner wie Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, gehen mittlerweile davon aus, dass das Virus nicht mit den warmen Frühlingstemperaturen verschwinden wird, sondern dass wir das Maximum der Erkrankungen erst von Juni bis August sehen werden. (siehe unter anderem NDR-Podcast, web.de)
Drittens: Gleichzeitig scheinen abseits von Italien die westlichen Regierungen sich und die Bevölkerung nicht angemessen auf das vorzubereiten, was da auf uns in ein paar Tagen zurollt. Kein Land versemmelt das so grandios wie die USA, aber auch Deutschland bekleckert sich gerade nicht mit Ruhm.
Eine Eindämmung in den westlichen Ländern wird also eher nur noch minimal möglich sein.
Im Schlimmstfall gehen wir auf eine unbestimmt lange Phase ohne Rückkehr zu einem "normalen" Tagesgeschäft über.
Alles hängt davon ab, ob und wenn dann wann ein Impfstoff gefunden wird.
Ohne Impfstoff wird der Virus dank der Sterberaten das öffentliche Leben hier in Europa und weite Teile der globalen Wirtschaft für den Rest des Jahres de facto lahmlegen. Es ist schwer, in Worte zu fassen, was das bedeuten wird, weil es so weit weg von unserer bisherigen Realität ist, dass die Folgen zweiter und dritter Ordnung kaum abschätzbar sind.
Das ist das Worst-Case-Szenario. Es ist aber gleichzeitig aktuell nicht das unwahrscheinlichste Szenario.
- Konferenzen, besonders Entwicklerkonferenzen werden sich stark verändern. Der Jahresturnus wurde jetzt bereits durchbrochen. (Facebook, Microsoft, Google haben Konferenzen abgesagt.) Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass nächstes Frühjahr das Coronavirus wieder Thema sein wird. Gibt es keinen Impfstoff, fällt das Frühjahr wieder aus. Es ist längst so, dass nur ein kleiner glücklicher Bruchteil der Entwickler tatsächlich vor Ort auf den Konferenzen ist. Die Mehrheit schaltet sich remote per Stream zu oder schaut die Aufzeichnungen später. Alle Konferenzen der großen Tech-Konzerne werden künftig noch stärkere Online-Elemente haben, um sich von der physischen Präsenz zu emanzipieren.
- Supply Chains werden sich diversifizieren. Apple mag noch Glück haben, weil sie groß und wichtig sind als Partner. Aber sowohl Apple als auch ‚kleinere‘ Auftraggeber werden künftig nicht mehr so stark auf China setzen können. Der Verlass auf China als weltweite Produktionsstätte wird künftig sehr viel schwächer ausfallen. Dikaturen sind eben schlecht in öffentlicher Kommunikation und in Krisenbewältigung. In der Zwischenzeit wird es dieses Jahr einige Engpässe im Elektronikbereich geben.
- Home Office und Videokonferenzen könnten dieses Jahr einen enormen Sprung machen. Man kann leicht unterschätzen, was dieser externe Druck jetzt an Veränderungen anschieben kann. Vieles davon ist schließlich bereits längst da und/oder von Arbeitnehmern gewünscht. Dank des Virus verschwinden jetzt an vielen Stellen Widerstände, die vor allem traditionsbegründet waren. Zoom und co. wird’s freuen.
- SaaS in diesem Bereich wird aufgrund dieser rasanten Änderungen ebenfalls interessante Entwicklungen sehen. Sehr gut möglich, dass einige nützliche Werkzeuge für remote work just das Licht der Welt erblicken, weil viele Startups sich eigene Tools für die neuen Umstände bauen. Diese Tools können dann in den nächsten Jahren unsere Herzen und Screens erobern. So entstand seinerzeit zum Beispiel Slack.
- Sollte es keinen Impfstoff bis Herbst geben, dürfte eine weltweite Rezession als sicher gelten.
Ich halte das mittlerweile für unzureichend. Oder anders: Diese Folgen werden eintreten, aber sie werden von weitreichenderen Konsequenzen überschattet werden.
Hier 8 weitere, aktuell absehbare Folgen durch den Coronavirus:
- Supply Chains brechen zusammen. Herstellungs- und Lieferungsprozesse sind bereits unterbrochen und werden nur mit einem Bruchteil ihrer bisherigen Kapazität weiter arbeiten können, solang das Coronavirus ein Gefährdungsthema ist.
- Zumindest temporär massiv gesunkene Transaktionsvolumina in der gesamten Wirtschaft. Da der Virus jede zwischenmenschliche Interaktion beeinflusst. Nach ersten Zahlen gehen die ersten Analysten wie Ben Bajarin davon aus, dass der Smartphone-Markt zumindest temporär (Quartal, Halbjahr, Jahr, wir werden sehen) um 50%(!) sinken wird. Was aufgrund der hohen Bedeutung des Smartphones im Leben der Menschen bedeutet, dass alle anderen Kategorien der Konsumentenelektronik noch stärker sinken werden. Gleiches gilt für andere Produkte, deren Erwerb man ohne Probleme verschieben kann..
- Das alles kann für signifikante Teile des bereits gebeteulten stationären Handels der Todesstoß sein.
- Auch der Onlinehandel steht kaum besser da. Es ist aktuell denkbar, dass in einigen Tagen oder Wochen weder Paketbote noch Kunde sich einander begegnen wollen. Im Gegensatz zum stationären Handel kann sich der Onlinehandel hier konzeptionell Gedanken machen. Aber alles, was jetzt noch nicht steht, kommt bereits zu spät für den Frühling und wohl auch den Sommer.
- Die Folge: Aufgrund eines möglicherweise in dieser Dimension seit dem zweiten Weltkrieg nicht gesehenen Konsumrückgangs könnte dem stationären Handel schnell die Luft ausgehen, während der Onlinehandel zumindest nicht sofort davon profitiert. Mittel- bis langfristig können die Auswirkungen des Coronavirus den seit Jahrzehnten schleichenden Systemwandel im Handel mit einer ruckhaften, schrittweisen Veränderung beschleunigen. Oder kurz: Pleitewelle. Selbst im Best-Case-Szenario mit mildestem Verlauf in Deutschland, also konträr zu Italien (ein Szenario, für das es keinerlei Gründe gibt), wird das Virus einige stationäre Händler dahinraffen.
- Randnotiz: Wie sinnvoll wäre es jetzt für die Grundversorgung der Bevölkerung, eine bundesweite Abdeckung großer Kapazitäten von regelmäßig desinfizierten Abholstationen zu haben? Aber ach.
- Neben dem Handel trifft es ebenso direkt die Reise- und Touristikbranche. AirBnB hat seinen für 2020 geplant gewesenen Börsengang bereits auf 2021 verschoben. Flixmobility wird nicht nur über sinkende Fahrgäste bei den Fernbussen klagen, sondern ganze Linien temporär einstellen. Auch hier wird es darauf ankommen, was Unternehmen wie Flixmobility und die Deutsche Bahn konzeptionell schnell auf die Beine stellen können, um auf die neuen Umstände zu antworten. (Und ob irgendeine Veränderung im Angebot tatsächlich etwas bewegen kann.) Wie viele Fluglinien werden überleben? Wie viele Taxi- oder Ridepooling-Unternehmen?
- Zum Mobilitysektor gibt es zwei weitere Überlegungen: Alles was unter "Sharing Economy" beziehungsweise die On-Demand-Economy fällt, also E-Scooter-Sharing, E-Bike/Bike-Sharing, könnte in der Nutzung rasant sinken, weil man nicht anfassen will, was viele andere kurz vorher angefasst haben. (Der Coronavirus kann sich recht lang auf Oberflächen halten.) (Hygiene und Selbstsäuberung der Vehikel dürfte bei vielen Startups in diesem Bereich plötzlich oben auf der Agenda gelandet sein, weil das auch in der Zeit nach dem Virus ein Thema bleiben wird. Es wird interessant zu beobachten sein, ob sich das dann schon bei der nächsten oder erst übernächsten Generation der Hardware manifestiert.) Noch schwerwiegender ist der Gig-Aspekt im nächsten Punkt:
- Ob Uber, Amazon Flex, Helpling oder Lieferdienste: Selbständige im Gig-Modus auf diesen Plattformen können nicht "einfach" daheim bleiben. Ihnen fehlen die Einnahmen und in der Regel dürften die finanziellen Polster nicht groß sein. Hier rächt sich, dass sich die Politik bis heute nicht um eine regulatorische Lösung für dieses neue Arbeitsverhältnis gekümmert hat. (Das sprengt jetzt den Rahmen dieser Aufzählung, aber grob meine Vorstellung einer Lösung seit einigen Jahren: Selbständigkeit heißt in diesem Kontext auch Nicht-Exklusivität und Flexibilität. Das ist aus verschiedenen Gründen politisch wünschenswert. Gleichzeitig ist es keine Unabhängigkeit im traditionellen Sinne der Selbständigkeit. Um Vorteile und Nachteile gleichermaßen zu erhalten, sollte die Politik für die soziale Absicherung der selbständigen ‚Lieferanten‘ die Plattformen direkt zusätzlich besteuern und diese Steuer in einen zweckgebundenen Topf einzahlen. Dieser Topf ist dann plattformungebunden und nur an diese neue Arbeitsteilung gekoppelt. (Also etwa für Selbständige, die im Gig-Modus über diese Plattformen arbeiten und zum Beispiel aufgrund einer Pandemie oder anderen Gründen Einkommensausfälle haben.))
Alles übertrieben? Hier berichtet der Source-Code-Newsletter von Protocol über die Geschäftsrisiken, die Salesforce der SEC mitgeteilt hat:
Salesforce told the SEC it's seriously worried about what coronavirus will do to business:
- "The ongoing coronavirus epidemic could potentially disrupt the supply chain of hardware needed to maintain these third-party systems or to run our business. As we increase our reliance on these third-party systems, our exposure to damage from service interruptions may increase."
Weil die Ausbreitung des Coronavirus die gesamte Gesellschaft in sehr vielen Ländern weltweit trifft, sind die Folgen zweiter und dritter Ordnung aktuell nicht abschätzbar. Die Vernetzung der Weltwirtschaft hat sie für dieses Szenario angreifbar gemacht. Der Automarkt etwa wird ebenso sinken wie andere Märkte. Wie einen Stein, den man in‘s Wasser wirft, werden diese Vorgänge sich in Wellen nach außen ausbreiten.
Das Risikokapitalunternehmen Sequoia Capital ( das 2008 mit 'RIP Good Times' bereits einen ersten Hit dieser Art vorlegte) nennt das Coronavirus den "Black Swan of 2020":
Unfortunately, because of Sequoia’s presence in many regions around the world, we are gaining first-hand knowledge of coronavirus’ effects on global business. As with all crises, there are some businesses that stand to benefit. However, many companies in frontline countries are facing challenges as a result of the virus outbreak, including:
It will take considerable time — perhaps several quarters — before we can be confident that the virus has been contained. It will take even longer for the global economy to recover its footing.
Das Coronavirus wird uns noch länger begleiten.
Es gibt natürlich weitaus wichtigere Aspekte bei einer Pandemie, aber die Folgen für die digitale Wirtschaft werden wir auch im Mitgliederangebot Nexus kontinuierlich begleiten.
Stay safe.