Sascha Lobo auf Spiegel Online:
Dass am Freitag vor den ACTA-Demos die Tagesschau vier Minuten lang als Aufmacher über dieses superkomplexe Thema berichtete, zeigt die Macht der Netzgemeinde, was Agenda-Setting angeht.
In diesem Satz zeigt sich die irreführende Schlussfolgerung aus dem Begriff „Netzgemeinde“: Eine einflussreiche, wenn auch schwer umreissbare, Gruppe schafft es, Themen mehr Gewicht zu geben als diesen eigentlich zusteht.
ACTA hat keine vier Minuten in der Tagesschau verdient? Internationale, in Hinterzimmern ausgehandelte Abkommen, die demokratischen Gesellschaften die Hände binden, um unsere Kultur in Geißelhaft nehmen zu können, werden nur in der Tagesschau verhandelt, wenn eine Lobby ihre eigenen Interessen vorantreibt?
In keinem Paralleluniversum könnten die Tagesschau-Journalisten auf die Idee kommen, dass das ein wichtiges Thema sein könnte? Vielleicht sagt das mehr über die wahrgenommene Qualität der Tagesschau aus. Und tatsächlich: Erst Demonstrationen bewegen die Tagesschau, ausführlich über ACTA zu berichten. Aber warum: Weil eine Lobby öffentlichen Druck aufbauen konnte?
Menschen haben ähnliche Ansichten, sie können sich besser über das Netz organisieren als jemals zuvor (Shirky: ‚organizing without organizations‘) und je größer der gemeinsame Nenner, desto mehr Menschen nutzen die vorhandenen Tools, um organisiert zu agieren.
Wer regelmäßig im Netz unterwegs ist, zumindest latent an der Gesellschaft interessiert ist und erklärt bekommt, was es mit ACTA oder dem Presseleistungsschutzrecht auf sich hat, wird dagegen in welcher Art auch immer aktiv werden (bis hin zur Straße). Dazu muss man nicht auf Twitter sein, dazu muss man nicht (bewusst) Blogs lesen. Es reichen Facebook oder YouTube, um davon zu erfahren. Sind das dann alles Netzgemeindemitglieder?
Ich habe auf der ersten Anti-ACTA-Demo eine Rede zum Urheberrecht gehalten. Das ist mein gemeinsamer Nenner mit unter anderem netzpolitik.org. Ich halte auf der anderen Seite die dort oft vertretenen Ansichten zu Datenschutz und/oder Facebook für hanebüchen oder zumindest weltfremd. (Das gleiche gilt für den CCC.) Was bedeutet das dann? Bin ich jetzt im Postprivacy- oder im Wirtschaftsflügel der Netzgemeinde zu verorten?
Was ist mit den Jugendlichen auf den ACTA-Demos, die von ihren YouTube-Stars mobilisiert wurden? Diese Teenager sind nicht auf Twitter zu finden, dem vermeintlichen Rathaus der Netzgemeinde.
Es gibt so wenig eine Netzgemeinde, die als Lobby durch das Land marodiert, wie es eine Journalistengemeinde oder eine Grundrechtsverteidigergemeinde gibt. Wer heute von einer Netzgemeinde spricht, hätte in der DDR 1989 auch von einer Montagsgemeinde gesprochen.
Wer meint, dass 100 lautstarke Freaks an ihren Rechnern sitzen, die alles umsonst haben wollen (diese Definition von Netzgemeinde habe ich neulich gehört, und es dürfte das sein, was viele bei dem Begriff vor Augen haben), verschließt gekonnt die Augen vor der Entwicklung der letzten zehn Jahre.
Oder anders: Was müsste passieren, damit man nicht mehr von einer Netzgemeinde spricht? Gibt es eine Entwicklung, die dazu führen könnte, dass dieser Begriff nicht mehr passend verwendbar ist? Oder lässt sich dieser Begriff immer auf Menschen anwenden, die in welcher Form und bei welcher Unterthematik auch immer zum Internet über das Internet aktiv werden?
Der Begriff Netzgemeinde ist eine Verniedlichungsform, um neue Arten des Organisierens auf das Bild einer fest eingrenzbaren Organisation zu reduzieren, weil diese Organisierungsarten aktuell in westlichen Ländern vornehmlich dafür eingesetzt werden, die ihnen zugrundeliegenden Tools vor der (wahren oder vermeintlichen) Zerstörung zu bewahren.
Das ist das erste und das letzte, was ich zu diesem unsinnigen Begriff zu sagen habe, der genau nichts über die sich verändernde demokratische Partizipation aussagt.
-drik S. says
Nun ja, da die Öffentlich-Rechtlichen die Regierung dazu aufgefordert haben, Acta zu unterzeichnen, ist ihnen wohl daran gelegen gewesen, eine solche Berichterstattung gerade nicht groß hochzukochen.
Zudem spricht Lobo gar nicht von einer „fest eingrenzbaren Organisation“ alten Schlages, sondern versucht nur etwas begrifflich zu fassen, damit es in das präinternetzische Demokratieverständnis eingeordnet werden kann.
dominikDe says
Wir verschwenden zu viel Energie auf Definitionsgrabenkämpfe. Wichtig ist doch die neu hinzugewonnene Macht einer wachsenden (wahrgenommenen) Mehrheit, die sich durch nichts als kollektiven Interessen selbst synchronisiert und organisiert.
Angesichts der Chance auf eine Evolution der Demokratie sollten Inhalte im Vordergrund stehen. Wohin man in die jüngere Geschichte blickt, es gab stets bei einem Teil der Gesellschaft Unverständnis über die Motive sich ausformender Bewegungen. Das ist belangloses Knirschen.
Leander Wattig says
Ich fand die Argumentation auch etwas fragwürdig. In dem Sinne könnte man alle möglichen Lobbies und Gemeinden konstruieren, die es so de facto aber gar nicht gibt. Man denke nur an die Freiheitslobby in den arabischen Staaten. Alles eine Soße.
Leander Wattig says
Außerdem hatte ich von der re:publica her als letzte Aussage im Kopf, dass die „Netzgemeinde“ nichts bewirkt, weil sie nur im eigenen Saft schmort. Nun plötzlich ist sie eine hocheffektive Lobby-Maschine. Wann ist das passiert?
Marcel Weiss says
Weiß nicht, aber gute Frage. Dem Vortrag von Sascha auf der re:publica konnte ich auch nicht beiwohnen, weil ich zur gleichen Zeit bei einem Expertengespräch der SPD zum Thema Urheberrecht war. :)
Leander Wattig says
Prima Sache :)
Ich hatte es auch nur zugetragen bekommen; fand diese These aber wiederum recht treffend.