Heute vor sieben Jahren nahm neunetz.com seinen unheilvollen Anfang. Der durch die Digitalisierung ausgelöste Umbruch, der sich damals bereits deutlich seit geraumer Zeit in seinen ersten Ausprägungen, Urheberrecht!, abzeichnete, ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen und auch vom starrköpfigsten Feuilletonisten nicht mehr weghaptierbar.
An der Ausrichtung von neunetz.com hat sich in den letzten zwei Jahren nichts geändert. Im Gegenteil, trifft doch das, was ich anlässlich des Fünfjährigen schrieb aufgrund der immer unübersichtlicher und flüssiger werdenden Gesamtsituation mehr denn je zu:
neunetz.com soll eine Mischung aus Daring Fireball und – Vorsicht, jetzt wird’s vermessen – The Economist werden. Beides sehr unterschiedliche Publikationen, die das Wichtige eint: No Bullshit, was passiert wirklich, wie lässt sich das einordnen, was wären Handlungsempfehlungen für Betroffene.
Das Ideal wäre ein neunetz.com, das sich als Economist für die Internetwirtschaft etabliert. Was meine ich damit: Der Economist konzentriert sich auf die entscheidenden News, er ordnet ein, er bezieht Stellung. Das Magazin ist, was viele Presseverlage hierzulande (in der Regel nur) vorgeben, zu verlegen: tatsächlicher Qualitätsjournalismus. Eine Publikation mit enormen Mehrwert für ihre Leser.
Wie es der Tradition entspricht wagen wir nun einen kurzen Blick auf die aktuellen Kernthemen auf neunetz.com und demzufolge die Makrotrends der fortschreitenden Digitalisierung, die ich für die aktuell wichtigsten halte:
Inhaltsverzeichnis
Post-PC-Ära
Smartphones sind die ersten echten „Personal Computers“ und beenden mit ihrem Aufstieg die Ära der Laptops und Desktops, also der Rechner, die Anhängsel und nicht Mittelpunkt in unserem Leben waren. Smartphones, die Zentren der Post-PC-Ära, sind die sich am schnellsten verbreitende Technologie.
Die Zukunft unserer Zivilisation liegt in diesen kleinen Taschencomputern. Im Guten wie im Schlechten.
Was die Smartphones, deren technische Weiterentwicklung immer schneller die „Gut-Genug“-Schwelle erreichen, ermöglichen werden, ist die kommende Peripherie der Post-PC-Ära: Wearables, Smart TVs, und auch die stärkere Verbreitung von vernetzten Systemen wie Sonos und Transporter.
Endnutzertechnologien bewegt sich mit der Post-PC-Ära weg vom Schreibtisch und den Specs hin zum Alltag, zu Fashion, zu allumfassenden Plattformen, Ökosystemen, auch hier im Guten wie im Schlechten, und, auch das nicht neu, zur wichtigsten Entwicklung des 21. Jahrhunderts, die alles berühren werden.
Wild West No More
Die Entwicklungen schreiten rasant voran. Wir sind nicht darauf geeicht, exponentielle Entwicklungen einschätzen zu können. Exponentielles Wachstum, wie es die Verbreitung von Technologien, von Webdiensten und digitalen Märkten (der deutsche Onlinenhandel etwa) aktuell an vielen Stellen erfahren, entziehen sich unserer Vorstellungskraft. Gleichzeitig geht es uns paradoxerweise nicht schnell genug.
Das Web hat sich in den letzten zwei Jahren erheblich, und oft nicht zwingend offensichtlich, geändert. Es sind Strukturen entstanden, die den Wild-West-Charakter des Internets verschoben haben.
Auf manchen Ebenen sind erhebliche Markteintrittsbarrieren entstanden: iOS, Android, Amazon und Facebook. Gleichzeitig ermöglichen diese Strukturen neue Märkte, die es vor zwei oder drei Jahren praktisch noch gar nicht gab.
Das führt dazu, dass es für alle Akteure komplexer geworden ist.
Es führt auch dazu, dass man leicht neue Dienste falsch interpretiert, weil heute zum Beispiel 100 Millionen Endnutzer aus Dienstsicht oft weniger „wert“ sind als 100 Millionen vor zwei oder drei Jahren. Oder anders: Wenn es dank eines veränderten Marktumfeldes einfacher wird, 100 Millionen User zu erreichen, dann ist es deshalb auch nicht die gleiche Leistung wie vor ein paar Jahren als es noch keine massiven Distributionsplattformen gab.
Dezentralisierung vs. Cloud
Der Überwachungskandal führt neben anderen Faktoren -Performance, Anzahl der Geräte pro Person in Industrieländern- dazu, dass wir neben dem World Wide Web zunehmend mit anderen Netzstrukturen arbeiten werden. Ich hatte kürzlich im neunetzcast mit Johannes Kleske ausführlich darüber gesprochen und werde das künftig noch weiter ausführen.
Diese Entwicklung wird erhebliche, schwer vorhersehbare Folgen nach sich ziehen. Ich rechne 2014 mit den ersten Durchbrüchen auf diesem Feld.
Clash der Organisationskulturen
Das Presseleistungsschutzrecht war erst der Anfang. Immer öfter sehen sich Startups Regulierung gegenüber. In manchen Fällen ist diese natürlich gerechtfertigt. Sehr oft ist sie aber bewusst befördert von den Industrien, die von den Startups asymmetrisch angegriffen werden.
Besonders in Deutschland scheint dieser Krieg der Organisationsstrukturen vehement, und zum Vorteil der etablierten Unternehmen, geführt zu werden.
Beachtet man die Signale im Koalitonsvertrag und die Debatten in den deutschen Massenmedien, die offen diskursablehnend sind, sieht man die nahe Zukunft Deutschlands vor Augen, die vom Kampf gegen die Veränderungen bestimmt sein wird. Also so wie es seit Jahren der Fall ist.
Das ist nicht überraschend. Wir sind ein sehr konservatives und ein sehr reiches (und ein sehr altes) Land. Der stattfindende Strukturwandel ist vom Wesen her zwingend ein Massaker. Disruption, dieses schlimm missbrauchte aber trotzdem hier zutreffende Buzzword, ist das immer.
Die etablierten Unternehmen und die Strukturen, in denen sie sich bewegen, sind in fast allen, in zu vielen, Fällen nicht in der Lage zur Anpassung an die Veränderungen. Das ist nicht ihre Schuld, es ist eine zwingende Folge ihres wirtschaftlichen Erfolgs. Es bleibt ihnen nur, die Veränderungen gesetzlich verbieten zu lassen.
Und so beginnt der Analogprotektionismus, der wie jede Form von Protektionismus lokale Unternehmen auf Kosten ihrer lokalen Kunden schützt.
Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber jemand sagte einmal, der digital verursachte Strukturwandel wird oft als Wetterumschwung gesehen, ist aber in Wirklichkeit ein Klimawandel.
Das trifft es gut. Es trifft gut die Tiefe der Veränderung, die Größenordnung der Potenziale für die Gesellschaft und die Gefahren für so viele Personen und Unternehmen, für Branchen und Gesellschaftsbereiche, die sich sicher wägen.
In Deutschland ist dieses Verständnis auch bei vielen Vordenkern des Netzes noch nicht vollends angekommen. Und das spielt in die Hände der Kräfte, die am regulatorischen Widerstand arbeiten.
Das ist problematisch, weil ohne intellektuellen Widerstand die Schirrmachers unseres Landes uns die digitale Zukunft nehmen werden, die uns als Gesellschaft voranbringen kann statt im Status Quo der industriellen Informationsökonomie stecken zu bleiben.
In wenigen Monaten werde ich Vater. Vielleicht der wichtigste Grund, mit dem weiterzumachen, woran ich glaube. Let’s keep on fighting.
Mehr:
Carsten Pötter says
Und noch einmal Glückwunsch heute! :)
HomiSite says
Ebenfalls Glückwunsch! Kleine Frage: War Frank Schirrmacher – zumindest zuletzt – nicht noch am Ehesten auf „unserer“ Seite? Zumindest kuschelte er doch sehr stark mit dem CCC.
hackr says
happy birthday!
FrankWL says
Gratuliere! Neunetz ist immer lesenswert und ich hoffe, dass Ihr Euch den kritischen Blick auf die Dinge nicht abgewöhnen werdet.
Marcel Weiss says
Danke an alle für die Glückwünsche!
Marcel Weiss says
Frank Schirrmacher und den CCC eint der Hass auf US-amerikanische Internetunternehmen. Er verfolgt außerdem recht offensichtlich eine Agenda, bei der es auch darum geht, die FAZ und vergleichbare Unternehmen (Presseverlage) gegenüber anderen Unternehmen (Google etc.) zu verteidigen und besser zu stellen. Der Überwachungsskandal, den er bereits in einen zweiten Kalten Krieg zu deuten versucht, kommt ihm da sehr recht.
Im Übrigen halte ich nichts von „unsere“ Seite und Gegenseite als Blick auf die Dinge. Ich versuche, mich nicht auf eine Seite zu schlagen. Ich kann zum Beispiel die Anti-Google-Kampagnen in der deutschen Presse schlecht finden und trotzdem Google für ein verlogenes, arrogantes Unternehmen halten.
maxen says
Du positionierst Dich ganz klar – wenn Du Schirmacher und CCC vereint im Hass bezeichnest. Dann – nichts von „unsere“ Seite und Gegenseite zu halten – nachdem Du sie auf gemacht hast .. ist schon das Gegenteil von feinem Fug.
Marcel Weiss says
In der FAZ wird offen von Hass gesprochen: http://neunetz.wpengine.com/2013/11/12/faz-ruft-offen-zum-hass-auf/
Leander Wattig says
Seit fast 7 Jahren Pflichtlektüre. Danke für Dein Herzblut.
Marcel Weiss says
Das ist eine lange Zeit. Danke dir!