4. Dez. 2018 Lesezeit: 2 Min.

Der digitale Nihilismus auf den Straßen von Paris

Perlentaucher:

Solche Ausschreitungen hat es in Paris seit 1968 nicht gegeben. Links- und Rechtsextremisten mischten sich unter die "Gilets jaunes", was nicht heißt, dass diese nicht selbst zu Gewalt fähig wären. Libération bringt eine Bilderstrecke aus Paris und den Regionen.

Und weiter:

In Paris blickt Nadia Pantel (SZ) ratlos auf die Demonstranten, die die französische Hauptstadt am Wochenende ins Chaos stürzten: "Die Menschen an Straßensperren und Barrikaden haben wie ihr Präsident das Vertrauen in die Volksparteien verloren. Doch in ihrer Enttäuschung wenden sie sich nicht Macron zu - sie wehren alles ab, was nach übergeordneter Autorität klingt. Parteien, Steuern, Medien, Polizei. Oder einfach nur die Idee, dass man eine Demonstration anmelden könnte. Übrig bleibt eine destruktive Kraft. Die Proteste sind nicht nur bemerkenswert brutal, sie sind auch bemerkenswert unentschieden. Der einzige Slogan, auf den sich alle einigen können, lautet 'Marchons, marchons'. Es ist der Marschier-Refrain der französischen Nationalhymne. Nur marschiert gerade niemand in irgendeine Richtung."

Ich habe Anfang des Jahres Martin Gurris "The Revolt of the Public and the Crisis of Authority" gelesen, das just vor ein paar Tagen in einer neuen Edition herausgekommen ist. Gurri betrachtet darin viele Proteste und Aktionen, die erst duch Online-Koordination möglich wurden, von Occupy Wall Street über Israel über Spanien bis hin zum Arabischen Frühling, der seinen Anfang in Ägypten nahm, und zeichnet darin ein düsteres Bild: Die vernetzte Öffentlichkeit, die bottom-up 'Peripherie', sieht überall desillusioniert das Zentrum, die Institutionen, als das was sie sind: Hilflos aber anmaßend. Die größenwahnsinnige Narration aus dem letzten Jahrhundert ist geplatzt.

Was Gurri hervorragend herausarbeitet ist der Nihilismus, der sich an all diesen Stellen herausschält: Diese Öffentlichkeit ist "dagegen" und mehr nicht. Die Demonstranten, die Protestierenden, diejenigen, die mit Smartphone in der Hand auf den Straßen aufbegehren, wissen nicht, wofür sie sind, sie wissen nur wogegen sie sind.

Man lese jetzt noch einmal das obige SZ-Zitat.

Der Historiker Christophe Guilluy sieht im Guardian eine andere Art Peripherie aufbegehren:

employment and wealth have become more and more concentrated in the big cities. The deindustrialised regions, rural areas, small and medium-size towns are less and less dynamic. But it is in these places – in “peripheral France” (one could also talk of peripheral America or peripheral Britain) – that many working-class people live. Thus, for the first time, “workers” no longer live in areas where employment is created, giving rise to a social and cultural shock.

It is in this France périphérique that the gilets jaunes movement was born. It is also in these peripheral regions that the western populist wave has its source. Peripheral America brought Trump to the White House. Peripheral Italy – mezzogiorno, rural areas and small northern industrial towns – is the source of its populist wave. This protest is carried out by the classes who, in days gone by, were once the key reference point for a political and intellectual world that has forgotten them.

Guilluys Herleitung erklärt allerdings nicht den Nihilismus, den man auf den Straßen von Paris beobachten kann. Er mag den Grund erfasst haben. Aber die durch diesen Grund ausgelöste Koordination geschah online, bottom-up, ohne Kopf.

Ohne Ziel.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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