Felix Neumann antwortet sehr lesenswert auf Michael Seemanns Versuch einer Neudefinition von Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter:
Die großen Verfechter von Post-privacy – sei’s praktisch Mark Zuckerberg, seien es theoretisch Jeff Jarvis, mspro oder Christian Heller: Alles weiße Mittelklassemänner, soweit ich weiß heterosexuell und damit – wie natürlich auch ich – in der komfortablen Situation, die meisten Minderheitspositionen und -situationen nicht am eigenen Leibe zu kennen. Aus dieser Position ist es tragbar, den post-privaten Übermenschen zu geben. Und, zugegeben: Die befreiende Kraft von Wahrheit, Transparenz und Offenheit ist plausibel. Das Beispiel der Homosexuellen, die man nicht mehr als abnorme Ausnahme darstellen kann, gibt es doch zwischen Loveparade und Rotem Rathaus überall geoutete Homosexuelle, ist nicht zu wiederlegen. Indes: Es braucht eine kritische Masse. Und bis diese kritische Masse aufgebaut ist, braucht es den Schutz der Anonymität, der Privatsphäre, der nichtöffentlichen Räume. »Wir haben abgetrieben« auf dem Stern-Titel ist ein Schritt, der erst möglich ist, nachdem man sich einer kritischen Masse versichert hat – konspirativ, geheim. Widerstand gegen Machthaber ist nur dann aussichtsreich, wenn es konspirative Zirkel gibt als Bedingung der Möglichkeit von öffentlichen Protesten, die ihrer schieren Masse wegen nicht einfach weggewischt werden können.
Die totale Filtersouveränität des Anderen ist eine Utopie: Eine Utopie, die auf einen informationellen Übermenschen angewiesen ist, der keine Scham, kein Bedürfnis nach Intimität kennt, der so abgehärtet ist, daß keine Beleidigung, keine allzu ehrliche Meinung des Anderen durch seine (nicht nur technischen) Filter schlüpft.
Es ist dann eben alles doch nicht so einfach.