21. Juli 2010 Lesezeit: 2 Min.

Die überzogene Angst vor der Fragmentierung der Öffentlichkeit

Im Kulturkampf-Blog der ZEIT wird auf ein Interview mit Kanzerlin Angela Merkel hingewiesen:

In einem aktuellen Interview mit der Bunten klagt Bundeskanzlerin Angela Merkel über die “Vielzahl der Informationskanäle”, insbesondere das Internet. Dadurch würde “es immer schwieriger, ein Gesamtmeinungsbild zu erkennen”. Durch den “sehr großen technischen Wandel” sei es schwerer geworden, “alle Menschen, alle Generationen zu erreichen, denn diese nutzen die einzelnen Medien mittlerweile sehr unterschiedlich”. Und vor allem die jungen Menschen informierten sich ausschließlich über das Internet, “und das oft sehr punktuell”.

Tina Klopp schreibt weiter:

Dass die Öffentlichkeit immer fragmentierter und kleinteiliger wird, ist als Diagnose indes so richtig wie banal. Spontan fielen einem da aber eher positive Attribute ein: Freiheit und Auswahl zum Beispiel. Sicher war es früher einfacher für Politiker, ihre Botschaften zu übermitteln, wenn ohnehin alle gezwungen waren, die gleichen drei Fernsehprogramme zu gucken.

Die Öffentlichkeit fragmentiert aufgrund der größeren, online verfügbaren Auswahl. Neben den Vorzügen, die Klopp schon angesprochen hat, gibt es noch weitere Aspekte bezüglich der Fragmentierung der Öffentlichkeit, die oft nicht beachtet werden.

Wer sich online informiert, ist aus verschiedenen Gründen oft besser informiert: Er kann mehr Informationsquellen nutzen, die Informationen werden effizienter verbreitet. Früher hatt man z.B. die FAZ abonniert und bezog seine Informationen vornehmlich aus ihr. Online kann man neben der FAZ noch weitere Publikationen zumindest in Teilen weitaus problemloser konsumieren und bekommt über den eigenen Social Graph noch Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen zugespielt.

Zu dieser grundsätzlich effizienteren Informationsverteilung kommen Gruppenüberschneidungen: Fragmentierung online bedeutet nicht, dass sich einzelne Menschengruppen in abgeschotteten Räumen treffen und dort von den anderen Gruppen nichts mitbekommen.

Ein banales Beispiel: Es dürfte nur wenige Twitternutzer in Deutschland gegeben haben, die der Fußball-WM entkommen konnten. Twitter ist mit seinem Follower-Prinzip das Paradebeispiel der systemimmanenten Fragmentierung. Und es zeigt recht deutlich: Fragmentierung im Netz bedeutet nicht Abschottung. Gerade das Webdienste zunehmend dominierende Follower-Prinzip ermöglicht mehr Individualisierung während es gleichzeitig Gruppenabschottung hemmt. (Alle Mitglieder einer Gruppe müssten sich explizit dazu entschliessen, nur anderen Mitgliedern der gleichen Gruppe zu folgen, um sich komplett abzuschirmen.)

Womit nicht gesagt ist, dass man sich online nicht abschotten kann und nur mit einer kleinen Gruppe kommunizieren und nur eine beschränkte Bandbreite an News konsumieren kann. Angesichts der sich entwickelnden Informationsdienste erscheint es mir aber zumindest als äußerst unwahrscheinlich, dass dieser Weg der dominierende sein wird.

Neben der Gruppendurchlässigkeit wirken auch Aggregatoren gegen eine tiefgehende Spaltung der Öffentlichkeit durch Fragmentierung. Man denke nur etwa an Google News, Rivva, Techmeme, Digg und andere Beispiele.

Ich glaube, das Unbehagen von Politikern wie der Kanzlerin kommt in erster Linie davon, dass "BamS und Glotze" immer weniger funktioniert, um die Massen zu lenken. Spin wird schwerer, wenn die Kanäle zahlenmässig explodieren, dazu noch interagieren und die ehemaligen Gatekeeper zu Filtern 'degradiert' werden. Schlecht für auf Spin vertrauende Politiker, gut für die Demokratie.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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