Stefan Niggemeier:
Ich kann nicht glauben, dass man das im Jahr 2010 immer noch hinschreiben muss: Der Print-Journalismus ist dem Online-Journalismus nur insofern überlegen, als der Print-Journalismus jahrzehntelang ein lukratives Geschäftsmodell hatte, das dafür sorgte, dass Redaktionen gut ausgestattet wurden und sich relative hohe Standards entwickeln konnten. Dass auf sueddeutsche.de oder „Welt Online” Artikel stehen, die es nie in die gedruckte „Süddeutsche Zeitung” oder „Welt” schaffen würden, hat nichts mit dem Medium an sich zu tun, sondern allein damit, wie es die Verlage behandeln. Online, glauben sie, muss es nicht so gut sein, weil online ja auch nicht so viel Geld verdient wird. Das „weil” in diesem Satz ist sinnlos, aber Realität.
Das ist in der Tat bemerkenswert. Meine Erkenntnis auch aus den Debatten rund um Filesharing oder das moralisch untermauerte Recht auf Werbefinanzierung ist in erster Linie, dass wir diese Debatten die nächsten Jahre ohne nennenswerten Fortschritt weiterführen werden.
Der Grund ist so simpel wie erschütternd: Die Veränderungen gehen oft so tief, dass es selbst intelligenten Personen, die sich intensiv und offen damit auseinandersetzen, schwer fällt, den grundlegenden Umfang der Veränderungen zu erfassen (und mindestens ein Punkt dieser Charakterbeschreibung trifft nicht auf Neumann und Kilz zu, um die es in Niggermeiers Artikel geht). Wenn wir uns von Vorstellungen lösen müssen, mit denen wir aufgewachsen sind, dann ist das keine einfache Angelegenheit. Für viele scheint das unmöglich. Noch schwerer wird es, wenn man direkt in einer der betroffenen Branchen arbeitet, noch dazu auf der Seite, die zunächst erst einmal negativ beeinflusst ist.
Sich in absurde Argumentationen versteigen, ist leicht, wenn allen das Koordinatensystem fehlt und der Widerspruch eher zaghaft oder gar nicht kommt. (Die aktuellen Veränderungen sind im Grunde der Lackmustest für Intellektuelle. Wer kann sich zurecht finden, wenn er sich nicht mehr so sehr wie sonst mittlerweile üblich auf andere berufen kann und für sich selbst denken und praktisch alles Erlernte hinterfragen muss? In Deutschland praktisch niemand, der Feuilletons füllen darf. In den USA gibt es mit Shirky, Benkler, Thompson etc. allerdings auch nicht sonderlich viele.)
Stefan Niggemeier:
Aber wenn es ums Internet geht, lässt man den Leuten das durchgehen, dass sie das Medium mit dem Genre verwechseln.
Es ist intellektuell faul, sich die Prämissen passend zur eigenen Argumentation zu basteln, aber es ist eben auch einfacher, vor allem in Zeiten des Wandels (tm).
Das ist alles keine Entschuldigung für fehlende Selbstreflektion und, gelinde ausgedrückt, widersinnige Argumentationen. Aber es deutet darauf hin, dass wir zumindest weiter so lang Absurditäten zum Thema Internet auch und vor allem von Personen in gehobenen Positionen erleben werden, bis die Zahlen und Fakten aus der Realität erdrückend werden und nicht mehr ignoriert werden können. (Und selbst dann ist nicht gesagt, ob eine Änderung bei der Haltung von Personen eintritt, die in einer nichtdigitalen Welt aufgewachsen sind und ihr dort erlerntes Koordinatensystem stur weiter anwenden wollen.)
Strukturwandel ist ein leicht dahin gesagtes Wort, dessen Implikationen nach wie vor nur wenigen klar sind. Das gilt leider auch für viele deutsche "Internet-Experten".
Strukturwandel bedeutet Wandel. Von Strukturen. Von Strukturen wie Presseverlagen oder Musiklabeln und unzähligen anderen Wirtschaftsstrukturen, die im industriellen Zeitalter gewachsen sind.
Die Erfolgsstrategien werden in den seltensten Fällen ein simples "mehr Qualität" und "1:1-Übersetzung des analogen Vorgehens" heißen, und nie "Wir müssen das Digitale ignorieren" oder "Wir müssen unseren Kunden zeigen, was Moral bedeutet.". Das sind alles mehr oder weniger argumentative Abkürzungen, die direkt in die Sackgasse führen.
Von einem ernsthaften öffentlichen Diskurs zu den Veränderungen sind wir allerdings in Deutschland auch 2010 noch Jahre entfernt.