5. Juni 2009 Lesezeit: 3 Min.

Geht sterben

Ich glaube ja mittlerweile, dass die wöchentlichen Hass-Tiraden in der ZEIT gegen das Internet analog zu den Bitchmemes in den USA (von mir jetzt) sogenannte Bitchrivvas sind. Ordentlich polemisch gehetzt, bekommt man seine Aufmerksamkeit im Netz von den Blogs und anderen Orten.

Deshalb auch keine Replik mehr von mir auf netzwertig.com zum aktuellen Artikel von Jens Jessen zum Internet (siehe meine Repliken auf Soboczynskis Artikel und Wefings Artikel, und Uehleckes Twitter-Artikel ), sondern hier ein paar kurze Worte zu Jessens Äußerungen:

Wer je nach Argumenten gegen die direkte Demokratie suchen wollte, im Netz würde er fündig.

Ich finde die pure Existenz, Erfolg und Einfluss der BILD ist ein weitaus besseres Argument gegen "direkte Demokratie". Aber ach, es ist Papier. (Und meine Meinung: Das alles muss eine Demokratie aushalten bzw. sie besteht daraus. Eine direktere Demokratie wäre trotz BILD und co. allemal besser als das aktuelle Hinterzimmer-Geklüngel, gegen das sich das Volk erst hinterher wehren kann.)

Was sagt es eigentlich über vermeintliche Demokraten aus, wenn sie, einmal mit dem gemeinen Volk konfrontiert, sofort Argumente gegen direkte Demokratie sehen? Bigotterie, anyone?

Demokratie ist gut und das Volk darf mitentscheiden, aber bitte nur solang es entscheidet und macht, was wir für richtig halten.

Es wird im Netz nicht gern gesehen, wenn Äußerungen qualifiziert oder gar nach Würde und Sachhaltigkeit des Argumentes in eine Hierarchie gebracht werden. Das Unterfutter der Netz-Utopie bildet offenbar ein tief empfundener Egalitarismus, der nicht duldet, dass es etwas anderes als Meinungen, womöglich sogar gültige Urteile geben kann.

Menschliches Wissen war schon immer im Fluss und nur sehr wenige Erkenntnisse gehören in Stein gemeißelt. Da das Internet keine abschließende Ausgabe wie bei Sachbüchern und Lexika kennt, ist der Fluss, die Veränderung besser abbildbar. Oder anders: Er ist zum ersten Mal überhaupt angemessen abbildbar.

Siehe als plastischstes Beispiel der jüngsten Zeit für die Veränderung von menschlichem Wissen die Debatte rund um Pluto, der aktuell kein Planet mehr ist.

Außerdem zur Thematik: David Weinbergers Das Ende der Schublade: Die Macht der neuen digitalen Unordnung

(Affiliatelink)

Weiter im Jessen-Text:

Hat man einmal die These vom demokratischen Charakter des Internets akzeptiert, liegt die pathetische Weiterung nicht fern, dass es sich bei den Manifestationen im Netz um einen authentischen Ausdruck des Volkes handelt, der nicht kritisiert werden kann, wenn man nicht in den Verdacht des Antidemokratischen, des Arroganten und Elitären geraten will. Dies jedenfalls wäre eine Erklärung für den wütenden Unmut, auf den unser Autor Adam Soboczynski stieß, als er die Intellektuellenfeindlichkeit des Netzes kritisierte

Nein. Jeder der ohne grundlegende Zusammenhänge verstanden zu haben, über etwas urteilt und gleichzeitig die Arroganz besitzt, sich selbst als Intellektuellen zu sehen (und damit als a priori der mit dem besseren Durchblick), zieht Wut auf sich. Das war schon immer so. Und das zu recht. (Siehe meine Auseinandersetzung mit Soboczynskis äußerst unsinnigen Artikel)

Aber nettes Weiterspinnen von Soboczynskis Kritikimmunisierung, Herr Jessen.

Indes stellt der Nichtwissende für das Gespräch im Netz eine folgenschwere Bedingung: dass es von Gleich zu Gleich geschehe, ja dass der Wissende sich peinlich darum zu bemühen habe, sein Wissen nicht zu zeigen, weil dies diskriminierend wirken könne.

Demagogischer Quark.

Diese Etikette, die verlangt, dass alle sich so dumm stellen müssen wie der dümmste Diskussionsteilnehmer, ist, vorsichtig gesagt, dem Aufbau einer Wissensgesellschaft nicht eben günstig.

Daraus folgende, unsinnige Schlusfolgerung.

Wer im Netz seinen Egalitarismus einklagt, ist aber die bildungsferne Mittelschicht. Die Pisa-Katastrophe, überall sonst beklagt, ist im Netz zur Norm erhoben worden. Die viel gerühmte Schwarm-Intelligenz erweist sich als Schwarm-Dummheit

Wikipedia. Ihr Zeuge.

Denn es ist kaum denkbar, dass ein wissbegieriger Einzelner sich gekränkt fühlte durch das Wissen, dass ihm jemand zugänglich macht.

Ha. Ich sehe hier gerade eine gesamte ZEIT-Redaktion, die von der Verfügbarmachung des Wissens online sich ziemlich gekränkt zu fühlen scheint.

Er kann sich nur geniert fühlen, wenn er argwöhnen muss, das ihm dabei jemand abschätzig zusieht. Die kollektive Aufsicht, die das Netz bei seinen immer öffentlichen Diskussionen herstellt, beweist hier ihre fatale Wirkung.

Wer die Hitze nicht erträgt, sollte nicht kochen.

Interessant und absurd ist natürlich die Weltsicht von Jessen, Soboczynski und co.: Eine demokratische Welt kann nur funktionieren, wenn institutionelle Schranken Bevölkerungsgruppen von einander abgrenzen. Werden diese durch ein Mehr an Kommunikation gesenkt, endet die Demokratie und unsere Kultur und generell alles Zivilisatorische. 'Lasst die Idioten nicht rein', sozusagen.

Die dahinterstehende, erschreckende Unwissenheit wird nur noch von der Arroganz der Autoren überboten.

Würde ich bei der ZEIT arbeiten, ich würde mich für jeden einzelnen dieser Artikel von Jessen, Wefing und Soboczynski in Grund und Boden schämen.

(Überschrift von Niggi geklaut)

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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