6. Dez. 2019 Lesezeit: 15 Min.

Into the darkness

„They paint the world full of shadows… and then tell their children to stay close to the light. Their light. Their reasons, their judgements. Because in the darkness, there be dragons. But it isn’t true. We can prove that it isn’t true. In the dark, there is discovery, there is possibility, there is freedom in the dark once someone has illuminated it.“

They paint their world full of shadows.. and then tell their children to stay close to the light.

Es ist in den letzten zwei, drei Jahren leicht geworden, nach hinten zu schauen und zu denken, schöner war's, damals. Einfacher, ruhiger. In Deutschland waren schon immer traditionell die Stimmen die lautesten, die "dem Internet" alles Schlechte zusprachen. Es macht den Journalismus kaputt, es macht die Musikbranche kaputt, Bücher, kaputt, die gesamte Kulturindustrie und mit ihr unser Verständnis von Kultur, alles kaputt, alles am Abgrund. Unsere einzige Rettung ist Abstinenz, ist Ignoranz, wie wir große Denker im Land der Denker und des Offlines es euch vorleben. Für die Feuilletons dieses Landes war "das Internet" lange gleichzeitig der Untergang des Abendlandes und ein Trend, der jetzt bald vorbeigeht. Letzteres schreiben selbst die größten Digital-Diät-Verfechter nicht mehr oder zumindest nicht mehr so direkt. Dafür hat sich ein Pessimismus bei denen ausgebreitet, die früher kopfschüttelnd auf die Internet-Rants in der Massenmedien schauten.

Vor ziemlich genau 13 Jahren habe ich hier begonnen, über die auf uns zukommenden großen Umbrüche in Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft zu schreiben. Heute sind sie da, diese Umbrüche, schneller als die meisten (mich eingeschlossen) dachten.

Wir haben die Geschwindigkeit, mit der die tiefgreifenden Veränderungen kommen, kollektiv unterschätzt. Dank verschiedener Gründe, auf die ich hier jetzt später nur kurz eingehen kann, die aber langjährigen neunetz.com-Lesern bekannt sind (Skaleneffekte, Netzwerkeffekte, branchenübergreifende Interdependenzen), werden die nächsten 15 Jahre sehr viel turbulenter werden als es die letzten 15 gewesen sind. Und trotzdem unterschätzt. Wie können wir uns da auf die nahe Zukunft vorbereiten?

Man muss auch ernst nehmen, was man selbst den lieben, langen Tag sagt: Als ich vor über 13 Jahren anfing, auf neunetz.com über die Auswirkungen und Dynamiken der Digitalisierung zu schreiben, war mir und anderen längst klar, dass die gesellschaftliche Tragweite des Internets mindestens auf einer Stufe mit der Industrialisierung steht. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Alles ändert sich. Nicht sofort, nicht heute, nicht morgen, aber letztendlich. Schön und gut.

Their light. Their reasons, their judgements.

Es hat eine Weile gedauert, aber die Industrialisierung hat zu Faschismus und zwei Weltkriegen geführt. Gleichzeitig, auch wenn man das in linken Kreisen nicht gern hört, haben Industrialisierung und unsere (soziale) Marktwirtschaft zu einem historisch sehr hohen heutigen Lebensstandard geführt. Wir sind reicher und leben länger als Könige vergangener Zeiten. Here's the thing: Turbulente Zeiten können nicht harmonisch sein. Es ist fast schon abgedroschen, diesen chinesischen Fluch zu zitieren, aber auf gewisse Weise bin ich an dieser Stelle dazu vertraglich verpflichtet: 'Mögest du in interessanten Zeiten leben.'

Das Internet stellt die industrielle Weltordnung auf den Kopf. Es schafft neue Unternehmen, neue Unternehmensarten und neue Branchen, neue Arten von Öffentlichkeit und neue Arten des kollektiven Handelns. Es schafft, kurz gesagt, Raum für größeres gesellschaftliches Potenzial.

Diese Veränderung ist:

  • amoralisch; sie kann zu Gutem und zu Schlechtem führen. Und das macht sie, und zwar gleichzeitig.
  • unaufhaltsam.

Digitale Filterblasen werden überschätzt, massenmediale Filterblasen ausgeblendet. Massenmedien waren und sind das schlimmere Übel aufgrund ihrer geringeren Durchlässigkeit und ihrer Vereinigung von Erzeuger und Versender. (Online ist eine Website der Erzeuger und Facebook beispielsweise der Versender. Facebook kann das Newsfeed-Ranking der Website verringern oder verstärken; das ist organisatorisch getrennt von dem, was die Website-Macher wollen, auch wenn es dank der dadurch entstehenden Anreize zu negativen Folgen kommen kann und kommt. Facebook bestimmt das "Gesamtbild". Bild und Fox News dagegen etwa stellen das Gesamtbild für ihr jeweiliges Publikum allein her. (Besonders Boulevardmedien werden von ihrem Stammpublikum tendenziell eher exklusiv konsumiert.))

Der entscheidende Unterschied zwischen digitalen Filterblasen und massenmedialen Filterblasen liegt in ihrer Tiefe, was sie gewissermaßen als Phänomen sichtbarer macht:  Weil der Aufwand, andere mit gleichen Interessen oder Gesinnungen zu finden, online massiv gesunken ist, ja oft überhaupt erstmals möglich geworden ist, gibt es sehr viel mehr "Blasen".

Das Massenmedium auf der anderen Seite versucht den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine größtmögliche Zielgruppe zu finden. Das schränkt natürlich die Vielfalt der Stimmen, Diskurse und Inhalte ein. Die vernetzte Öffentlichkeit online stellt dagegen eine Explosion der Stimmen und Perspektiven dar. Auch das wiederum hat nicht nur positive sondern auch negative Folgen, aber es ist das Gegenteil von einer Isolierung, einer Einengung, wie es der Verweis auf die neuen "Filterblasen" suggeriert.

Es ist ein anschauliches Beispiel für die oft verzerrte Wahrnehmung komplexer Entwicklungen.

Because in the darkness, there be dragons.

Es gehört zu unserer Zeit, dass der Umbruch von der industriellen Informationsökonomie zur vernetzten Informationsökonomie immer anhand des Vergleichs zwischen vorher und nachher durchgespielt wird. Das Vorher übernimmt in der massenmedialen Öffentlichkeit -Print, TV, Hörfunk und ihre Onlineableger- dabei die Stimme, die unvoreingenommen, objektiv und nüchtern nicht müde wird, darauf zu pochen, die bessere, ja, die einzig wahre Öffentlichkeit zu sein.

Wie dem auch sei. 'Schlimmer' als jede "Fake News" wirkt der Verlust der großen, uns alle einenden Narration. Der Spielraum der öffentlich debattierten Positionen war bei einer Handvoll TV-Sendern, einer Handvoll Tageszeitungen und zweieinhalb 'Volksparteien' extrem schmal. Er ist jetzt sehr viel größer geworden. Das hat Auswirkungen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, und zwar ohne zu behaupten, dass unsere einzige Lösung in Tageszeitung und TV-Sender liegt, weil diese zufällig, aber das hat natürlich gar nichts damit zu tun, unser Gehalt bezahlen.

Sprich also, es braucht Stimmen, die berichten, was sie in der Dunkelheit sehen, wenn sie hineinleuchten. Denn Drachen gibt es nicht. Unsere Gesellschaft ändert sich radikal. Aber es ist nicht das Ende des Abendlandes. Noch nicht zumindest.

2012 schrieb ich in "The Wire, Institutionen und das 21. Jahrhundert":

Es ist vielleicht ein glücklicher Zufall, dass zur gleichen Zeit, in der die Finanzkrise die globale Wirtschaft erschüttert und nicht loslassen will, Amazon, Facebook, Wikipedia und Tausende andere große und kleine Unternehmen, Projekte und Netzwerke Menschen zusammenbringen und die alten Wege hinterfragen, nach denen Gesellschaft und Wirtschaft organisiert waren.

Egal ob man The Wire oder der Wall Street zuschaut, die Erkenntnis dürfte ähnlich sein: Das Internet konnte nicht früh genug kommen.

Das 21. Jahrhundert wird die Epoche, in der sich entscheidet, ob wir das industrielle, im Nachhinein sicher als sehr unmenschlich wahrgenommene, Zeitalter hinter uns lassen und uns etwas besseres bauen können oder ob es uns geordnet in den zivilisatorischen Untergang führen wird.

Zufälle haben die besondere Eigenschaft, zufällig zu sein. Während man darüber streiten kann, wie viel Facebook und co. zu Brexit und Trump beigetragen haben1, lässt sich eins nicht leugnen: Sie haben bis jetzt auch nicht geholfen, beides zu verhindern.2 Oder, zumindest, sie haben beides nicht verhindert.

"There are decades where nothing happens; and there are weeks where decades happen.", soll Lenin gesagt haben. Das spielt auf die bolschewistische Revolution an, lässt sich aber auch auf unsere Zeit übersetzen. Manchmal passieren Dinge schneller, sehr viel schneller.

Ich sehe uns vor so einer Zeit stehen. Die in ein paar Tagen beginnenden Zwanziger des 21. Jahrhunderts werden sehr turbulent werden, weil noch rasantere Dynamiken auf veraltete und damit schwerfällige Institutionen treffen. (Die letzten zehn Jahre haben die Grundlagen dafür geschaffen: AWS und co. auf der Server-/Anbieterseite, Smartphones bei der gesamten Bevölkerung, Distributionsgrundlagen bei Facebook, Google und Amazon, und jetzt weitere beginnende Flexibilisierungen bei wichtigen Funktionen wie zum Beispiel der Logistik. Alles Dinge, die wie Legosteine von neuen Playern kombiniert werden können.)

Ein erstaunlicherweise nicht weit verbreitetes Wissen ist die Tatsache, dass Organisationen altern. Unternehmen können zwar im Gegensatz zu uns Menschen theoretisch 'unsterblich' sein, in der Praxis sind Unternehmen sehr rar, die auf eine ähnlich lange Geschäftsdauer kommen wie die heutige durchschnittliche Lebensdauer in Deutschland. Unternehmen sind fragil und verschwinden schnell wieder. Es ist ein konstantes Massaker da draußen. Wie dem auch sei, wenn Organisationen älter werden, kodifizieren sie das, was ursprünglich für ihren Erfolg verantwortlich war. Das Problem ist nur, dass der Kontext, in dem sie sich bewegen, "der Markt", die Gesellschaft, sich ändert. Selbst wenn dieser unumstößliche Fakt der Veränderung nicht zutreffen würde, dann ist die Kodifizierung selbst, dieses Festschreiben, trotzdem ein Problem.

Organisationen, Unternehmen, aber ebenso Behörden oder auch Parteien, altern. Diese alternden Institutionen, die viele noch immer ohne sich dessen bewusst zu sein, für unsterblich halten, treffen jetzt auf ein neues Ökosystem - und interagieren damit.

Das 21. Jahrhundert wird von drei fundamentalen Umständen definiert:

  1. Die Digitalisierung der Gesellschaft
  2. Die alternden Institutionen der industriellen, vordigitalen Gesellschaft
  3. Der Klimawandel

Es wird viel über (1.) gesprochen, und das auch zu recht. Seit spätestens 2018 reden wir auch zunehmend angemessen (aber bei weitem noch nicht ausreichend genug) über (3.). Was aber oft übersehen wird, ist (2.). Die Altlasten der Industrialisierung.

Das ist nicht überraschend. Es ist leicht, den kleinen E-Scooter am Wegesrand ärgerlich wahrzunehmen und die, wortwörtlich, Millionen überall geparkten Tonnen Stahl auszublenden, schlicht, weil letztere schon immer da waren. Was schon immer -also, sagen wir, ungefähr seit mindestens der eigenen Kindheit- da war, definiert die Normalität. All diese Dinge genießen die Bequemlichkeit des Nichthinterfragtwerdens. Man stelle sich vor, eine reine Onlinepublikation würde so arbeiten wie die BILD. (Es gibt solche Onlinepublikationen auch auf deutsch. Warum sind sie weniger angesehen als das Axel-Springer-Blatt? Die Antwort liegt nicht nur in der Reichweite sondern auch im Alter.) Man stelle sich vor, Facebook wie wir es heute kennen und bewerten, würde es so seit 50 Jahren geben. Man stelle sich vor, E-Scooter-Startups hätten Regularien so mit Ingeneurskunst umschifft wie die deutschen Automobilhersteller. Und die deutsche Politik hätte ihnen ebenso beigestanden mit sanftem Fingerschenk.

Das alles ist nicht wertend gemeint. Aber es ist doch, so betrachtet, zumindest interessant, wie unterschiedlich die Reaktionen der unterschiedlichen Öffentlichkeiten ausfallen, je nachdem wie alt oder jung ein Unternehmen, eine Branche, ein Ansatz ist.

Das hat leider auch den unschönen Nebeneffekt, dass die negativen Folgen des Handelns der -nennen wir sie der Einfachheit halber- Etablierten immer strukturell unterrepräsentiert sind.

Es sind die verkrusteten, dysfunktionalen Strukturen des industriellen Zeitalters in Wirtschaft, Politik und Verwaltung, die heute das Potenzial unserer Gesellschaft abstecken.

2010 schrieb ich über eine Aussage von Clay Shirky. Shirky: „Institutionen werden versuchen, die Probleme zu erhalten, für die sie die Lösung sind.“:

Institutionen versuchen immer, das Problem zu erhalten, zu dem sie die Lösung sind, denn ohne das Problem braucht man die Lösung nicht mehr. Für Unternehmen bedeutet das: Was für Aussenstehende die Problemlösung ist, ist für das Unternehmen das Geschäftsmodell.

Allgemeiner gesprochen: Was für Aussenstehende das Problem ist, ist für die gealterte Organisation ihre Daseinsberechtigung. Eine Lösung dieses Problems nimmt der Organisation ihre Daseinsberechtigung. Niemand beteiligt sich gern daran, den eigenen Job aufzulösen.

Automatisierung, AI, Verbrenner vs. Elektroautos, autonome Autos, Plattformprovider als neue Verteilungszentren aller Branchen. Diese und andere digitale Themen bringen mit ihren Umbrüchen auch die Auflösungen jahrzehntealter Probleme. Sie bringen auch neue Herausforderungen. Aber sie lösen eben auch auf. Eine Gesellschaft, eine Wirtschaft, ein Unternehmen, eine Institution welcher Art auch immer, die sich dem verschließt, wird irgendwann zurückfallen.

Wir leben, ob wir es wollen oder nicht, in einer globalen vernetzten Welt. Wer nur nach der Maxime des Protektionismus des Bestehenden handelt, verbaut sich selbst die Zukunft. Vor dieser Gefahr stehen Europa und Deutschland. Wir sehen das aktuell nicht nur an der deutschen Verbrennertragödie sondern erleben es selbst sehr deutlich bereits am katastrophal schwachen Breitbandausbau in Deutschland, der längst ein größer werdendes Problem für unsere Wirtschaft und Gesellschaft darstellt.

But it isn’t true. We can prove that it isn’t true. In the dark, there is discovery, there is possibility, there is freedom in the dark once someone has illuminated it.

The arc of the moral universe is long, but it bends toward justice. - Theodore Parker
The arc of the universe may bend toward justice, but it doesn’t bend on its own. -Barack Obama

Das Eingangszitat am Anfang dieses Textes stammt aus der Serie Black Sails. Eine okaye bis gute, aber auch nicht großartige Serie über Piraten.3 Es hätte sich auch ein ein Zitat aus"The Knick" angeboten:

"Wir leben in einer Epoche unbegrenzter Möglichkeiten," sagt der Chirurg Dr. John W. Thackery in seiner Trauerrede für seinen Kollegen und Vorgesetzten: "Wir haben in den letzten fünf Jahren mehr über den menschlichen Körper erfahren als in den vergangenen 500 Jahren. Vor 20 Jahren war 39 unser erwartetes Lebensalter, heute sind es mehr als 47."

Die sehr sehenswerte, leider aber nur kurzlebige Arztserie The Knick spielt um 1900. Es ist eine Zeit, in der Ärzte sehr schnell sehr viel über den menschlichen Körper lernen. Medizin macht einen großen Sprung nach vorn. Gleichzeitig machen die Ärzte, die plötzlich auch mit Maschinen an Menschen experimentieren können, schreckliche Fehler. Operationen gehen schief. Menschen leiden auf fürchterliche Weise. Eine Folge aber davon ist, dass die damaligen Ärzte schnell dazulernten. Die Sprünge in der Medizin waren enorm. Für heute geborene Babies beträgt die Lebenserwartung in Deutschland durchschnittlich 83 Jahre für Mädchen und 78 Jahre für Jungen. Wie geht man mit diesen historischen Zusammenhängen um?

Das Internet bringt Chaos dahin, wo die letzten Jahrzehnte relative Stabilität herrschte; nicht weil alles gut war, aber weil mangels Alternativen das, was da war, Bestand hatte. Jetzt verschwindet diese Stabilität und macht Platz für beunruhigende Volatilität. Es sind heute Dinge in Bewegung, die vor kurzem noch als universale Konstanten maximal nur als Kulisse wahrgenommen wurden. Langfristig wird das Internet unsere Gesellschaft besser stellen. Aber die Zeitperiode dazwischen könnte sehr schmerzhaft werden.

Ein Framework der vernetzten Gesellschaft

Langfristig wird das Internet unsere Gesellschaft besser stellen? Ernsthaft? Fake News, Trump, Faschisten? 4Chan, Alt-Right? Srsly? Ja.

Um etwas -ein Produkt, eine Organisationsform, eine Gesellschaftsordnung, ein Internet- sinnvoll einzuordnen, zu analysieren, vergleiche man diese Sache nicht mit einer rein theoretischen Utopie sondern mit den realen Alternativen.

Dieser Text ist bereits viel zu lang und unlesbar geworden, um hier ausführlich noch alle Frameworks, Grundsatzgedanken und Prämissen detailliert darzulegen, mit denen ich seit über 10 Jahren arbeite und die Welt betrachte. Deshalb hier nur kurz und vielleicht ein anderes Mal ausführlicher:

  • Die erste Frage, die man für sich selbst beantworten muss, ist: Habe ich ein positives oder ein negatives Menschenbild? Es lässt sich ein wenig auch so formulieren: Wird die Mehrheit der Menschen in der Mehrheit der Fälle sich dafür entscheiden, sich ohne Rücksicht auf die Folgen egoistisch oder nicht-egoistisch zu verhalten? (Letzteres muss nicht altruistisch bedeuten.) Es geht hier nicht darum, die Gesamtheit der Philosophie auf einen einzelnen Stichpunkt in einem viel zu langen Blogpost runterzubrechen. Es geht eher um die sehr schwammige Fragestellung, was man seinen Mitmenschen zutraut. Für mich lautet die Antwort, dass ich in der Mehrheit der Menschen mehrheitlich Gutes sehe. Das schließt nicht Schlechtes aus, nicht Nazis und Psychopathen, es schließt nicht erfolgreiche Manipulationen im großen Stil und Genozide aus. Es ist eher: Was traut man der Menschheit als Ganzes zu.
  • Noam Chomsky schreibt in "Media Control" über die Verachtung, die öffentliche Intellektuellen oft gegenüber dem Rest des Volkes an den Tag legen. Man konnte das und kann das beispielsweise beobachten, wenn in deutschen Feuilletons über vernetzte Öffentlichkeiten geschrieben wird. "If they try to participate in managing their own affairs, they‘re just going to cause trouble." fasst Chomsky diese Sichtweise an einer Stelle zusammen. Wer so denkt, denkt bei Demokratie vor allem an ihre Grenzen, und wie man diese Grenzen aufrechterhalten kann, und beim Internet vor allem an Chaos, das aufgeräumt werden muss. Der Ausgangspunkt für diese Sichtweise liegt in einem negativen Menschenbild. Wer ein positives Menschenbild hat, denkt bei Demokratie oder Internet eher über gesellschaftliches Potenzial nach.
  • Clay Shirky hat einmal sehr treffend festgehalten, dass Generationen nicht quasi per Geburtsdatum Charaktereigenschaften mit auf den Weg bekommen. Wir sehen vielmehr Generationen von Menschen, die sich als Gruppe sichtbar unterschiedlich verhalten, weil sich ihre Lebensumstände merklich von denen anderer Generationen unterscheiden. Die heutigen jungen Menschen sind also zum Beispiel nicht narzisstischer als frühere Generationen, weil sie ein Selfie-Meer auf Instagram und Snapchat produzieren. Vielmehr sind die Smartphone-Kameras und die heutigen Social Networks neue Ausdrucksmöglichkeiten, die eben neue Verhaltensmuster, oder zumindest alte Verhaltensmuster in völlig neuem Ausmaß, ermöglichen. Speaking of Narzissmus: Als die Generation der Baby Boomer alt genug war, um erfolgreich Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen, nahm die Frequenz des kleinen Wörtchens "Ich" in zumindest US-amerikanischen Büchern erheblich zu. Auch das ist nicht verwunderlich: Baby Boomer waren Zeit ihres Lebens die zahlenmäßig größte Generation, weshalb sich übermäßig viel um sie dreht(e). Es ist nur eine logische Folge, dass diese ältere Generation sich für den Nabel der Welt hält und sich dieser Annahme nicht einmal bewusst ist.4  Sprich also: Wir werden von unserer Umgebung geprägt, sowohl individuell als auch als Gesellschaft und aus diesen gemeinsamen Lebensumständen entstehen Generationenunterschiede.5
  • Das Internet formt unseren heutigen Alltag. Deshalb kommt der Architektur des Internets und der Architektur der Dienste eine, sagen wir mal, erhebliche Bedeutung zu, die kaum überschätzt werden kann. Dazu zählt die Verantwortung der Unternehmen genau so wie die Verantwortung der Politik, angemessene Rahmenbedingungen zu setzen.
  • "Das Internet" ist dabei als Zentrum von allem unausweichlich: Radikal gesunkene Transaktionskosten führten und führen nicht nur zu einem unsichtbaren6 aber massiven Wohlfahrtszuwachs sondern auch zu einer "besseren" weil, mir fällt dafür kein besseres Wort ein, effizienteren gesellschaftlicheren Kooperation. Sehr allgemein gesprochen, macht das Internet es schlicht viel einfacher "sich zu finden"; egal, ob es dabei um Geschäftspartner, Anbieter und Kunden, Künstler, Klimaaktivisten oder Nazis geht. Oder umgedreht: Ohne das Internet wird‘s umständlich.
  • Eine Stufe über der allgemeinen Internetinfrastruktur (oder, präziser, als Manifestationen dieses eben genannten, erst einmal nur theoretischen Potenzials) sitzen die Plattformen, die dieses Sich-finden zu ihrem Hauptzweck gemacht haben. Die Matchmaker, die die neue wirtschaftliche Macht darstellen, von Facebook bis Amazon Marktplatz. Ich habe einiges davon früh antizipiert, siehe etwa "Markt vs. Hierarchie" von 2008, und beschäftige mich deshalb seit weit über 10 Jahren mit dem extrem wichtigen Plattform-Thema.
  • Plattformen stellen dank der Formbarkeit von Software, (oft global oder zumindest komplett geschäftsfeldweit realisierbaren) Skaleneffekten dank Netzwerkeffekten und vernachlässigbar kleinen Grenzkosten und einer ausreichenden Allgegenwart des Internetzugangs für alle Branchen die überlegene Allokationsart dar. Logischerweise nicht immer auf allen Wertschöpfungsebenen. Aber jede Branche trifft es an einer Stelle, und viele Branchen gleich an mehreren Stellen.
  • Diese digitale Allokation ist der industriellen Informationsökonomie überlegen.
  • Das heißt aber nicht, dass wir jetzt in einer real existierenden Utopie leben, wir wir alle nur zu gut wissen. Wir haben nun neue Herausforderungen. Technologie ist amoralisch und ermöglicht deshalb Dinge unabhängig davon, wie wir diese bewerten.
  • Hinzu kommt, dass reale Manifestationen nicht sofort automatisch ihre jeweilige Idealform darstellen. Erst recht nicht, wenn sie zu den ersten ihrer Gattung gehören. Facebook ist nicht das bestmögliche Social Network. Instagram, Twitter und TikTok sind es auch nicht. Wir stehen bei all dem erst am Anfang. Kevin Kelly hat einmal gesagt, dass alles, was wir heute im Internet sehen, Prototypen sind. Das trifft es recht gut. Man übersieht leicht, wie früh wir uns noch in der Entwicklung dieser neuen Gesellschaftsform befinden.
  • Damit sich das alles weiterentwickelt, braucht es Wettbewerb. Das heißt, regulatorisch muss immer der Anbieter von morgen mitgedacht werden. Es muss gleichzeitig auch dringend über ein neues regulatorisches Paradigma für Plattformen nachgedacht werden, das nicht Zerschlagung bedeutet. Denn Zerschlagung in Märkten mit natürlichen Netzwerkeffekten ist Sisyphusarbeit. Gleichzeitig aber muss die enorme wirtschaftliche Macht, welche die Plattformprovider erlangen, zwingend gelenkt und beschränkt werden.
  • Ich betrachte die Formbarkeit von Software seit nun mittlerweile 8 Jahren mit der Brille des Jobs-to-be-done-Frameworks. In meinen Augen macht diese Verbindung das enorme Umbruchspotenzial sichtbar, das auf uns zukommt, weil man so zur Essenz vordringt. Ferngespräche wurden von Facebook und WhatsApp abgelöst, Autos werden von unter anderem E-Scootern, Smartphones und Uber abgelöst. Aberaberaber. Eben.
  • Yochai Benkler beschrieb in The Wealth of Networks die zwei gesellschaftlichen Produktionsmodi in der industriellen Ökonomie -privatwirtschaftlich und staatlich organisiert- und stellte diesen den erst durch den Überfluss im Internet (Shirky: Cognitive Surplus) möglich gewordenen, neuen Modus gegenüber: Die Commons-based Peer Production, oder auf deutsch, da geht‘s wieder schön leicht über die Zunge: Allmendefertigung durch Gleichberechtigte (siehe passenderweise dazu Wikipedia)7. Ich bin noch immer überzeugt, dass The Wealth of Networks ebenso wie das Buch von Adam Smith, das Benkler im Titel seines Buches referenziert, in einigen Jahrzehnten als epochales Werk betrachtet werden wird.8 Benkler legt in seinem Buch nicht nur die enormen gesellschaftlichen Potenziale dar, sondern auch den Kampf zwischen diesem neuen Modus und den alten, noch halbwegs etablierten privatwirtschaftlichen Vertretern der industriellen Informationsökonomie, denn diese zwei Modi sind zum Teil schlicht nicht kompatibel. Am deutlichsten sieht man das am Urheberrecht.
  • Das Internet selbst ist unausweichlich, aber nicht alle Aspekte der vernetzten Informationsökonomie sind unausweichlich. In den nächsten Jahren wird die Politik regulatorische Weichen stellen, die die nächsten Jahrzehnte bestimmen werden. Entweder das Internet ermöglicht neues, oder es reproduziert mehr oder weniger nur das, was davor kam, jetzt nur eben in schönen, wenn auch überladenen Pixeln.
  • Es liegt an uns, jetzt, mitzugestalten, was es werden soll. Dafür müssen wir aus vielen Richtungen über möglichst alle Aspekte sprechen.

Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, was meine Arbeit auszeichnet und wie ich meinen Ansatz beschreiben würde, und damit vor allem aber auch, welchen Anspruch ich an mich selbst habe. Vielleicht irritiert es, vielleicht klingt es arrogant, ich weiß es nicht, aber ich kann meinen Anspruch an mich selbst nur so zusammenfassen: Ich möchte rückblickend richtig gelegen haben. Meine Analysen haben nicht zuvorderst das Ziel, möglichst viele Leser oder Hörer zu finden -zumindest nicht an erster Stelle, besser wär‘s natürlich schon-, sondern eben richtig zu liegen. Das heißt manchmal auch, Aussagen zu machen, die überhaupt nicht in den Zeitgeist passen. Aber so ist das dann eben. Wo immer möglich,9 möchte ich der Wahrheit möglichst nahe kommen.

In the dark, there is discovery, there is possibility, there is freedom in the dark once someone has illuminated it.

Into the darkness

Alle diese Themen werden hier künftig weiterhin beleuchtet werden. Weiter öffentlich im Blog und in den Podcasts als auch im neuen Nexus-Bereich für Mitglieder.

Von Ende 2015 bis Anfang 2018 habe ich als Senior Strategy Analyst für die K5 GmbH (u.a. Exciting Commerce, K5-Konferenz) gearbeitet.  Nach diesem kurzen Ausflug in die Festanstellung bin ich seit mittlerweile Anfang 2018 wieder selbständig, wie ich seinerzeit bereits im neunetzcast 68 anmerkte. Hier kommt nun die eigentliche, wichtige Neuerung. Die größte Neuerung für neunetz.com seit Erfindung des Rades. Heute ist der Anfang von neunetz.com Nexus. Nexus ist ein neuer Bereich, der  künftig dabei helfen soll, besser informiert zu sein. Mit Newsletter, tieferen Analysen, Forum und mehr. Blog und bestehende Podcasts bleiben unangetastet. Sie werden mit Nexus finanziell unterstützt und können dadurch inhaltlich ausgebaut werden. neunetz.com und neunetz.fm werden so als Orte für wichtige öffentliche Stimmen unterstützt. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Öffentlichkeit mit einer größeren Vielzahl unabhängiger Stimmen besser wird. In Deutschland gibt es noch zu wenige unabhängige professionelle Stimmen in der Öffentlichkeit. Mit Nexus wird neunetz.com finanziell neu und nachhaltiger aufgestellt. So dass auch hier künftig mehr möglich wird.

Mehr zu den Überlegungen und den Angeboten für Nexus-Mitglieder in den nächsten Beiträgen.

Bringen wir gemeinsam Licht ins Dunkel.


  1. Ich würde sagen, weniger als gemeinhin angenommen; es wird zu wenig das nach wie vor bestehende massenmediale System (und dessen Verfall) -und die Wechselbeziehung zwischen social und mass media- mitgedacht. An späterer Stelle einmal mehr dazu.
  2. Sowohl Brexit als auch Trump sehe ich als negative Entwicklungen. Come on.
  3. Piraten you say? Mit der Piraten-Bezeichnung könnte man doch-never mind.
  4. OK, I dare you to @ me, Boomer. Aber im Ernst: Natürlich treffen allgemeine Aussagen nicht auf alle Menschen einer Generation zu. Das sollte eigentlich gesunder Menschenverstand gebieten, aber ich schreibe es hier doch noch einmal explizit hin, weil es immer zu irrigen Annahmen kommt. Es sind verallgemeinernde Aussagen über einen Großteil der Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren wurden. Und auch diese Aussagen können natürlich hart daneben liegen, besonders wenn eine Generation herabschauend über eine andere urteilt. Millenials könnten darüber ein Musical singen, wenn sie wüssten was Musicals sind. (Ich bin ‘79 geboren und damit knapp an der Millennial-Kohorte vorbeigeschrammt.)
  5. Deshalb sehen Boomer beim Klimawandel ein politisches Thema der grünen Hippies, das maximal Lippenbekenntnisse und faule Kompromisse erfordert, damit diese Hippies wieder ruhig sind, und Millennials eine vor der Tür stehende Klimakatastrophe, die mit allen Mitteln aufgehalten werden muss, damit sie noch irgendeine lebenswerte Zukunft haben. (Und natürlich hat nur einer davon recht, nicht both sides. Und recht hat die Generation, auf deren Seite auch alle Klimaforscher, unabhängig vom Alter, stehen.)
  6. Wir haben einen immensen Wohlfahrtszuwachs in den letzten 15 Jahren durch das Internet erfahren, welcher sich beispielsweise gar nicht im Bruttosozialprodukt widerspiegelt. (Für Endnutzer kostenlose Dienste wie Google, Wikipedia, YouTube oder auch eBay Kleinanzeigen werden etwa schlicht nicht erfasst. Und das sind nur die offensichtlichsten großen Unsichtbaren.)
  7. Ich habe es immer mit allmendebasierte Peerproduktion übersetzt. Auch nicht unbedingt besser.
  8. Es bleibt ein Mysterium, warum linke Parteien, denen sichtbar eine gesellschaftliche Vision für die Zukunft fehlt, hier nicht längt begeistert zugegriffen haben.
  9. Besonders wenn es um gesellschaftliche Themen geht, gibt es natürlich oft nicht die eine Wahrheit. Das heißt aber nicht, dass man nicht trotzdem möglichst konstant die eigenen Prämissen hinterfragen kann und sollte. Letztlich läuft es im Leben immer darauf hinaus, zu wie viel Selbstreflexion wir in der Lage sind. Daraus leitet sich alles ab: Grad der persönlichen Weiterentwicklung, Empathie, ideologische Verbrämtheit, Seelenfrieden. Es ist ein Spektrum.
Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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