23. Juli 2015 Lesezeit: 4 Min.

Ist Jet.com ein erfolgversprechender Amazon-Herausforderer?

Ist Jet.com ein erfolgversprechender Amazon-Herausforderer?

Was ist Jet.com?

Jet.com ist der große, mit viel Risikokapital, 220 Mio. $ vor dem Launch, ausgestattete neue Onlinehandelsansatz, der in den USA den Onlineriesen Amazon herausfordern soll.

jet.com

Alexander Graf auf Kassenzone über Jet.com:

In der Internetworld wird das Modell heute kurz erklärt. Jet.com ist eine Art Marktplatz mit Eintrittsgebühr (50$ im Jahr) der auf jegliche Handelsspanne verzichten will und alle Kickback Einnahmen (Affiliate Guthaben….) direkt den Kunden zuschreibt. Ok, ich schreibe hier mal “laut” mit:

Jet.com gewinnt Kunden mit dem Versprechen, dass man dort Produkte zum niedrigsten Preis kaufen kann und presst bei weiterem Wachstum so viel Handelsmarge wie möglich aus dem System, so dass strategisch weder für Hersteller, noch für Händler Sinn macht Produkte an/über Jet.com zu liefern. Für Kunden macht der Kauf solange Sinn wie das enorme Funding der Plattform in die Subventionierung des Angebotes gesteckt werden. Eine echte Kundenbindung gibt es nicht. (Die Jahresgebühr bindet mE nicht). Gut, eine ähnliche Strategie hatte Amazon auch – aber die haben das schon vor 20 Jahren gemacht und hatten keine bösartigen Wettbewerber, wie z.B. Amazon :-). Gedankliches Zwischenfazit: WTF

Jet.com ist interessant. Ich sehe es nicht so skeptisch wie Graf aus verschiedenen Gründen.

Alles im Fluß

Der Vergleich von Jochen Krisch und Alexander Graf (und Investoren) mit Costco ist naheliegend. Mitgliedergebühr, günstige Preise. Ende der Geschichte. Nun ist das aber nur die Launch-Inkarnation von Jet.com.

Ich habe mir über die Jahre der Marktbeobachtung abgewöhnt, (Tech-)Unternehmen als feste Gebilde mit fester Ausrichtung zu betrachten; was leichter gesagt als getan ist. Je länger der Betrachtungszeitraum, desto wahrscheinlicher ist die gedankliche Schublade zu eng. Besonders (aber nicht nur) im digitalen Sektor zeichnen sich erfolgreiche Angebote dadurch aus, dass sie sich im Zeitverlauf konzeptionell weiterentwickeln.

Amazon ist kein reiner Buchverkäufer mehr, Google keine reine Suchmaschine und Facebook mehr als ein Social Network und Apple mehr als ein Computerhersteller. Und Uber war nie nur als reiner Taxi-Konkurrent gedacht.

Angebote nicht als stehendes sondern als fließendes Gewässer betrachten: Den Zeitverlauf, also den Betrachtungshorizont und die unwiderrufliche Veränderung, zumindest als (strategisch wichtiges) Potenzial immer mitdenken, ist enorm wichtig.

Kein Produkt ist so anpassbar wie Software, und daraus folgend Websites, Apps, Services; auch von Onlinehändlern.

Jet.com einordnen

Diese Betrachtungsweise ist auch hilfreich, um zum Beispiel Jet.com einzuordnen.

  1. Wenn wir einen Vergleich brauchen, dann würde ich Jet.com nicht als ein neues Costco sondern eher als ein von Amazon entbündeltes Prime betrachten.
  2. Heißt also: 50$ Mitgliedsgebühr pro Jahr. Was kann man damit machen? Zunächst erst einmal niedrige Preise, weil man nicht auf die Handelsmarge angewiesen ist. Es lässt sich datengetrieben mit bereits stattfindenden Warenkorb-Optimierungen arbeiten. Prime zeigt aber auch, was noch geht: Musikstreaming, Filmstreaming, schnelle/bequeme Lieferung. Ein attraktives, im wahrsten Sinne des Wortes unvergleichliches (also unvergleichbares) Angebot.
  3. Ein von Amazon entbündeltes Prime könnte all das beispielsweise in weiten Teilen über Partnerschaften abdecken: Musikstreaming mit einem speziellen (quersubventionierten) Deal mit Rdio, Deezer oder Rhapsody, also Second-Tier-Streaminganbietern. TV mit Hulu, HBO oder Showtime, Lieferungen mit Shyp und co.
  4. Bandbreite der Preismodelle: All das kann je nach Partnerschaft im Grundangebot enthalten sein oder zusätzlich gegen eine geringere Monatsgebühr für Jet.com-Mitglieder angeboten werden. Jet.com-Mitglieder zahlen nur die Hälfte oder ein Drittel des normalen Preises für HBO Now zum Beispiel. Oder Jet.com bietet Mitgliedern ein zusätzliches Entertainment-Bündel an: Film-& Musikstreaming für die ganze Familie von vom Kunden ausgewählten Anbietern für zusätzliche 10$ im Monat. Eine ausreichende Zahl an Partnerschaften vorausgesetzt, kann Jet.com zum einen sehr attraktiv für Kunden werden, weil sich die Mitgliedsgebühr mit vergünstigten Flatrates wegkalkulieren lässt, und gleichzeitig auf der anderen Seite ein wichtiger Distributionskanal für andere Anbieter werden. (Witzigerweise wäre die Jet.com-Mitgliedsgebühr auf dieser Seite wieder ein Argument gegen die Angst vor Selbstkannibalisierung.)
  5. Es gibt hier, das dürfte nach (3) und (4) deutlich geworden sein, zumindest das Potenzial für sehr viele Experimente beim Geschäftsmodell. Das digitale Gesamtökosystem ist weit genug, um in die Hände von Jet.com zu spielen.

Diese Potenziale sprechen für Jet.com, nicht zuletzt weil es dank des vielen Risikokapitals auch ein bisschen Spielraum bekommt, diese anzugehen. (Für die für Jet.com notwendigen Größenordnungen braucht es allerdings sehr viel mehr Risikokapital.)

Was gegen Jet.com spricht:

Die von Alexander Graf angesprochenen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen die AGBs der Anbieter verstoßende Nutzung von Affiliategebühren, die dem Kunden als Preisnachlass zugeschrieben werden, deuten auf ein großes Problem für Jet.com hin:

Amazon ist nicht der fette Mittelsmann, dem man einfach nur die Marge wegkürzen muss.

Amazon arbeitet selbst preisfixiert und mit geringen Gewinnmargen. Da bleibt für einen Herausforderer wie Jet.com nicht viel Handlungsspielraum, um nicht nur niedrigere sondern, für das Modell wichtig, spürbar niedrigere Preise anbieten zu können. Entsprechend verzweifelt ist die Affiliate-Strategie.

Letztlich könnte das auch darauf hindeuten, dass Jet.com sich nicht zu stark über seine Position zu Amazon definieren sollte.

(Eine auch unabhängig von der konkreten Situation sinnvolle Überlegung. Man darf Amazon nicht ignorieren, aber man darf sich auch nicht hundertprozentig über einen Konkurrenten, Amazon oder ein anderes Unternehmen, definieren.)

Auf jeden Fall sollte Jet.com bald von der reinen Preisfixierung -siehe auch Grafs Argumente- weggehen und mehr mit den Bündelmöglichkeiten à la Prime spielen. Das macht die Kundenansprache weniger einfach. ("Die günstigsten Preise!" vs. "Schaut mal, was ihr hier alles für 50$ pro Jahr bekommen könnt.") Aber das erscheint mir notwendig, weil der niedrige Preis allein an keiner Front reichen wird.

(Vernachlässigbar bei der Betrachtung erscheinen mir dagegen die zum Teil hohen Anfangsverluste pro Bestellung bei Jet.com, wenn man es als Kunde darauf anlegt. Das ist mehr oder weniger eine reine Herausforderung der Umsetzung, die man ohne konkrete Einblicke in die Prozesse nicht sinnvoll beurteilen kann. Tendenziell würde ich mir aber erst Sorgen machen, wenn das nach einem Jahr, und nicht nur direkt nach dem Start, immer noch beobachtbar ist.)

Fazit

Das alles bringt uns zu dem Blick, unter dem man Angebote wie Jet.com (und alle anderen Startups) bewerten kann: Nicht nach dem Zustand, in dem sie starten, sondern anhand der Geschwindigkeit, in der sie sich weiterentwickeln und auf die Herausforderungen des Marktes reagieren, lassen sich Unternehmen einschätzen.

Die Frage ist also: Was wird uns Jet.com in den nächsten 12 Monaten präsentieren?

Erst die Antwort auf diese Frage wird uns bei der Beantwortung der Frage in der Überschrift weiterhelfen.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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