21. Nov. 2018 Lesezeit: 6 Min.

Otherwise Network: Warum es einen neuen interdisziplinären Thinktank in Deutschland zu den digitalen Themen unserer Zeit braucht

Otherwise Network: Warum es einen neuen interdisziplinären Thinktank in Deutschland zu den digitalen Themen unserer Zeit braucht
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Warum wir ein Netzwerk zum interdisziplinären Nachdenken über digitale Themen gegründet haben.

Am Anfang war es am Rand

Als neunetz.com 2006 an den Start ging, war die Ansicht noch Mainstream, das Internet wäre nur ein Trend der wieder vorüberginge. In Deutschland hat sich diese irrige Annahme bis weit in die 2010er Jahre gehalten. Noch während des Snowden-Skandals konnte man etwa in der Zeit lesen, dass eine Internet-Diät vielleicht die Lösung wäre, einfach mal nur Email und sonst nichts und wenn man sich privat unterhalten möchte, gehe man doch am besten in den Wald. Realitätsferne gehört zur Internetberichterstattung in Deutschland dazu. Heutzutage manifestiert sie sich etwa in Form von Spiegel-Titelstories über Smartphone-Nutzung.

Wer dagegen mit beiden Beinen in der Realität steht, hat vor langer Zeit realisiert, dass das Internet einen großen gesellschaftlichen Umbruch darstellt. Spätestens seit Brexit und Trump, die beide (irrigerweise meiner Ansicht nach) oft vollständig 'dem Internet' und, vor allem, Social Media zugeschrieben werden, spricht niemand mehr vom Internet als Trend. Stattdessen ist 'das Internet' jetzt da und geht nicht mehr weg, und es ist Grund allen Übels. (Man könnte hier fast ein Muster der Technologiekritik erkennen.)

Der große Umbruch

Rückblickend lässt sich allerdings etwas Interesssantes festhalten. Nicht wenige Experten (und ich zähle mich persönlich explizit dazu) haben zwar früh erkannt, dass die Auswirkungen des Internets auf die Gesellschaft auf einer Stufe mit denen der Industrialisierung liegen, aber zu wenig darüber nachgedacht, was in großem Ausmaß wann wie kommen könnte. Kaum jemand hat die nächsten Schlussfolgerungen daraus gezogen. Eine Folge der Industrialisierung etwa war der Aufstieg des Faschismus und des Kommunismus. Zwei brutale Systeme, die jedes für sich Millionen Menschenleben gekostet haben. Steht uns jetzt Vergleichbares bevor?

Wir haben kostbare Zeit damit verbracht, darüber zu reden, ob das Internet nun für Gesellschaft und Wirtschaft wichtig sein könnte oder nicht. (Während  gleichzeitig Amazon, Google und Facebook zu riesigen globalen Konzernen heranwuchsen..) Und zu wenig Zeit damit, was eigentlich gerade passiert und was als nächstes kommen könnte. Diese Zeit ist zum Glück vorbei.

An ihre Stelle ist allerdings ein kollektives Augenreiben allerorts getreten. Manche Veränderungen lassen auf sich warten, während andere Veränderungen sehr viel schneller und bizarrer ihren Weg nehmen, als man es sich hätte vorstellen können.

Digitale Wirtschaft im Kontext erfassen

Ich verfolge bei neunetz.com und meiner Arbeit den Grundsatz, die Veränderungen und neuen Dynamiken in der Wirtschaft möglichst tiefgehend aber auch möglichst branchenübergreifend zu erfassen. (Das ist ein Spagat, der natürlich ein ständiges Abwägen bedeutet. Wie alles im Leben. Es ist auch ein bisschen nervenaufreibend aber whatyagonnado.) Denn man kann etwa die Umbrüche im Handel nicht vollständig erfassen, wenn man die Veränderungen bei mobilen Apps, Social Media, Werbung und Transportbranche nicht mitdenkt. Man kann den Medienwandel, der die klassischen Medien erfasst hat, nicht komplett erfassen ohne 4chan, Trollkultur, Social Media und die Wechselbeziehung zwischen Internetkultur und algorithmische Distribution der Kleinteile mitzudenken. Das kommt oben drauf auf die Erlösmodellfrage, die  durch den Wegfall von Transaktionskosten an vielen Stellen zur Debatte steht. Man kann Politik heute nicht mehr ohne das eben angerissene Medienchaos denken. Man kann die Zukunft der Automobilbranche nicht denken, ohne Dynamiken von Softwareplattformen zu verstehen, ohne zu wissen was Uber, Apple und Google vorhaben könnten. Man kann die Zukunft des Handels nicht denken ohne die Zukunft des Autos mitzudenken und man kann die Zukunft des Autos nicht denken ohne die Zukunft des Handels mitzudenken.

Was passiert gerade? Wie reden wir darüber?

Wie oben angedeutet, hatte ich in den letzten Jahren eine Erkenntnis, die mich persönlich überrascht hat. Obwohl ich in den Debatten in Deutschland, an denen ich beteiligt war, oft der, sagen wir, progressivste Kopf war -also derjenige, der neuen Technologien früher als andere Relevanz zugesprochen hat und die Geschwindigkeit der Verbreitung und des Umbruchs höher als andere eingeschätzt hat-, war ich in den letzten Jahren immer wieder überrascht davon, wie schnell und zum Teil weitreichend manche Dinge voranschritten. Wie konnte ich zu den progressivsten Köpfen zählen und die Entwicklung und ihre Geschwindigkeit trotzdem unterschätzen?

Ein Grund dafür ist die Schieflage in der massenmedialen Öffentlichkeit. Ein unsichtbarer Aspekt bei der Betrachtung des Systemumbruchs, dessen Zeuge wir gerade werden, ist die simple Tatsache, dass alle Transportwege, über die wir uns als Gesellschaft austauschen, von diesem Wandel betroffen sind: Von den klassischen Massenmedien von Print bis TV bis hin zur Buchbranche - nichts bleibt unberührt. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die gesellschaftlichen Vorgänge in dieser Öffentlichkeit systemisch unterschätzt werden.

Eine realistischere Sichtweise bedeutet für einen Presseverlag, einen Buchverlag, einen TV-Sender, ein Film-Studio, einen Radiosender immer auch einen weiteren Schritt Richtung Infragestellung der eigenen Existenzgrundlage (oder zumindest der eigenen fundamentalen Grundlagen wie Prozesse, Arbeitsergebnisse). 'Realistischere' -mir fällt gerade kein besseres Wort ein- Einschätzungen lagen deshalb automatisch am Rand und fanden nur punktuell Eingang; was zumindest für mich persönlich die Folge hatte, dass ich meine Positionen und Rückschlüsse noch stärker hinterfragte. Diskursive Osmose.

Dieser Hang zum vorvernetzten Zeitalter, dem Zeitalter ihrer Entstehung, gilt natürlich nicht nur für Medien. Ähnliches kann man bei akademischen Institutionen und politischen Parteien und ihren Stiftungen beobachten. Für Unternehmen vieler Branchen gilt es sowieso schon länger. (Wirtschaft ist grausamer.)

Alles schwimmt.

Wo ist der Kompass?

Und wenn alles schwimmt, alles in Bewegung ist, dann geht es auch, zwingend, an die Substanz. An die Grundlagen, die Säulen, die vorher unsichtbar weil unantastbar waren. Wir Netflix- und Youtube-Schauer können uns ein Ende des klassischen TVs vorstellen, aber können wir uns auch das Ende der in Parteien organisierten Politik vorstellen? Was ist mit Nationalstaaten? Nationalstaaten könnten am rasant wachsenden Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land zerbersten. Werden internetgetriebene Dynamiken diese Entwicklung unter'm Strich beschleunigen, aufhalten, verlangsamen?

Als Gesellschaft müssen wir uns mehr als jemals zuvor darüber austauschen, was passiert, wo es sich hinentwickelt, was wir beeinflussen können und wollen, und was nicht. Die sozialen Folgen  einer Verbreitung des Internet in der gesamten Gesellschaft haben bereits begonnen, die ersten Grundlagen zu erschüttern, und das obwohl wir noch immer in einer Zeit des 'Dazwischen' leben - die Systeme des vorvernetzten Zeitalters und des neuen vernetzten Zeitalters existieren aktuell parallel nebeneinander und befruchten und vergiften sich gegenseitig.

Es braucht mehr Stimmen. Es braucht mehr Institutionen, die anders aufgestellt sind. Und ja, es braucht neue Gefäße, die ihre Strukturen heute aufbauen können, ohne mitnehmen zu müssen, was als Prozess in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts Sinn ergeben hat.

Wenn man als Experte in seinem Themenfeld arbeiten will, muss man sich zwangsläufig auf feste Rahmenbedingungen außerhalb dieses Themenfelds verlassen, weil man nicht in allem Experte sein kann. Wenn sich alle gesellschaftlichen Felder langsam aber sicher verschieben, wird eine themenübergreifende Zusammenarbeit immer zwingender, wenn man mehr als das Gestern erfassen will. (Und selbst das kann heute schon eine Herausforderung sein.)

Es braucht vor allem auch Ansätze, die so viele Aspekte wie möglich, und also das ganze Ausmaß, zumindest versuchen zu erfassen. Nur so können wir in die Nähe eines Diskurses kommen, der vielfältiger und näher an der Realität ist. Und erst damit können wir uns als Gesellschaft für die Zukunft wappnen.

Es geht nur interdisziplinär.

Es geht nur interdisziplinär.

Es geht nur interdisziplinär. Oder wie es die anderen Gründungsmitglieder mit ihrem fancy Wortschatz formulierten: transdisziplinär.

Ich freue mich, unseren neuen transdisziplinären Thinktank Otherwise Network verkünden zu dürfen, zu dessen Gründung ich Teil des Vorstands bin:

Das Otherwise Network ist ein Netzwerk aus freien Theoretiker/innen, Praktiker/innen, Publizist/innen. Das Netzwerk ist ein Denkraum, der durch transdisziplinären Austausch neue Perspektiven, Fragen und Diskurse eröffnet. Wir entwickeln Konzepte und Formate, Publikationen und Veranstaltungen zu verschiedenen Schwerpunkten des technologischen Wandels.

Gründungsmitglieder Otherwise Network

Wir kühlen Cyber-Hypes runter und entschärfen Techno-Paniken. Wir gehen den Extra-Schritt der Analyse, um aus den Schlagzeilen die Luft rauszulassen.

Unsere Haltung zur technologischen Entwicklung ist unaufgeregt und kritisch aber gleichzeitig neugierig und vorsichtig optimistisch. Dass Technologie einen positiven Beitrag zu einem besseren Leben der Menschen leistet, ist kein Automatismus. Digitalisierung ist eine politische Praxis.

Jedes Gründungsmitglied hat einen anderen Hintergrund: Die Bandbreite reicht von Wirtschaftswissenschaft (hello) über Informatik, Kulturwissenschaft und Jura bis hin zur Medienforschung.

Dieser heterogene Hintergrund verleiht uns zum Start eine Sonderstellung, die wir hoffentlich in den kommenden Monaten und Jahren produktiv nutzen können.

Ich kann schon einmal verraten, dass die internen Diskussionen bereits sehr interessant sind.

Unsere Website: ownw.de
Twitter: @_ownw
Facebook: Otherwise Network
Auf der Kontakt-Seite kann man sich auch für unseren Newsletter eintragen.

Hier findet man unsere aktuelle Themen-Übersicht.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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