Amazon ist berühmt-berüchtigt dafür, nur relative "Kennzahlen" zu veröffentlichen. Das macht es ausgenommen schwer, vieles von dem, was Amazon macht, zu analysieren. Zahlen von Dritten, für zum Beispiel Prime-Abonnenten oder Prime-Video-Zuschauern, können immer nur Schätzungen sein.
Deshalb sind die internen Dokumente mit konkreten Zahlen zu Prime Video, die Reuters zugespielt wurden, umso spannender.
Warum es wichtig ist: Von allen Techgiganten ist Amazon das Unternehmen mit den weitreichendsten Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft. Amazons Ambitionen werden selbst heute noch von den meisten unterschätzt. (Weil Amazons Potenzial weit über das von zum Beispiel selbst Google hinausgeht.) Das wichtigste und für Konkurrenten gefährlichste Element von Amazon ist Amazon Prime. Dessen Bündelung lässt sich nur schwer etwas direkt entgegen setzen. Ein extrem wichtiger Teil des Prime-Bündels wiederum ist Prime Video, das Amazon hilft neue Prime-Abonnenten anzuziehen.
Ein Prime—Bündel
Ich habe 2015 eine viel beachtete Analyse über das Prime-Bündel auf dem mittlerweile eingestellten Early-Moves-Blog geschrieben. A Prime Bundle:
This means smaller online retailers are at an increasing disadvantage. They can’t simply offer the same convenience of fast shipping ‘+more’ because the cost structure for this is not easily replicable.
Going further, Amazon is capturing a potentially valuable customer group. (People who buy a lot of products online and value their time.) This can have severe implications for the online retail market in countries where Amazon Prime is becoming increasingly popular.
The flipside of this though is that Amazon Prime is clearly a strategy for attracting and capturing ‘whales’, customers who create a high amount of revenue. Amazon might miss opportunities for serving more ‘casual’ customers because its incentives are going more and more towards Prime and its ‘whales’.
Nevertheless, expect more bundle experiments from Amazon and other online retailers. There are profits and differentiation to gain.
Bereits 2015 gingen Analysten davon aus, dass Prime-Abonnenten in den USA im Schnitt 1.500$ pro Jahr auf Amazon ausgeben; im Gegensatz zu 625$ von Kunden ohne Prime. Das ist ein 2,4 facher Umsatz für Prime-Abonnenten. Da Prime-Kunden Amazon zur Default-Shoppingsuche machen und praktisch keine Preisvergleiche online mehr außerhalb von Amazon betreiben, dürfte sich auch der jährliche Gewinn pro Kunde spürbar (mehr als 2,4x) zwischen Prime und Nicht-Prime unterscheiden. (Prime hat viele weitere, indirekte Folgen, etwa für den Amazon-Marktplatz, auf die wir hier jetzt nicht näher eingehen können.)
Die Reuters-Zahlen zu Amazon Prime Video und der internen Kalkulation
Schauen wir uns die geleakten Video-Zahlen mal an. Reuters:
Amazon.com Inc’s top television shows drew more than 5 million people worldwide to its Prime shopping club by early 2017, according to company documents, revealing for the first time how the retailer’s bet on original video is paying off.
Amazons gesamtes US-Publikum für die Filme und Serien auf Prime beträgt 26 Millionen laut der Reuters-Zahlen.
Hier zwei Tweets zur Einordnung:
- Amazon's total audience for the entirety of Prime video is 26 million viewers, which is less than an average season 7 GoT episode
* “Amazon's U.S. audience for all video programming on Prime... was about 26 million customers... from late 2014 to early 2017.” That means the total Amazon viewership during a 2½-year period was less than that for ONE EPISODE of Friends in '95-'96.
Da ist also noch Luft nach oben. Aus Amazons Sicht: Enormes Potenzial. (Mehr dazu gleich unten.)
Analysten gehen davon aus, dass Amazons eigene Serien, Prime Originals, für ein Viertel aller neuen Prime-Abos verantwortlich sind. Das unterstreicht die strategische Bedeutung von Prime Video für das Prime-Bündel. Es rechtfertigt auch, zum Beispiel, dass Amazon dieses Jahr 5 Milliarden $ in Prime Video stecken wird, eine Zahl die in den kommenden Jahren eher steil ansteigen denn fallen wird:
> According to estimates from JPMorgan’s Doug Anmuth, Amazon is expected to invest approximately $5 billion in video content this year, with an emphasis on big-budget original shows and sports rights.
Weiter mit Reuters:
For example, the first season of the popular drama “The Man in the High Castle,” an alternate history depicting Germany as the victor of World War Two, had 8 million U.S. viewers as of early 2017, according to the documents. The program cost $72 million in production and marketing and attracted 1.15 million new subscribers worldwide based on Amazon’s accounting, the documents showed.
Amazon calculated that the show drew new Prime members at an average cost of $63 per subscriber. [...]
a person familiar with its strategy said the company credits a specific show for luring someone to start or extend a Prime subscription if that program is the first one a customer streams after signing up. That metric, referenced throughout the documents, is known as a “first stream.”
The company then calculates how expensive the viewer was to acquire by dividing the show’s costs by the number of first streams it had. The lower that figure, the better.
Hier ist einiges bei der Analyse von Reuters schief gegangen.
Wie Amazon die eigenen Serien tatsächlich einordnet und kalkuliert
Der Reihe nach:
- First Stream bei Neuabonnenten ist eine extrem wichtige Kennzahl, um das eine (Amazon-Serie) irgendwie mit dem anderen (Neuabonnenten) verbinden zu können. Aber das ist nicht, wie Amazon den Return of Investment (ROI) für die eigenen Serien berechnet. Es ist nur ein wichtiger Teil davon.
Implizit hat Reuters hier das TV-Streaming bewertet wie man lineares TV bewerten würde.
Spannend ist beim TV-Streaming aber der Backkatalog und die sich daraus ergebende Kostenstruktur:
- Je länger "The Man in the High Castle" in der Videobibliothek von Amazon liegt, desto mehr Kunden schauen es und also auf desto mehr Kunden verteilen sich die zurückliegenden (hohen) Produktionskosten. Die customer acquisition costs (CAC) für Prime über diese Serie sind also nicht abgeschlossen, sondern sinken kontinuierlich weiter.
- Desweiteren helfen populäre Amazon-Serien nicht nur bei der Neukundengewinnung, sondern auch beim Erhalt bestehender Stammkunden, also der Senkung der Churnrate. (Siehe: "Free trial convertion and renewal rates go up for people using Prime Video, Jeff Bezos said.") TV ist ein sehr wertvoller Teil des Primebündels. Im Vergleich: Mit 99$ pro Jahr ist Prime in den USA immer noch günstiger als der günstigste Netflix-Tarif. Hierzulande gilt mit 69€/Jahr das Gleiche im Vergleich mit Netflix.
- Je stärker die TV-Komponente, umso besser. Exklusive, gute, günstige Unterhaltung und "obendrein" schnelle kostenlose Lieferung. Der Onlinehandel mag es anders herum sein, also Prime synonym für schnelle, kostenlose Lieferung und Medien noch dazu. Aber eine wachsende Zahl der Prime-Kunden werden es so wahrnehmen: TV wie Netflix plus superschnelle, bequeme Lieferungen von Amazon. Die Kundensicht ist die entscheidende, alles andere ist Branchennebel.
- Diese Wahrnehmungsverschiebung von Prime bei den Abonnenten kommt Amazon sehr gelegen: Niemand, oder zumindest kaum jemand, hat Lust direkt für Lieferungen, egal wie schnell, zu bezahlen. Wächst allerdings der Videopart im Bild von Prime bei den Abonnenten, ändert sich auch deren mentale Kalkulation. Für Amazon heißt das, dass die Kosten ‚versteckt‘ weiter aufgeteilt werden können.
- Es gibt einen zusätzlichen Skaleneffekt (zusätzlich zur Kostenstruktur) bei der Videokomponente: Je besser dieser Unterhaltungspart wird, desto stärker wirkt die oben angesprochene Reduzierung der Churnrate. Sprich: Wenn Amazon irgendwann über das Jahr verteilt konstant exklusive hochwertige Inhalte veröffentlicht, wird es bestehenden Abonnenten immer schwerer fallen, zu gehen. Davon ist Prime Video noch weit entfernt, aber es bewegt sich langsam dahin. Auch hier wieder: Es helfen die bestehenden Backkataloge. (Wie etwa die ersten beiden Staffeln von "The Man in the High Castle", die nicht mehr weggehen.)
Nimmt man all das zusammen, dann erscheinen die 63$, die "The Man in the High Castle" aktuell für jeden Neuabonnenten noch gebraucht hat, extrem niedrig. Sie sind nur eine, weiter fallende Komponente. Und diese Komponente führt zu einem weiteren Haushalt, der über das Jahr verteilt das 2,4fache an Umsatz machen wird.
## Hits, Hits, Hits
Auf den ersten Blick also hohe CAC, die sich aber schnell relativieren. Gleichzeitig ist es nicht überraschend, dass Amazon seine Videostrategie Richtung Hits ausrichtet.
Hier die Zahlen für "The Grand Tour", die den Unterschied deutlich machen:
One big winner was the motoring series “The Grand Tour,” which stars the former presenters of BBC’s “Top Gear.” The show had more than 1.5 million first streams from Prime members worldwide, at a cost of $49 per subscriber in its first season.
Ich habe Ende letzten Jahres für das K5-Blog über den Strategieschwenk bei Prime Video hin zu Hits geschrieben und damals bereits vermutet, dass der Erfolg von "Top Gear" massgeblich dazu beigetragen hat.
Das sichtbarste Signal, neben direkten Äußerungen von Unternehmensvertretern, war natürlich Amazons Erwerb der Rechte für eine Serie im "Herr der Ringe"-Universum. Reuters:
In November, Amazon announced it will make a prequel to the fantasy hit “The Lord of the Rings.” The company had offered $250 million for the rights alone; production and marketing could raise costs to $500 million or more for two seasons, one of the people said.
Diese Zahlen ergeben nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass Amazon hofft "must see"-TV zu erschaffen und man hierfür die obigen Prime-Zahlen und -Dynamiken mitdenkt.
Im K5-Blog schrieb ich letztes Jahr:
Nur eine TV-Serie, so Price, die unter den fünf oder zehn aktuell populärsten Serien zählt, bewegt die Neuabonnenten-Nadel. Der Grund ist einfach: Popularität bedeutet Aufmerksamkeit und erzeugt bei vielen den Wunsch, dabei zu sein. Die Serie also auch selbst zu sehen. Eine Awards gewinnende Transparent-Serie erzeugt diesen Wunsch sicher auch aber nicht in dem Maße wie, sagen wir, ein Game of Thrones.
Deshalb setzt Amazon jetzt auf Hits statt Masse bei den Eigenproduktionen. Es geht nicht darum, allen Abonnenten jeden Tag frische TV-Unterhaltung bieten zu können. Es reicht wenn alle paar Monate ein Hit auf Amazon Video läuft, den man auf keinen Fall verpassen möchte. (Denn wenn der gemeine Prime-Abonnent gerade keine Amazon-Serien schaut, kann er/sie immer noch schnell geliefert einkaufen, Kindle-Bücher leihen, Musik streamen usw. usf.)
Das optimale Szenario für Amazon wären also zwei, drei große Hit-Serien, die man über das Jahr verteilt ausstrahlen kann. [...]
Man kann heute davon ausgehen, dass allein “The Grand Tour” sichtbar die Nadel für Amazon Prime bewegt hat.
Zählt man Man in the High Castle dazu, dürfte diese Aussage zutreffen. Viele, verschiedene Nischenserien allein scheint als Ansatz für Prime Video nicht ausreichend funktioniert zu haben. (Oder anders und positiver ausgedrückt: Das Potenzial bei internationalen Hits ist für Amazon um ein Vielfaches größer.)
Weiter:
Eine auf den westlichen Märkten erfolgreiche Serie mag auf den westlichen Märkten neue Abonnenten bringen. Aber für Amazon sind Investitionen in Serien, die in allen Märkten funktionieren, auf denen es Prime gibt, sinnvoller. Amazon wird also verstärkt in den Mainstream und wohl eher auch auf Nummer Sicher gehen.
Nicht nur auf der Nachfrageseite sondern auch auf der Kostenseite ergibt das für Amazon Sinn: TV-Produktionen zeichnen sich wie alle Medienproduktionen durch hohe Produktionskosten und vernachlässigbare variable Kosten aus. Auf je mehr Märkte Amazon seine Eigenproduktionen erfolgreich verteilen kann, umso mehr Kapital kann das Unternehmen nachhaltig in die Produktion stecken. (Was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Mainstream-Spektakels erhöht. Zumindest auf dem Papier.)
Deswegen sucht Amazon nun wortwörtlich “big shows that can make the biggest difference around the world”.
Dazu passt nicht nur "Herr der Ringe", sondern auch der Bieterwettkampf um Rechte an James Bond (das einzige internationale Film-Franchise, das noch nicht zu Disney gehört) und Sportrechte. Hier noch einmal der Nebensatz aus dem Mediapost-Artikel, den ich oben zitiert hatte: "[...]with an emphasis on big-budget original shows and sports rights."
Teure Prestige-Serien und Sportevents = Must-See-TV
Meine abschließenden Bemerkungen im K5-Blog:
Diesen strategischen Überlegungen folgend, kann man also davon ausgehen, dass Amazon:
– Künftig weniger Geld in ‚kleinere‘ Eigenproduktionen steckt.
– Sehr viel Geld in internationale Prestige-Franchises investiert, die auf Must-See-TV ausgelegt sind.
– Mehr Sport-Streaminglizenzen erwirbt. Auch und gerade in Märkten wie Deutschland. [...]
Die abschließende Frage lautet: Was ist die Antwort des Handels auf eine Welt, in welcher der Massenmarkt morgen dank Massenunterhaltung à la “Game of Thrones” mehrheitlich aus Prime-Haushalten bestehen wird?