6. März 2012 Lesezeit: 2 Min.

Zur Verniedlichungsform 'Netzgemeinde'

Sascha Lobo auf Spiegel Online:

Dass am Freitag vor den ACTA-Demos die Tagesschau vier Minuten lang als Aufmacher über dieses superkomplexe Thema berichtete, zeigt die Macht der Netzgemeinde, was Agenda-Setting angeht.

In diesem Satz zeigt sich die irreführende Schlussfolgerung aus dem Begriff "Netzgemeinde":  Eine einflussreiche, wenn auch schwer umreissbare, Gruppe schafft es, Themen mehr Gewicht zu geben als diesen eigentlich zusteht.

ACTA hat keine vier Minuten in der Tagesschau verdient? Internationale, in Hinterzimmern ausgehandelte Abkommen, die demokratischen Gesellschaften die Hände binden, um unsere Kultur in Geißelhaft nehmen zu können, werden nur in der Tagesschau verhandelt, wenn eine Lobby ihre eigenen Interessen vorantreibt?

In keinem Paralleluniversum könnten die Tagesschau-Journalisten auf die Idee kommen, dass das ein wichtiges Thema sein könnte? Vielleicht sagt das mehr über die wahrgenommene Qualität der Tagesschau aus. Und tatsächlich: Erst Demonstrationen bewegen die Tagesschau, ausführlich über ACTA zu berichten. Aber warum: Weil eine Lobby öffentlichen Druck aufbauen konnte?

Menschen haben ähnliche Ansichten, sie können sich besser über das Netz organisieren als jemals zuvor (Shirky: 'organizing without organizations') und je größer der gemeinsame Nenner, desto mehr Menschen nutzen die vorhandenen Tools, um organisiert zu agieren.

Wer regelmäßig im Netz unterwegs ist, zumindest latent an der Gesellschaft interessiert ist und erklärt bekommt, was es mit ACTA oder dem Presseleistungsschutzrecht auf sich hat, wird dagegen in welcher Art auch immer aktiv werden (bis hin zur Straße). Dazu muss man nicht auf Twitter sein, dazu muss man nicht (bewusst) Blogs lesen. Es reichen Facebook oder YouTube, um davon zu erfahren. Sind das dann alles Netzgemeindemitglieder?

Ich habe auf der ersten Anti-ACTA-Demo eine Rede zum Urheberrecht gehalten. Das ist mein gemeinsamer Nenner mit unter anderem netzpolitik.org. Ich halte auf der anderen Seite die dort oft vertretenen Ansichten zu Datenschutz und/oder Facebook für hanebüchen oder zumindest weltfremd. (Das gleiche gilt für den CCC.) Was bedeutet das dann? Bin ich jetzt im Postprivacy- oder im Wirtschaftsflügel der Netzgemeinde zu verorten?

Was ist mit den Jugendlichen auf den ACTA-Demos, die von ihren YouTube-Stars mobilisiert wurden? Diese Teenager sind nicht auf Twitter zu finden, dem vermeintlichen Rathaus der Netzgemeinde.

Es gibt so wenig eine Netzgemeinde, die als Lobby durch das Land marodiert, wie es eine Journalistengemeinde oder eine Grundrechtsverteidigergemeinde gibt. Wer heute von einer Netzgemeinde spricht, hätte in der DDR 1989 auch von einer Montagsgemeinde gesprochen.

Wer meint, dass 100 lautstarke Freaks an ihren Rechnern sitzen, die alles umsonst haben wollen (diese Definition von Netzgemeinde habe ich neulich gehört, und es dürfte das sein, was viele bei dem Begriff vor Augen haben), verschließt gekonnt die Augen vor der Entwicklung der letzten zehn Jahre.

Oder anders: Was müsste passieren, damit man nicht mehr von einer Netzgemeinde spricht? Gibt es eine Entwicklung, die dazu führen könnte, dass dieser Begriff nicht mehr passend verwendbar ist? Oder lässt sich dieser Begriff immer auf Menschen anwenden, die in welcher Form und bei welcher Unterthematik auch immer zum Internet über das Internet aktiv werden?

Der Begriff Netzgemeinde ist eine Verniedlichungsform, um neue Arten des Organisierens auf das Bild einer fest eingrenzbaren Organisation zu reduzieren, weil diese Organisierungsarten aktuell in westlichen Ländern vornehmlich dafür eingesetzt werden, die ihnen zugrundeliegenden Tools vor der (wahren oder vermeintlichen) Zerstörung zu bewahren.

Das ist das erste und das letzte, was ich zu diesem unsinnigen Begriff zu sagen habe, der genau nichts über die sich verändernde demokratische Partizipation aussagt.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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