Wenn wir mit kleinen Schritten beginnen wollen, dann wäre der erste, dass den Protagonisten der Abmahnindustrie ein Name gegeben und ihnen die Grundlagen ihres Handelns nicht nur juristisch, sondern auch moralisch streitig gemacht würde. Sie sind das, was die Steuereintreiber des Ancien Régime waren. Sie tauchen plötzlich auf und fordern Abgaben je nach Lust und Laune und wie es ihnen gefällt. [..] Was erwartet ein Autor, ein Sänger, ein Denker, wenn die erste Begegnung mit seinem Werk im Leben eines Menschen damit endet, dass er in seinen Sommerferien jobben musste, um 1200 Euro Strafe zu bezahlen?
Die Abmahnindustrie in Deutschland, die 2011 allein 190 Millionen Euro erwirtschaftete, ist sicher ein Grund, warum die Debatte sehr emotional geführt wird. Aber sie ist nicht der einzige. Der Jugendliche, der Musikalben illegal herunterlädt und auf Konzerte geht, weiß, dass er Geld für Musik ausgibt. Er sieht ein volles Kino, wenn er hingeht, und, mit etwas Glück oder wenn er Kinofan ist, erfährt er auch, dass "The Avengers" gerade neue Rekorde an der Kinokasse aufgestellt hat.
Gleichzeitig hört er Dieter Gorny und Sven Regener pathetisch davon reden, wie er der unmoralische Dieb ist, weil es ihnen schlecht geht. Er liest von vielen anderen, wie sie ihr Recht einfordern, ihn zu überwachen, damit sie Geld auf ihre präferierte Weise (Dateiverkauf, weil einem sonst nichts einfällt) verdienen können, und das geschichtsvergessen auf eine "historische Errungenschaft bürgerlicher Freiheit gegen feudale Abhängigkeit" fussen wollen.
Wer würde angesichts einer so weltfremden Haltung nicht emotional werden?
Der Jugendliche muss kein Verständnis von Ökonomie haben, um zu verstehen, dass hier eine Gruppe von Menschen
- vollkommen an seinem Alltag vorbeiargumentiert, der aus kostenlosen Downloads und Geld ausgeben besteht,
- eine Industrie aufgebaut hat, die ihn für sein tägliches Verhalten bestraft,
- diese Strafen noch weiter und weiter und weiter und weiter ausweiten will,
- und das für eine Tätigkeit, bei der er niemandem etwas wegnimmt, weil er etwas kopiert und nicht stiehlt, auch wenn ihm fälschlicherweise immer wieder versucht wird, letzteres einzutrichtern.
"Ich habe doch niemandem etwas weggenommen und es kostet auch niemandem etwas" ist die Umschreibung des Laien für die Grenzkostensituation bei Dateien. Denn die betragen bekanntlich null.
Und obwohl er dafür kein Verständnis von Ökonomie benötigt, ist er näher an der Realität als etwa die meisten FAZ-Redakteure.
Frank Schirrmacher schreibt davon, dass "die traditionelle Loyalität des Konsumenten zu seinem Produzenten in offenen Hass umgeschlagen" hat. Wie kommt er darauf? Weil er den Hass auf zum Beispiel Labels mit dem auf Musiker gleichsetzt.
Wer Musik etwa kostenlos herunterlädt und viel Geld für Konzerte und Festivals ausgibt, der hasst nicht die Bands, die er hören willen. Er hasst das Musiklabel, dass ihm sagt, er habe für das Album zu bezahlen, das ohne zusätzliche Kosten für alle Beteiligten heruntergeladen werden kann. Das Label, das ihn als Dieb beschimpft, wenn er das nicht bezahlen will, obwohl er viel Geld für die Musiker des Labels, also die Urheber, ausgibt; nur eben nicht über das Label. Oder er hasst das Filmstudio, dass ihm vor dem Film auf einer gekauften DVD davor warnt, ja nichts zu kopieren. Oder er hasst Disney, wo man für immer daran glauben wird, dass alberne Geschichten wie Camversionen den eigenen Filmen wie "The Avengers" schaden würden, was zu noch albernen Überwachungsszenarien bei Kinos geführt hat.
Es geht bei der Debatte nicht um ein "Ob" sondern ums "Wie". Das "Ob" ist ein Strohmannargument.
Leider ist der aktuelle Erkenntnisstand bei der FAZ, was Kultur im digitalen Zeitalter und Ökonomie betrifft, dass ohne Dateiverkauf kein Geld fließt und damit keine Arbeitsteilung möglich ist. Von dieser Prämisse kommt auch die Gleichsetzung zwischen Verwerter und Urheber und der vermeintlich am Dateiverkauf entzündete Hass. Herr Schirrmacher:
Vielleicht kann man damit aufhören, seine Zeit mit Trivialitäten zu vergeuden, und an ein paar Grundtatsachen erinnern. Die erste lautet: Der Künstler arbeitet für Geld. Die anderes behaupteten, waren leider in erster Linie die Künstler selbst. Es ist aber nicht wahr und im Übrigen auch nicht schlimm. Er arbeitet des weiteren, wie der hier unverzichtbare Peter Hacks notiert, „weil er das Ergebnis seiner Arbeit von der Welt gebraucht glaubt“. Übertragen auf heutige Verhältnisse heißt das eine Bezahlinhalte und das andere Reichweite.
Das stimmt nicht ganz. Das erste heißt eben nicht nur Bezahlinhalte. Das ist nur ein Weg von vielen, aber eben nicht der vielversprechendste.
Geld verdienen, dass heißt in einer Marktwirtschaft immer, egal ob Internet oder Vinyl, egal ob Buch oder Stahlträger, ein knappes Gut verkaufen, das nachgefragt wird. Eine simple Datei ist kein knappes Gut. Deshalb wird versucht, sie mit wertmindernden Eingriffen (DRM) künstlich zu verknappen und deshalb ist eine Abmahnindustrie entstanden.
Denn Filesharing ist konkurrierende Distribution für den Dateiverkäufer.
Für den Kreativschaffenden gibt es zwei Alternativen:
a.) Man akzeptiert, dass sich einem die eigenen Fans, Leser, Hörer und Konsumenten als Distributoren aufdrängen und nutzt die kostenlose Reichweite, um auf deren Basis mehr knappe Güter zu verkaufen. (-> neue Verwerter, und Mittelsmänner)
b.) Man will am Dateiverkauf festhalten und setzt alle Hebel in Bewegung, um das Internet hoffentlich so zu formen, dass man über diesen Weg auf die gehofften Gewinne kommt. (-> und bei der Verwertung bleibt alles beim Alten.)
Was ist zielführender? Was ist weniger gefährlich für die Gesellschaft? Oder ganz einfach: Was ist realistischer?
Und warum kann man nach über einem Jahrzehnt der Debatte sich nicht auf diese Trivialitäten einigen, die die erste Vorlesung im ersten Semester BWL nicht überschreiten? Weil die Angst vor Einkommensverlusten Rationalität und Einsicht bei vielen zu verunmöglichen scheinen. (Adam Soboczynski lobte erst vor wenigen Tagen in der ZEIT die Kompromisslosigkeit der erklärungsunterschreibenden Künstler.)
Das ist ihr gutes Recht. Aber wenn das Resultat daraus leichtfertig dahin geworfene Forderungen nach Überwachung und härteren Strafen sind, darf man sich nicht wundern, wenn die Antworten Hohn, Spott und Hass beinhalten.
Ich glaube, dass sich die aktuelle Debatte, die eher ein Streit ist, in diesen Tagen nicht vorwärts sondern rückwärts bewegt, was aber nicht an Piraten oder Twitterern oder Bloggern liegt, sondern an den Schreibern von Erklärungen und offenen Briefen und den Kampagnenjournalisten bei den Holtzbrinck-Publikationen Handelsblatt und ZEIT etwa, die allesamt auf eine erstaunlich arrogante wie ignorante Art eine eigentlich dringend notwendige Debatte lieber wieder im Keim erstickt sehen würden.
Zu guter letzt noch einmal Frank Schirrmacher in der FAS mit einem seiner Lösungsvorschläge:
Des Weiteren Druck auf die Industrie, dass sie komfortable Plattformen zum legalen Download bereitstellt und mit ihnen zu experimentieren beginnt. Überhaupt: den neuen Zustand anerkennen und verhindern, dass er zu einer Bezweiflung von Autoren und Kunst selber führt.
So gut gemeint dieser Vorschlag wie die anderen im Text auch ist: Das Innovators Dilemma einer Branche lässt sich nicht durch Aufrufe oder Druck von außen lösen. (Und auch nicht damit, dass sie mehr von dem machen soll, was sie schon macht.) In manchen Branchen reagieren Unternehmen besser als andere. Die Tonträgerindustrie sollte sich angesichts der aktuellen Bemühungen der Buchbranche etwa kollektiv in Grund und Boden schämen. Aber das ändert nichts daran, dass es Unternehmen in allen Branchen schmerzen wird, weil es neben Gewinnern überall Verlierer gibt und geben wird. Das ist das Wesen von Disruption. Daran ändert auch ein staatlich zugesichertes Monopolrecht nichts.
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Siehe zum Thema Urheberrecht auch die Übersichtsseite, auf der viele Aspekte beleuchtet, zusammengefasst und mit weiterführenden Links versehen sind.