Zu den gestrigen vollkommen an der Realität vorbeigehenden Expertenprognosen zum Deutschlandumsatz von Amazon legt Jochen Krisch auf Exciting Commerce noch einmal nach:
Wie lange wollte der Versandhandel nicht wahr haben, dass Versandhandel weitaus besser ohne Katalog funktioniert? Dank Amazon boomen die Märkte für Buch- und Medienangebote, während der traditionelle Buchhandel kollabiert. Die Musikmärkte boomen, während die Tonträgerindustrie darbt. All dies geben die verfügbaren Marktstatistiken nicht her. Da definiert man sich einfach einen „rückläufigen Markt“, und schon scheint die Welt wieder in Ordnung.
[..]
Die Marktzahlen richten sich immer an den traditionellen Märkten aus. Neue Marktteilnehmer werden nicht oder nur unzureichend erfasst. Amazon ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Ein Ebay fällt bis heute durch sämtliche Raster und taucht in seiner vollen Dimension in keiner Handelsstatistik auf, weil dies die Grenzen des (Einzel-)Handels sprengen würde.
Märkte reformieren und transformieren sich, und zwar anders als dies die etablierten Player (und ihre Fürsprecher) gerne hätten.
(Hervorhebung von mir)
Besonders erschreckend ist dabei nach wie vor der laxe Umgang mit Zahlen in vielen Publikationen, der auch im Bewusstsein so gehandhabt wird, weil konkrete Zahlen auf Leser wie harte Fakten wirken. Selbst wenn man Schätzung darüber schreibt.
Wie ich gestern bereits schrieb:
[Die] digitale Disruption führt dank ihrer branchenübergreifenden und somit umfassenden Konsequenzen, die über Jahrzehnte starre Beziehungen in Bewegung bringen, dazu, dass die öffentliche Debatte immer öfter einem Stochern im Nebel gleicht; und das im schlimmsten Fall von einigen Akteuren bewusst so initiiert.
Darüber hinaus gibt es auch methodische Probleme, die in der Öffentlichkeit dringend diskutiert werden müssen.
eBay kann nicht einfach dank seiner Dimension schlicht ausgeklammert werden, weil allein die Dimension bereits eben auch eine Aussage über eine tektonische Verschiebung in der gesamten Volkswirtschaft darstellen kann. Dieses Problem geht aber noch weiter. Wir haben in der volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung und damit politisch ein vor allem in Deutschland sich zunehmend sichtbar machendes Problem:
Die Wohlfahrtszuwächse der durch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gehenden Nutzung von Google, Facebook, Wikipedia und co. können aufgrund ihres Wesens nicht im Bruttoinlandsprodukt erfasst werden, weil sie spenden- oder werbefinanziert sind und damit kostenlos benutzt werden können. Weil wir nicht für die Wikipedia bezahlen müssen, was neben der P2P-Produktion der wichtigste Grund für ihre Bedeutung ist, findet die Wikipedia in der wirtschaftspolitischen Betrachtung nicht statt.
Die Folge: Die positiven gesamtgesellschaftlichen Folgen der Nutzung dieser Angebote wird nicht erfasst und deswegen auch nicht wahrgenommen. Stattdessen bekommen deutsche Unternehmen mit starker Lobbymacht, deren Anteil einen kleiner werdenden Bruchteil zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt beiträgt, ein exklusives Recht versprochen, zu dessen wichtigsten Nebeneffekten gehört, die Arbeit von Google über Facebook bis Wikipedia schwer bis unmöglich zu machen.
Im Mai letzten Jahres schrieb ich über diese Problematik:
Zusätzlich, weil keine direkten Geldflüsse zum Endnutzer existieren, wird der Wohlfahrtszuwachs von Wikipedia über Linux bis Google auch nicht im Bruttoinlandsprodukt sichtbar. Deswegen kommen die kulturkonservativen Kräfte von CDU bis Handelsblatt auch mit der Aussage durch, das Internet und seine Ökonomie würden nur zerstören ohne zu schaffen.
Wir stochern im Nebel und unsere blinden Flecke werden langsam aber sicher zu blinden Horizonten.
Fritz says
Ich weiß nicht, was du mit „Wohlfahrtszuwachs“ meinst.
Das wäre, falls das gemeint sein sollte, jedenfalls eine ganz neue Betrachtungsweise, das BIP um eine idelle Wohlfahrt von Gratisleistungen zu ergänzen wie Spazierengehen im Stadt-Wald oder gebührenfreies Privat-TV. Dass auf die Idee die Arbeitgeber noch nicht gekommen sind, ist geradezu verblüffend: „Liebe Arbeitnehmer, ihr habt weniger in der Lohntüte, das ist wahr. Deshalb könnt ihr eure Wohnungen nicht mehr richtig heozen und müsst am Urlaub sparen. Aber dafür kriegt ihr doch Google gratis, was wir für euch mit unseren Adwords-Kampagnen unterstützen! Und Wikipedia auch gratis! Und Facebook auch gratis! Und Zeitungen braucht ihr auch nicht mehr kaufen. Ihr seht selbst, eigentlich geht es euch besser als je zuvor.“
Es stimmt im übrigen nicht, dass Ebay nicht in den Rechnungen auftaucht. Abgesehen von den vielen professionellen Angeboten, wandert dort das Geld eben nur wie auf dem Flohmarkt von einem Konsumenten zum nächsten, ohne dass Ware neu produziert werden müsste, bis es irgendwo mehrwertsteuerpflichtig ausgegeben wird. Wobei Ebay einen kleinen Teil der Summe zu sich nach Amerika transferiert und damit die US-Handelsbilanz aufbessert.
Immerhin kann man sagen, dass der Druck auf die Preise für die Konsumenten eine schöne Sache ist – das geht dann in die Inflationsrechnung ein.
Du hast aber völlig Recht, dass die volkswirtschaftliche Auswirkung der Zunahme von E-Business ein hakeliges Gebiet ist. Die Effekt-Kaskaden dürften weder leicht einzuschätzen noch konkret leicht zu messen sein. Ob die Summe positiv oder negativ ist, kann man momentan noch nicht sagen. Immerhin ist möglich, dass wenn z.B. in Frankreich im vergangenen Jahr über 1000 Fabriken gechlossen wurden, dies auch mit dem deflationären Druck aus dem Netz zusammenhängen könnte. Auch in Italien ging die Industrieporduktion zuletzt um fast 8% p.a. zurück. Das kann damit zu tun haben, dass nicht jedes Unternehmen den Preisdruck durch höhere Produktivität bzw. Skaleneffekte auffangen kann.
TheEconomicScribbler says
Es eine der interessanteren Widersprüchlichkeiten der Wirtschaftswissenschaften, dass man zwar akzeptiert, dass das Ziel allen Wirtschaftens ist, Dinge fortlaufend effizienter und damit billiger herzustellen, man aber gleichzeitig den „Erfolg“ einer Nationalökonomie am steigenden BIP misst. Leider ist das BIP vergleichsweise einfach zu ermitteln, anders als sämtliche alternativ vorgeschlagene Maße für das Gesellschaftswohl, deshalb wird sich daran wohl sobald nichts ändern.