Carta berichtet davon, dass das WAZ-Onlineportal „DerWesten“ Anzeigentweets für seinen Twitter-Account verkaufen will (ein Tweet wurde bereits verkauft).
Carta zitiert die Mediadaten von DerWesten:
Laut eigenen Mediadaten kostet den Anzeigekunden diese Werbeform 390 € pro Tweet, beziehungsweise einen Tausenderkontaktpreis von 30 €.
Diese Rechnung ist problematisch. Der Tausenderkontaktpreis (TKP) bezieht sich nahezu auf die komplette Followerschaft. DerWesten hat 14.000 Follower. Bei 390€ und einem TKP von 30€ kommen wir auf 13.000 Follower als Reichweitenbasis. Es wurden also wohl mögliche Spam-Follower und Karteileichen bereits einbezogen. So weit, so gut. (Zumindest gehe ich davon aus. Kann auch sein, dass der Preis mit dem zugrundeliegenden TKP berechnet wurde, als DerWesten noch nur 13.000 Follower hatte, was durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Dann würde man frech einfach alle Zombieaccounts in die TKP-Basis hineinrechnen.)
Das Problem liegt allerdings in der Twitternutzung selbst. Der TKP unterstellt bei diesem Preis, dass die Tweet-Anzeige von 13.000 Personen gesehen wird. Das wird niemals der Fall sein. Denn fast nie liest jeder Follower jeden Tweet, den man absetzt. Die Twitternutzung basiert nicht darauf, dass die Nutzer jeden Tweet in ihrem Stream lesen, sondern dass sie in den Twitter-Stream hinein- und herausspringen, wenn es ihre Zeit erlaubt. Das merkt man unter anderem daran, dass Links, die nachts auf Twitter gepostet werden immer eine geringere Klickrate aufweisen, als tagsüber getweetete Links. Ein ähnlicher Unterschied besteht für Tweets an Werktagen (oft gelesen) und Wochenenden (weniger oft gelesen).
Das hat zur Folge, dass die nackten Follower-Zahlen sehr wenig über die eigentlichen Leserzahlen pro Tweet aussagen. Weniger als zum Beispiel die Feedabonnentenzahlen von Blogs, die auch bereits problematisch sind.
Basiert man den Werbepreis also auf den Followerzahlen, wird der so schon recht hoch angesetzte TKP in Realität noch höher, weil die Basis niedriger ist als angegeben.
Weitere Konsequenz: Ein gekaufter Tweet, der z.B. Samstag Nacht gepostet würde, wäre quasi rausgeworfenes Geld für den Werbekunden.
TKP war schon immer eine auf den ersten Blick einleuchtende, auf den zweiten Blick allerdings leicht manipulierbare Größe. Es ist hat einen guten Grund, warum Zeitungen zum Beispiel Fluggesellschaften mit kostenlosen Ausgaben versorgen: Die künstlich erhöhte Reichweite sorgt für höhere TKP-basierte Werbe-Einnahmen. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Online, wird oft argumentiert, könne das alles besser gemessen werden. Ohne ins Detail zu gehen: das ist nur bedingt richtig. In diesem konkreten Fall zeigt sich auf jeden Fall, dass man zunächst auf den ersten Blick glauben könnte, dass die reine Followerzahl eine recht gute Größe ist, um darauf TKP-basierte Werbepreise zu anzubieten. Problematisch ist dabei allerdings nur, dass man die eigentliche Nutzung komplett außer acht lässt (und den einfachen Fall ‚jeder Follower liest alles‘ annimmt).
Man kann den hohen Preis natürlich auch damit rechtfertigen, dass diejenigen, die man auf Twitter erreicht, besonders engagiert und interessiert sind. Immerhin wird in den Mediadaten von DerWesten von einer „außergewöhnlich responsestarke[n] Werbeform“ gesprochen.
Allerdings sollte man dann keine fragwürdigen TKP-Rechnungen aufstellen.
Ich glaube kaum, dass die Werbetreibenden davon ausgehen, alle Follower würden den gebuchten Tweet auch lesen. Genauso wenig wird jemand glauben, dass die traditionellen TKP-basierten Ads von allen Besuchern wahrgenommen werden.
Ein grundsätzliches Problem. TKP geht immer von dem Idealfall aus, dass alle Deine Werbung offensiv verschlingen. Beim Fernsehen und beim Radio stehst Du vor genau dem selben Problem, wie bei Twitter… Du kaufst ein stilisiertes Produkt – aber was Du bekommst, kann Dir keiner mit Bestimmtheit sagen. Das kannst Du als Kunde dann in den Abverkauf hineinorakeln.
ABER: gegenüber anderen Kanälen hat Twitter einen großen Vorteil. Die Nutzer sind spezieller als bei klassischen Massenmedien. Mir fallen auf Anhieb ein paar Produktgruppen ein, die bei Twitter wesentlich besser aufgehoben wären, als auf den altbekannten Großkanälen. Zum einen hat das was mit einer speziellen, technikaffinen, social-media-orientierten Nutzergruppe zu tun, die ich besonders bei Twitter finde – zum anderen ist das ne Preisfrage… wieso sollte ich bitteschön, 5 Millionen Nutzer bezahlen, wenn ich eigentlich nur die Social-Media-Menschen brauche. Stichwort: Streuverlust. Und genau den schätze ich bei Twitter geringer ein, als in Traditionsmedien – trotz toter Follower, Fake-Accounts und Pipapo.
Gerade bei Twitter und anderen Internetangeboten, bei denen man harte Zahlen hat, wer einen liest, followt etc. _und_ die Werbekunden oft noch keine Ahnung haben, wie diese Dienste eigentlich genutzt werden, kann ich mir gut vorstellen, dass die Berechnungsbasis da ernster genommen wird als etwa im Offline-Bereich. Aber auch im Offline-Bereich würde ich nicht sagen, dass jeder weiß, was für ein Schmarrn das manchmal ist.
Ja, Streuverlust kann geringer sein.
„Ein grundsätzliches Problem. TKP geht immer von dem Idealfall aus, dass alle Deine Werbung offensiv verschlingen. Beim Fernsehen und beim Radio stehst Du vor genau dem selben Problem, wie bei Twitter… Du kaufst ein stilisiertes Produkt – aber was Du bekommst, kann Dir keiner mit Bestimmtheit sagen. Das kannst Du als Kunde dann in den Abverkauf hineinorakeln.“
Yep, die Messbarkeit der kausalen Zusammenhänge wird nicht bei jeder Form von Online-Werbung besser.