Wir lebten, sagt Berardi, nicht einfach in einer „Aufmerksamkeitsökonomie“, die auf freier Wahl beruht. Als wären das Mitmachen bei Facebook und Twitter und das permanente digitale Erreichbarsein eine Sache der freien Wahl.
Aha.
Deutsche Facebooknutzer: 9,8 Mio. User
Deutsche Twitternutzer: 270.000 aktive deutschsprachige Twitternutzende
Deutsche Bevölkerung: 81,835 Mio. Einwohner
—
Natürlich ist Erreichbarsein und Anwesendsein auf Facebook, Twitter und co. eine freie Entscheidung. Natürlich ist es abhängig von der Berufswahl mal weniger, mal mehr von Vorteil, online aktiv zu sein. Und entsprechend kann ein äußerer Druck entstehen, der aber immer weit vom kompletten Fehlen einer freien Wahl entfernt ist. Und natürlich ist es eine Frage der eigenen Präferenzen, Stärken und Vorlieben, welchen Dienst man wie nutzt. Man kann auch zu den erfolgreichsten Bloggern hierzulande gehören, ohne Twitter zu nutzen. q.e.d.
Und natürlich ist es bewundernswert, wie man es bei der FAZ schafft, immer wieder von überall Texte mit teilweise grotesk überzogenen Aussagen zum Thema Internet heranzukarren. Der Versuch bei der FAZ, das Internet zu verstehen, ist löblich. Aber es ist eine beachtliche Leistung, das Web gleichzeitig zu unterschätzen und masslos zu überschätzen. (Vor ein paar Monaten twitterte ich: „Die FAZ. Noch immer nicht in der Lage, Links nach außen zu setzen. Aber hinter jeder Ecke Skynet vermuten.“)
Der Großteil von dem, was Lovink in seinem Text vorbringt, wurde von Shirky bereits intellektuell widerlegt oder zumindest untergraben. Lovink nennt Shirky und sein „Filterproblem“ und verwirft die Aussage sofort, ohne zu erklären warum. Man kann vermuten, dass Lovink Shirkys Aussage nicht gänzlich verstanden hat, wenn er anmerkt, dass es nicht ausreiche „das „Filterproblem“ (Clay Shirky) zu reparieren.“. Genau das fordert Lovink schließlich in seinem Text mit seinen verschiedenen Lösungsvorschlägen. (Vielleicht macht Lovink auch den Fehler, die Filtermetapher in ihrer gedachten Breite nicht zu erfassen.)
Aber warum schließt er sich Shirky dann nicht an? Clay Shirkys Aussage, dass die aktuelle Informationsflut nur ein Filterproblem und historisch nicht einmalig ist, impliziert letztlich auch, dass eine Lösung dafür nicht nur möglich ist, sondern unausweichlich kommen wird. Und zwar aus dem das Problem verursachenden System selbst; unterstützt von Markt und gesundem Menschenverstand.
Martin Lindner says
dass „eine lösung unausweichlich kommen“ wird, „unterstützt von Markt und gesundem Menschenverstand“, ist ein satz, dem ich spontan sofort widersprechen will. schon aus prinzip. und wenn ich mir den konkreten kontext überlege:
bezüglich des filterproblems hast du erst mal recht, und lovinks und berardis aussagen zum web zeugen nicht wirklich von sachkenntnis. aber ihnen geht es ja (wenn auch schlecht argumentiert) um ein größeres problem: das der vogelfreien informationsarbeiter, die die ganze komplexe kulturelle filterung alleine übernehmen müssen, die früher leistung des alten kultursystems war (im guten wie im schlechten).
das ist jedenfalls ein problem, das sicht von selbst und durch den markt löst, noch viel mehr übrigens für die mainstream-user, die nie virtuose selbstfilterer sein werden & trotzdem sich irgendwie in der Flat World behaupten müssen.
hackr says
der workflow wie die faz an die texte kommt wär wirklich interessant.
marcel weiss says
„aber ihnen geht es ja (wenn auch schlecht argumentiert) um ein größeres problem: das der vogelfreien informationsarbeiter, die die ganze komplexe kulturelle filterung alleine übernehmen müssen, die früher leistung des alten kultursystems war (im guten wie im schlechten).“
Das ist kein Problem, sondern eine Verschiebung. Ein neues System mit neuen Distributionsarten.
„das ist jedenfalls ein problem, das sicht von selbst und durch den markt löst, noch viel mehr übrigens für die mainstream-user, die nie virtuose selbstfilterer sein werden & trotzdem sich irgendwie in der Flat World behaupten müssen.“
Fehlt da ein 'nicht'? :)
Das wird sich von 'allein' lösen. Eben weil die Menschen nur eine begrenzte Zeit täglich haben und demnach Prioritäten setzen müssen und das auch für die digitalen Angebote lernen werden, wenn sie sie erst lang genug nutzen (lustigerweise ist das genau der Grund, warum die90er- Utopie von „everyone a pamphleteer“, der zB Lanier und Lovink nachzutrauern scheinen, eben nicht eintritt. Sie Powerlawverteilung von Blogs etc.; alles schon von Benkler et al. vor Jahren untersucht, von Shirky in Here comes everybody nochmal ausgeführt).
Und natürlich wird der Markt das regeln. Der Bedarf, also die Nachfrage, wird ja allerorts und besonders in der FAZ lautstark formuliert. Das Angebot folgt und entsteht bereits. Es gibt einen guten Grund, warum es Rivva gibt. Weil die Blogwelt ohne noch unübersichtlicher wäre. Da wird noch mehr kommen. Aber dafür braucht es auch Zeit.
Was mich fasziniert, ist die Ungeduld vieler Beobachter: Da gibt es vollkommen neue Systeme wie Twitter (2006) und Facebook (2004) erst seit wenigen Jahren. Und sie geben der Gesellschaft keine Zeit, um Nutzungspraktiken zu entwickeln. Jedes Übergangsproblem wird zum Untergang des Abendlandes aufgebauscht.
Und der Höhepunkt der fehlenden Selbstreflexion ist dann, wenn diese ungeduldigen Beobachter anderen empfehlen, das alles mal ein bisschen langsamer anzugehen.