Nach der Bekanntgabe der Schliessung des webbasierten Feedreaders Bloglines kochte in einigen Blogs wieder die Diskussion hoch, ob RSS, oder zumindest die Nutzung von RSS durch Endkonsumenten, jetzt am Ende sei. Alle nutzen eh Twitter, amirite?
So einfach ist es nicht. Die Welt von Beobachtern wie Robert Scoble, TechCrunch-Schreiberlingen und auch einigen deutschen Bloggern reicht oft nur bis zum eigenen Screen und nicht darüber hinaus. Die eigene Nutzung von Newsdiensten muss nicht zwingend etwas über die allgemeine Verbreitung und die Entwicklung von Nutzungsverhalten aussagen.
Das Team hinter dem GoogleReader hat angestossen von der Diskussion zwei Grafiken zur Nutzung des GoogleReaders veröffentlicht. Wachstum der Nutzerzahlen des GoogleReaders (Nutzer = Jemand, der mindestens einmal pro Woche GoogleReader nutzt):
Nutzung des GoogleReaders (gelesene Artikel):
Beiden Grafiken fehlen leider die absoluten Zahlen. Aber die Trends sind zumindest offensichtlich. So sieht nicht die Entwicklung eines Dienstes aus, der kurz vor der Einstellung steht.
Aber wie sieht es mit konkreten Zahlen aus?
Für Blogs, die Feedburner einsetzen und die Zugriffszahlen öffentlich zugänglich machen, kann man sich ein gutes Bild von der Entwicklung der Feed-Nutzung machen. Mit dem Tool Feedcompare lässt sich die Entwicklung von Feedabonnementzahlen visualisieren. Mit Feedcompare kann man außerdem bis zu drei Feeds vergleichen.
Eine Vorbemerkung: Die Zahlen fluktuieren und das bei einigen Blogs oft recht stark. Die Zahlen von Feedburner sind mit Vorsicht zu geniessen und nie so exakt, wie die Feed-Anzeige suggeriert. Für allgemeine Trends eignen sich die Feedburner-Zahlen allerdings trotzdem.
Zunächst ein 24-Monate-Vergleich von Mashable, ReadWriteWeb und GigaOm (Letzteres in der Grafik als ommalik bezeichnet):
TechCrunch, das Techblog, das am lautesten und vehementesten das „RSS ist tot“-Meme ausruft, muss man separat zeigen, weil die schiere Menge an Feed-Abonnements (über 4 Mio.) die Graphen der anderen Blogs an die untere Leiste quetschen würde. TechCrunch im 24-Monate-Vergleich:
Wie sieht die Entwicklung in Deutschland aus? Auf lesercharts.de kann man Blogs mit relativ hohen Feedabonnenten-Zahlen identifizieren. (Die Vorauswahl ist allerdings systembedingt auf Blogs beschränkt, die Feedburner einsetzen.)
Die laut lesercharts.de drei größten Blogs Basic Thinking, myDealZ und GoogleWatchBlog (in der Grafik bezeichnet als „Jmboard/UITV“) im 24-Monate-Vergleich:
Besonders interessant ist der rasante Aufstieg von myDealZ.
Hier noch ein Vergleich von drei großen deutschen Blogs, deren Themenbereich nicht Technologie/Web ist. Stefan Niggemeier, Bildblog und Nerdcore im 24-Monate-Vergleich:
Fazit
Ich kann bei keinem der Graphen einen Trend nach unten erkennen. Im Gegenteil: Die Zahlen zeigen in der Regel nach oben.
Warum also das Gerede vom Niedergang von RSS?
Die Zahl an Internet-Nutzern allgemein und an Blog-Lesern im speziellen steigt. Die Zahl an RSS-Abonnenten dürfte nicht im gleichen Maße ansteigen. (Oder anders: Das relative Wachstum der Leserzahlen (Zugriffszahlen etc.) ist höher als das relative Wachstum der Feed-Abonnenten.) Daraus könnte man schliessen, dass RSS-Nutzung auf dem absteigenden Ast ist. Das ist aber ein Trugschluß.
Man kann nur mutmaßen, wie die tatsächliche Entwicklung aussieht, aber hier meine Vermutung: Um es kurz zu machen: Ausdifferenzierung.
Je nach persönlichem und beruflichem Interesse orientiert sich der Konsum von Nachrichten jeglicher Art an unterschiedlichen Tools. Wer nur aus persönlichem Interesse und quasi nebenbei Nachrichten einer bestimmten Branche folgt, dem können Facebook und/oder Twitter etc. reichen. Wer sein Geld unter anderem damit verdient, Informationen vor allen anderen zu erhalten und zu verarbeiten, wird einen Feedreader und Facebook, Twitter etc. einsetzen. Wieder andere werden nur Feedreader einsetzen, weil diese in ihrer Konfiguration flexibler sind.
Tatsächlich muss man nämlich auch die Aussage, Twitter etc. wären leichter zu benutzen, relativieren: Wer eine hohe Zahl an Quellen verfolgen will, stösst bei der Optimierung seiner Twitternutzung sofort an natürliche Grenzen des Systems. (Das Paradoxon: Feedreader wie der GoogleReader sind sowohl für einfache als auch für spezielle Usecases ungefähr gleich aufwendig zu konfigurieren. Twitter zum Beispiel ist für die einfache Nutzung mit weniger Aufwand konfigurierbar, für eine Poweruser-Nutzung mit Listen etc. aber aufwendig und sehr unflexibel. Ergebnis: Twitter ist einfach für einfache Nutzung, GoogleReader verhältnismäßig schwer für einfache Nutzung; und umgekehrt für komplexere Usecases.)
Solang es Personen gibt, die ihr Geld im weitesten Sinne mit Informationen verdienen, wird ein flexibles RSS-Ökosystem bestehen bleiben, wenn auch möglicherweise mit wenigen konkurrierenden Produkten an den jeweiligen Endpunkten. Feedreader und soziale Webdienste und Aggregatoren sind ähnliche Produkte für leicht unterschiedliche, sich überschneidende Zielgruppen mit daraus resultierenden unterschiedlichen Marktpotentialen.
Das klingt natürlich langweiliger als „RSS IST TOT“, aber es dürfte weit näher an der Realität sein: Verschiedene Personen mit verschiedenen Präferenzen setzen auf verschiedene Tools und Konfigurationen. Und Feedreader gehören ganz offensichtlich zu den Tools, die weiterhin neue Nutzer finden. Man muss weiten Teilen der Techpresse (traditionelle Medien wie Blogs) leider eine oft fehlende Reflektion attestieren, die sich hier wieder stark bemerkbar macht.
RSS ist also nicht nur das zugrunde liegende Protokoll für die Verbreitung von Nachrichten auf Facebook, Twitter und anderen Diensten. RSS-Nutzung ist auch beim Endkonsumenten weiterhin vorhanden und steigend. Der Online-Nachrichtenkonsum differenziert sich aus. Eine natürliche Entwicklung, bei der RSS an mehreren Punkten eine wichtige Position innehat. RSS geht nirgendwohin.
Chr Röthlisberger says
ich wunderte mich schon immer, dass leute, die jahrelang einen feedreader genutzt hatten, nach dem aufkommen von twitter diesen plötzlich als obsolet bezeichnet haben. man kann in twitter zwar viel neues entdecken, aber das ersetzt meinen feedreader noch lange nicht. würde ich mich nur auf twitter verlassen, kriegte ich die meisten meldungen, die mich interessieren, nicht mit.
interessant auch, dass die blogosphäre zur schliessung von bloglines wiedermal das ende von rss herbeiredet. das ist billiges geschrei, das dem gemeinen boulevard in nichts nachsteht. darum danke für deine aufschlussreichen infos.
was allerdings doch immer wieder erstaunt ist, dass relativ wenige journalisten (oder andere medienaffine kreise) rss benutzen oder zumindest wissen, was das ist. das argument „zu kompliziert“ kann ja heute nicht mehr zutreffen. latente ignoranz mag wie in vielen anderen netzfragen der grund sein.
Marcel Weiss says
„was allerdings doch immer wieder erstaunt ist, dass relativ wenige
journalisten (oder andere medienaffine kreise) rss benutzen oder
zumindest wissen, was das ist. das argument „zu kompliziert“ kann ja
heute nicht mehr zutreffen. latente ignoranz mag wie in vielen anderen
netzfragen der grund sein.“
Ja, das ist wirklich erstaunlich. Ich glaube, das sagt mehr über die
Journalisten aus als über RSS.