16. Nov. 2020 Lesezeit: 4 Min.

Überfluss in der Distribution

Knappheit bei Distribution führt zu manchmal guten, manchmal weniger guten populären Inhalten.

Überfluss in der Distribution führt zu mehr Inhalten, auch zu sehr schlechten Inhalten, und unter anderem zu sehr viel besseren populären Inhalten.

Weil der Kampf um Aufmerksamkeit nicht mehr an den Druckerpressen & Redaktionsräumen entschieden wird.

"Besser" im Sinne von El Hotzo, Sarah Cooper und Jack Innanen sind lustiger als die im TV groß gewordenen Comedians.

"Besser" im Sinne von das aufwendig kuratierte Virologen-Twitter liefert akuratere Informationen als die Redaktionen, die immer wieder Experten zu Wort kommen lassen, weil sie bereits von anderen Redaktionen zu Wort gekommen lassen wurden und deshalb das Flughöhengütesiegel, auf das Redakteure schauen, besitzen, und für das es dann egal ist, dass diese "Experten" (<- wichtige Anführungszeichen) konstant in ihrem eigenen Feld falsch liegen. Das läuft hierzulande seit Jahrzehnten etwa hervorragend für "führende Zukunftsforscher" und aktuell auch für Virologen, die gern berühmte Virologen wären.

Es geht besser.

Die Hauptprobleme oder Herausforderungen speisen sich nicht nur aber fast vollständig daraus, dass wir noch am Anfang stehen.

Sowohl bei den Diensten: Das stagnierende Twitter stagniert produktseitig so sehr, dass man einen neuen Begriff für diese Art von Produktentwicklung erfinden müsste; vielleicht Produktkonservierung, aber selbst das wäre noch zu positiv. Produktkopfindensandung vielleicht?

Als auch ganz allgemein: Kevin Kelly sagte einmal, dass alles was wir heute an Internetdiensten sehen, noch Prototypen sind. Ich schaue immer mit dieser Brille auf das Heute und das Potenzial im Netz.1

Als auch in unserer Nutzung, Medienkompetenz und so weiter: Eine wohl kuratierte Twitter-Timeline ist zu aufwendig aufzusetzen, was auch am stagnierenden Produkt liegt. Wer in Zeiten der festen Medien aufgewachsen ist, hinterfragt auf Facebook 'abgedruckte' Inhalte so wenig wie in der BILD abgedruckte Inhalte. Man muss aber lernen, beides skeptisch einzuordnen. Nicht nur wegen der Machtinteressen und finanziellen Dynamiken bei Boulevardblättern, sondern auch weil Medien im Netz flüssiger, kleinteiliger etc., sind und deshalb, zumindest noch, proaktives Einordnen essentiell ist und auf absehbare Zeit bleibt.

Das ist auch eine Generationenfrage. Die älteren Generationen haben nicht die Medienkompetenz, um Informationen online einzuordnen, wenn sie nicht bereits qua journalistischer Marke als sicher abgestempelt ist. (Was siehe Bild oder auch bei Medien zum Medienwandel allgemein eine trügerische Sicherheit bedeutet.) Wer eine Zeitung bequem seit Jahrzehnten abonniert hat, hinterfragt seltenst die internen Entscheidungen der Redaktion oder gar was man verpasst, wenn man sich die Welt von den immer gleichen Entscheidern, also von einer Handvoll Chefredakteure, einordnen lässt. Der Grund dafür ist vor allem, weil man eine Zeitung liest und nicht an eine Redaktion dahinter denkt. Wer so Medien konsumierte, liest heute auch das Internet ohne dabei an die zu denken, die es befüllen. "Habe ich auf Facebook gesehen" als Fortsetzung von "Quelle: Internet" für den Rest von uns.

Medienkompetenz heißt aber zumindest, sich bewusst zu sein, dass Medieninhalte nicht vom Himmel fallen, dass innere Logiken reinspielen, dass es immer auch einen Raum hinter den Kulissen gibt. Das wurde im 20. Jahrhundert immer tendenziell versteckt. Auch weil die Autorität eben mehr aus der Knappheit der Distribution statt der, sagen wir, Qualität der Inhalte kam. Daraus folgt eine Mediennaivität bei den Generationen, die mit Massenmedien im 20. Jahrhundert aufgewachsen sind.2

Was nicht heißt, dass man heute mit Anfang 20 automatisch vor Betrügern und Falschinformationen gefeit ist. Die jüngeren Generationen sind auch nicht klüger. Es heißt vielmehr, dass die Jüngeren schlicht aufgrund ihres Alltags Dinge verinnerlichen, die die Zeitungsgeneration nur lernen kann, wenn sie erst anderes entlernen würde. ('Würde', weil ich nicht sehe, dass das in signifikanten Zahlen passiert.)

Die Zukunft ist und bleibt unregelmäßig verteilt, was die Bandbreite zwischen gut und schlecht informiert, oder gut oder schlecht aufgestellt, immer größer werden lässt.

Überfluss statt Knappheit hat viele Implikationen, über die selten bis nie gesprochen wird.

Wenn ich manche kreative Menschen, die zum Teil 20 Jahre jünger sind als ich, auf diversen Plattformen folge, dann frage ich mich des öfteren, wie man einen so hohen konstant guten Output haben kann. Es ist mir ein Rätsel wie man ohne Unterlass so überbordend kreativ sein kann. Verblüffend und bewundernswert. Es ist wirklich erstaunlich, wie massiv diese neuen Kreativen ihre massenmedial aufgepäppelten Vorgänger in Sachen Kreativität überflügeln.

Wir stehen vor einer Explosion der Kreativität.

Die Werkzeuge für die Kreativität und ihre Verbreitung (hallo Distribution!) sind bereits hier und etabliert, und aktuell entstehen die Werkzeuge für die Nachhaltigkeit, also für das Geldverdienen, neben dem Werbeweg für die an der Spitze. (Shopify, Steady, Patreon, Stir, Memberful et al)

Vielleicht wird das auch die zweiten kommenden Goldenen Zwanziger nach der Pandemie massgeblich mitbestimmen?

Überfluss statt Knappheit heißt nicht, dass man es als Kreativschaffende/r oder Journalist/in oder in ähnlichen Berufen und Berufungen einfacher hat. Im Gegenteil, es wird schwerer, weil man besser sein muss. Der Wettbewerb auf der Inhalteseite ist härter geworden und wird härter.

Das ist die Rückseite der Medaille, dass die Inhalte in einer vernetzten Öffentlichkeit qualitativ besser sind. Diese höhere Qualität ist eine Folge der Tatsache, dass die Inhalte heute direkt mit einander konkurrieren. Wettbewerb auf der Inhalteebene, nicht mehr auf der Distributionsebene.

Der Kampf um die Aufmerksamkeit wird härter wenn statt Kiosk, Briefkasten und 20 Frequenzen eben Millionen Websites, Instagramer, YouTuber, Twitterer, Twitch-Streamer, TikToker, und oben drauf Fortnite, Discord, Netflix, Disney+ und so weiter und so fort um den gleichen Zeitkuchen kämpfen. Ohne das diese Tage etwas überstrapazierte P-Wort direkt zu bemühen: Wer das richtige Geschlecht, die richtige Hautfarbe und vielleicht auch noch die richtige Familie hatte, konnte auch mit mäßiger Begabung in einer rein redaktionell und mit beschränktem Platz arbeitenden Medienwelt Karriere machen.

Wie wenig das in einer Twitter-Welt künftig noch gehen wird, sehen alle täglich, die das schlechte Urteilsvermögen haben, Chefredakteuren deutscher Tageszeitungen auf Twitter zu folgen.

Überfluss statt Knappheit bedeutet auch, nicht die Zeit der Leute zu verschwenden, deshalb komme ich hier jetzt auch langsam zum Schluss.

Knappe Distribution bedeutet: Wer drin ist, ist drin. Für unsere Kunden: Friss oder stirb.

Überfluss bedeutet: Medien mögen die Opportunitätskosten ihres Publikums auf eigenes Risiko ignorieren. Aber das ist eben genau das: riskant. (Und oft auch ignorant und arrogant.)

Dieser harte Kampf um die Aufmerksamkeit beschäftigt mich auch regelmäßig bei meinen Überlegungen, wie ich podcaste, hier öffentlich schreibe, oder wie ich das Mitglieder-Angebot von neunetz.com gestalte, das auch wegen dieser Überlegungen formatseitig im Fluss bleibt. Und mit dieser Werbung in eigener Sache endet diese kleine Ausführung in die heutige Welt der Öffentlichkeit.

Audio-Version:


  1. Hier der obligatorische Hinweis auf FriendFeed, das selbst 11(!) Jahre später sowohl technisch als auch informationsarchitekturseitig den im Westen populärsten Diensten (Facebook, Instagram, Twitter) zum Teil noch überlegen wäre. Das sollte eigentlich nicht sein. Ungehobenes Potenzial ist immer schwer zu identifizieren. FriendFeed ist eines der wenigen Beispiele, die mir einfallen. (Ein anderes ist das noch unbekanntere Tracked.com (siehe Review auf Techcrunch von 2009), das für einen kurzen Zeitraum der mit großem Abstand beste Dienst zum Tracking von Unternehmen aller Art (auch nicht börsennotierte!) war.)
  2. Ich denke oft daran, wie überrascht ein, sagen wir, älteres Rentnerpaar aus unserer Familie, beide der Inbegriff des Kulturbürgertums, ehrlich überrascht war, als sie im Gespräch erfuhren, dass es signifikante Unterschiede in den deutschen Übersetzungen von Dostojevski geben kann. (Nicht nur 'gibt', was de facto der Fall ist. Sondern geben 'kann'. Also überhaupt die Tatsache, dass Übersetzungen, I don't know, menschliche, subjektive, ja, stattfindende, Tätigkeiten sind, und welche Implikationen das hat, war eine Überraschung.)
Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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