28. Sep. 2017 Lesezeit: 4 Min.

7 Anmerkungen zum kommenden 280-Zeichen-Limit auf Twitter

7 Anmerkungen zum kommenden 280-Zeichen-Limit auf Twitter

Weil ein Text auf neunetz.com sogar noch länger als 280 Zeichen sein kann, hier ein paar Anmerkungen zur kommenden Verdopplung der Zeichenanzahl auf Twitter:

  • Es sagt ziemlich alles, was man wissen muss, über die Produktentwicklung bei Twitter, dass jetzt die größte Produktneuerung seit sehr langer Zeit die offensichtlichste ist. Eine Zeichenverlängerung für Twitter ist so offensichtlich, dass nur das, was Twitter nun vorhat noch offensichtlicher ist: Bei der Frage, um wie viel die Zeichenanzahl vergrößert werden soll, entscheidet sich Twitter für eine Verdopplung. Besser kann man nicht zusammenfassen, wie wenig Gedankenvolles von Twitter kommt.
  • Das Offensichtlichste ist nicht automatisch das Beste, aber auch nicht automatisch das Schlimmste.
  • Twitter verliert aller Voraussicht nach die (einzigartige) Haiku-Artigkeit des Dienstes. Twitter gewinnt die Möglichkeit, besser Diskussionen führen zu können. Ob das wünschenswert ist oder nicht, mag jede/r persönlich entscheiden.
  • Twitter ist auch einzigartig unter allen großen Internetdiensten, weil jede leichte Veränderung der Features den Kern des Dienstes verändern kann. Das wird hier passieren.
  • Für alle, die auf Deutsch twittern, sind das gute Nachrichten. Deutsch ist gewissermaßen das sprachliche Gegenteil zu, zum Beispiel, Japanisch, das dank seiner Schrift längst ein 'längeres' Twitter genießt. Vor ein paar Jahren gab es eine kurze Zeit, in der der Microbloggingdienst App.net eine gewisse Popularität genoß. Bei App.net ebenso wieder von Anfang an dabei zu sein wie bei Twitter hat mir zwei Erkenntnisse gebracht: 1. Die Theorie, dass Twitter nur dank der früh verfügbaren Clients erfolgreich war, scheint richtig zu sein. Die Nutzung von App.net explodierte als die ersten Clients für alle populären Betriebssysteme erschienen. Aber das für uns heute entscheidende: 2. Die 256 Zeichen auf App.net haben Diskussionen und Gespräche auf Deutsch erheblich erleichtert. Wer den Unterschied nicht kennt, unterschätzt leicht, wie sehr die 140 Zeichen auf Twitter inkompatibel mit der ausufernden deutschen Sprache sind.
  • Produzenten statt Konsumenten: Twitter hat ein Nutzerwachstumsproblem. Es ist irre, dass Twitter sich auf die Gruppe stürzt, mit der der Dienst kein Problem hat: Die Produzenten, also diejenigen, die aktiv twittern. Wie oben geschrieben, wird es noch mehr im Deutschen als im Englischen einfacher werden, auf Twitter zu schreiben. Aber: Twitter hat die Nutzer verloren, die passiv Twitter konsumierten. Twitter, vor allem in Deutschland, fühlt sich oft so an, als würden alle Nutzer auf Twitter schreiben, aber niemand mehr (mit)lesen. Die passiven Nutzer holt man aber mit 280 Zeichen nicht besser zurück als mit 140. Dafür braucht es andere Dinge. Was uns zum nächsten Punkt bringt.
  • Es gibt gefühlt unendlich viele Features, die Twitter stattdessen angehen sollte, für die bei der Produktentwicklung bei Twitter aber weder Gespür noch Phantasie vorhanden zu sein scheint:
  • Statt die Zeichenzahl zu verlängern, sollte Twitter die Tweets so verstehen, wie Tweets mit Links heute bereits verstanden werden: Der Tweet ist die Überschrift und/oder ein knackiges Zitat. Den Inhalt gibt's hinterm Link. Warum nicht Text-Anhänge für Twitter einführen, ähnlich wie bei Bildern? Das Feature könnte irgendwo zwischen Facebook Instant Articles und Medium liegen. Das kann Screenshots ersetzen. (Die nicht durchsuchbar sind!) Es kann für viele das eigene Blog/Medium-Account ersetzen. Es kann eine größere Vorschau für verlinkte Inhalte außerhalb von Twitter darstellen.
  • Replays: Twitter ist ein Realtime-Dienst. Daraus folgt nicht zwangsläufig live auf Twitter Sport zu streamen. (Was für ein Unsinn) Aber was daraus logisch folgt: Replays anbieten. Zum Beispiel: Letzte Nacht nach Berliner Ortszeit hat US-Präsident Trump eine Rede gehalten, in der er Dinge gesagt hat, die Trump sagt, wenn er seinen Mund aufmacht. Omfg, zeige mir im Zeitverlauf zur Rede, gestreamt von YouTube zB, die populärsten Tweets. Oder: Die Oscars werden verliehen und es wird zuerst versehentlich ein falscher Film zum Film des Jahres gekürt. Zeig mir diesen Höhepunkt der Verleihung und parallel dazu, was meine Timeline schrieb, während ich schlief. Etc.
  • Alles, was Nuzzel macht.
  • Trenne die algorithmisch gerankten Tweets komplett von der chronologischen Timeline und zeige die populärsten Links, die populärsten, intensivsten Diskussionen meiner Freunde (und der Freunde meiner Freunde) der letzten Stunden, des letzten Tages, der letzten Woche, des letzten Monats.
  • Interessen: Twitter kennt meine Interessen. Ich kann Twitter auch meine Interessen mitteilen. Sagen wir, ich bin an Bienenzucht interessiert. Das sollte Twitter anhand meiner Followings bereits wissen. Es könnte mir die populärsten Tweets und/oder die populärsten Links zur Bienenzucht aufzeigen. (Statt globale und regionale Trends! Was für ein Unsinn. Wieso ist das nach Jahren die einzige Aggregation außerhalb der Timeline?) Nutzer könnten Twitter auch ihre Interessen mitteilen. Twitter könnte darauf aufbauend populäre Tweets des Themenbereichs aufbereiten. Nützlich etwa auch, wenn man an dieser Stelle einfach die Fußballmannschaft nennt, deren Fan man ist. Die besten Tweets während der TV-Übertragungen der Spiele kommen nicht gerade zwingend von den offiziellen Accounts. Die Aufweichung des (wichtigen) Follower-Prinzips erleichtert den (Setup-)Einstieg für neue Nutzer enorm. Statt irgendetwas davon umzusetzen, wird die Zeichenanzahl verdoppelt. Man muss das direkt gegenüberstellen, um zu sehen, wie schlecht es um Twitter als Unternehmen bestellt ist. Und jetzt kommt noch ein nicht unbedeutender Punkt.
  • Implementiere die besten Features, um Missbrauch zu bekämpfen, die die Nutzer seit Jahren immer wieder Twitter ans Herz gelegt haben. Das geht vom Kulturkampf (Misogyny und Rassismus) bis hin zur russischen Bot-Invasion.

Warum das alles wichtig ist: Alles ist miteinander vernetzt. Twitter ist das Nervenzentrum der westlichen Öffentlichkeit. Nicht, weil sich alle Welt auf Twitter informiert; das passiert immer noch auf Facebook. Sondern weil Journalisten, Meinungsmacher und Multiplikatoren zu einer sehr großen Zahl auf Twitter aktiv sind und ihre eigene Meinungsbildung, Wahrnehmung der Welt und anfängliche Recherchen und Inspirationen sich zu einem signifikanten Teil über Twitter formen. (Deshalb wird Twitter von Journalisten gemeinhin überbewertet.) Auf Twitter -ebenso wie auf Reddit- wird gesäht, was auf Facebook geerntet wird. Ein 'gesünderes' Twitter, also ein Dienst, der die feindliche Botinvasion in den Griff bekommt und nützliche Funktionen weiterentwickelt, hat einen direkten und (noch größeren) indirekten Einfluss auf den Zustand unserer Öffentlichkeit und damit unserer Demokratie. Es gibt aktuell keinen großen öffentlichen Internetdienst, bei dem Realität und Potenzial so weit auseinander gehen wie bei Twitter. Und nach alldem haben wir noch nicht einmal über einen US-Präsidenten geredet, dessen Tweets (nachvollziehbarerweise) als Kriegserklärungen in Nord-Korea gelesen werden.

Fazit: 280 Zeichen sind nicht genug.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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