8. Aug. 2025 Lesezeit: 15 Min.

Briefing 269: Sommerlektüre

Interessante Texte und Bücher für den Sommer zu KI, Tech und Gesellschaft

Briefing 269: Sommerlektüre
Einstiege und Ausstiege aus dem Massenmarkt für Autos…

Hi,

wir sind mitten in der Sommerpause. Deshalb ein etwas anderes Format, mit Schwerpunkt auf Lesetipps und Kommentaren meinerseits. Nächste Woche wird kein Briefing erscheinen. Das nächste Briefing erscheint in zwei Wochen am 22. August. Dazwischen wird es je nach Lage eventuell einzelne Texte auf neunetz.com geben. Kurze Texte werden nicht per Email verschickt.

Wer es verpasst hat, ich habe mit Sascha Lobo über KI-Browser gesprochen. Ein paar weitere Gedanken dazu habe ich hier aufgeschrieben.

Marcel

Lektüretipps, Zitate und Anmerkungen zu:

  • Ökonomie der Superintelligenz
  • Wie würde überhaupt geopolitische Unabhängigkeit bei KI für uns aussehen?
  • Wie sich Chinas KI-Ansatz von den USA unterscheidet und warum das so ist
  • Datencenterausbau -> Finanzkrise?
  • TikTok Shop in Deutschland
  • Buchempfehlungen
  • und mehr

Nicht nur die akademische Welt:

Quelle


Die Ökonomie der Superintelligenz

The economics of superintelligence
If Silicon Valley’s predictions are even close to being accurate, expect unprecedented upheaval

Die Ökonomie der Superintelligenz: Was passiert, wenn KI wirklich „alles" oder zumindest fast alles kann?

Der Economist stellt sich in einem jüngeren Titelbriefing die Frage, der sich in Europa die Eliten noch nicht wirklich zu stellen scheinen: Was, wenn die Voraussagen aus dem Silicon Valley bezüglich KI-Entwicklungen ansatzweise zutreffen?

Ich war seit Ende 2022 (wie der Rest der Welt) beeindruckt, was bei KI passiert, aber verhalten bis skeptisch, was die Voraussagen anging. Seit ich intensiver Insidern der Branche als auch der Forschung folge (ich mache einmal im Monat einen Überblick über KI-Forschung für die FAZ), ist meine Skepsis dem bedrückenden Gefühl gewichen, dass vor unseren Augen die Basis für eine neue Wirtschaftsordnung entsteht, die bis jetzt nahezu komplett an Europa vorbeigeht.

Die Dringlichkeit der Lage wird nur in den USA erkannt -wo die Hyperscaler historische CapEx-Rekorde aufstellen und in den Quartalsberichten mitteilen, dass Nachfrage kontinuierlich höher ist als ihr Angebot wie jüngst Google mit Ausgaben, Status Quo und Aussichten für GCP. Und in China, das sich mit Alibabas Qwen, den DeepSeek-Modellen und jüngst Kimi K2 von Moonshot an die Speerspitze der "offenen" KI-Modelle gesetzt hat. (Offen heißt hier: Kann leichter angepasst werden und kann auf eigenen Servern betrieben werden. Kein Tag mehr, an dem kein Konzern ein weiteres eigenes Deepseek- oder Qwen-Finetune verkündet.)

Wie dem auch sei, die Signale aus der Forschung und aus den Labs sind eindeutig, die Nachfrage gemäß der Quartalszahlen der Hyperscaler ebenfalls. Die Qualität der jüngsten Modelle und die ersten für den Alltag benutzbaren Agenten-Produkte auch.

Wir brauchen nicht "AGI" für umwälzende Veränderungen. Es reicht eine Entwicklung mit vergleichbarer Geschwindigkeit. (Es würde sogar bereits der heutige Stand und mehr Fokus auf Produkte, Dienste und Interfaces reichen für umwälzende Veränderungen in den nächsten 10-20 Jahren.)

Wie dem auch sei. Der Economist hat sich an der sehr schwierigen Frage versucht, was konkret passiert, wenn KI zu explosionshaftem Wachstum führt.

UNTIL 1700 the world economy did not really grow—it just stagnated. Over the previous 17 centuries global output had expanded by 0.1% a year on average, a rate at which it takes nearly a millennium for production to double. Then spinning jennies started whirring and steam engines began to puff. Global growth quintupled to 0.5% a year between 1700 and 1820. By the end of the 19th century it had reached 1.9%. In the 20th century it averaged 2.8%, a rate at which production doubles every 25 years. Growth has not just become the norm; it has accelerated.

If the evangelists of Silicon Valley are to be believed, this bang is about to get bigger. They maintain that artificial general intelligence (AGI), capable of outperforming most people at most desk jobs, will soon lift annual GDP growth to 20-30% a year, or more. That may sound preposterous, but for most of human history, they point out, so was the idea that the economy would grow at all.

Einer der wichtigen Punkte ist die Tatsache, dass Kapital, also die Möglichkeit in Produktionsanlagen zu investieren, wichtiger wird:

If you add machines but not workers, capital lies idle. But if machines get sufficiently good at replacing people, the only constraint on the accumulation of capital is capital itself.

Suppose production was fully automated, but technology did not improve. The economy would settle into a constant rate of growth, determined by the fraction of output that was saved and reinvested in building new machines.

Das scheint mir ein Punkt zu sein, der von vielen ausgeblendet wird, die behaupten, wir sehen mit KI lediglich die Wiederholung der Industrialisierung mit ihren Automatisierungen körperlicher Arbeit. Denn das trifft eben nur zum Teil zu. KI wird mindestens punktuell menschliche Arbeit komplett aus einzelnen Wertschöpfungsebenen herausziehen.

Der Unterschied zwischen 90% und 100% Automatisierung einer wirtschaftlichen Tätigkeit hat stärkere Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft als die Differenz eines Automatisierungsgrades (oder Augmentierungsgrades) einer solchen Tätigkeit von 10% zu 90%.

(Selbst hochgradig automatisierte Fabriken brauchen spezialisierte Ingenieur:innen, die sich um Steuerung und Wartung kümmern. Übrigens ein Grund, warum Manufacturing weltweit, selbst in China, als Jobmarkt auf dem Rückmarsch ist: Fertigung ist heute immer stärker eine hochspezialisierte Domäne für wenige, gut ausgebildete Menschen.)

Eine Prognose im Economist laut einem Paper ist, dass die Volkswirtschaft so schnell wächst, dass die im Vergleich langsamer wachsenden Gehälter trotzdem ansteigen:

In Mr Nordhaus’s paper, less-than-perfect substitutability between labour and capital during an AI breakout leads to an explosion in wages. Strangely, wages still shrink as a share of the economy, since the economy is growing even faster (see chart). There is some evidence of this dynamic already within tech firms, which tend to pay superstar wages to top workers, even though the share of such firms’ income that goes to owners is unusually high.

Hier zeigt sich, wie "Wirtschaftswachstum" in der Öffentlichkeit oft missverstanden wird. Wachstum vergrößert den Kuchen, die Gründe sind vielfältig, überhaupt nicht zwingend steigender Ressourcenabbau. Und der Kuchen selbst besteht aus vielen beweglichen Teilen, die sehr unterschiedlich auf einander reagieren.

Neben der wachsenden Bedeutung von Kapital steigt auch die Ungleichheit am Arbeitsmarkt, weil einzelne Tätigkeiten mit KI produktiver werden:

Averages conceal variation. Explosive wages for superstars would not console those with more mundane desk-jobs, who would have to fall back on the parts of the economy that had not been animated. Suppose, despite AGI, that technological progress in robotics were halting. There would then be plenty of physical work requiring humans, from plumbing to coaching sports. These bits of the economy, like today’s labour-intensive industries, would probably be affected by “Baumol’s cost disease” (a wonderful affliction for workers) in which wages would grow despite a lack of gains in productivity.

"that technological progress in robotics were halting": Wer hier im Briefing aufmerksam mitliest weiß, dass das nicht der Fall sein wird. Es wird mit Hochdruck an KI-Modellen für Robotik gearbeitet. China hat den Aufbau von heimischer (humanoider) KI-Robotik zu einem der höchsten Industriepolitik-Ziele erklärt. (Unitree freut's.)

Humanoide Robotik wird aber auf absehbare Zeit nicht „alles“ „überall“ ersetzen. Stattdessen wird es „Baumols cost disease“ noch verstärken.

Völlig unklar ist heute, wie sich Preisniveaus von Produktkategorien entwickeln werden:

Some worry that the Baumol effect would be so acute as to limit economic growth. When the price of something collapses, people buy more of it. But its share of consumer spending can still fall. Take food. In 1909 Americans bought 3,400 calories-worth of food per day (including waste), which cost 43% of their incomes. Today they buy 3,900 calories-worth, but that costs just 11% of their incomes. If prices fall faster than quantity increases, the measured economy becomes dominated by whatever it is that cannot be made more efficiently. “Growth may be constrained not by what we are good at but rather by what is essential and yet hard to improve,” wrote Mr Aghion and his colleagues.

Das trifft im Grunde auf fast alles zu: Relativ unklar, wie die volkswirtschaftlichen Effekte in Summe am Ende tatsächlich aussehen werden.

Umso wichtiger, dass auch hierzulande ernsthafte Debatten darüber geführt werden, was passiert, wenn die Prognosen aus den Labs zutreffen - und, last but most certainly not least wie wir es realistisch(!) beeinflussen können.

Unterschätzte KI

Ebenfalls im Economist:

AI labs’ all-or-nothing race leaves no time to fuss about safety
They have ideas about how to restrain wayward models, but worry that doing so will disadvantage them
The boosters could, of course, be over-optimistic. But, if anything, such prognosticators have in the past been too cautious about ai. Earlier this month the Forecasting Research Institute (fri), another research group, asked both professional forecasters and biologists to estimate when an aisystem may be able to match the performance of a top team of human virologists. The median biologist thought it would take until 2030; the median forecaster was more pessimistic, settling on 2034. But when the study’s authors ran the test on Openai’s o3 model, they found it was already performing at that level. The forecasters had underestimated ai’s progress by almost a decade—an alarming thought considering that the exercise was designed to assess how much more likely ai makes a deadly man-made epidemic.

(Hervorhebung von mir)

Dazu passend auch diese Entwicklung:


Als die deutsche Automobilindustrie sich vom Massenmarkt verabschiedete

Man sieht in diesem Chart hervorragend den Zeitpunkt, als sich VW und die anderen deutschen Automobilkonzerne mit Ansage auf die Marge zu konzentrieren begannen und den Massenmarkt damit aufgaben.

Quelle

Selbst Japan liegt heute höher und China scheint gerade erst anzufangen.

Wie immer bei diesem Thema: Software-Plattformen und Services entstehen auf einer breiten Hardware-Basis. Wer diese nicht hat, hat auch keine Chance auf, zum Beispiel, softwarebasierte Geschäftsmodellinnovationen.

(Hinzu kommen alle Folgen der größeren Vielfalt an Formfaktoren dank E-Antrieb. Metropolenlieferungen via E-Bikes und E-Scooter-Sharing waren da erst der Anfang.)


Geopolitische Unabhängigkeit und KI

Sehr wichtiger und lesenswerter Beitrag von Marcel Salathé zur Frage, an welchen Stellen der Wertschöpfungskette bei KI wir uns unabhängig machen können und machen sollten.

AI Sovereignty: The Emperor Has No Clothes
Most countries should stop chasing illusions of AI sovereignty and focus on building and strengthening talent pipelines.

Zu oft wird diese Frage als alles oder nichts debattiert, was einerseits unrealistisch und andererseits unernst ist.

Wir werden meiner Meinung nach nicht US-Top-Anbieter in KI-Modellen einholen und wir werden, mittlerweile, wohl auch eher nicht die offenen Top-Modelle aus China einholen. Das ist aber vielleicht auch gar nicht notwendig, wenn wir es schaffen eigene Ökosysteme und Branchen rund um offene Modelle zu bauen.

Wichtig ist hier ein pragmatischer Ansatz, um das Meiste aus KI herauszuholen.

Salathé spricht von einem Fokus auf „building and strengthening talent pipelines“, was sowohl Hochschulen als auch Ausgründungen aus diesen einschliesst:

At a recent talk I gave at the Swiss Software Festival, this was one of the key discussion points. I argued that for Switzerland (and I believe this holds true for virtually every country except the United States and possibly China), AI sovereignty doesn't exist. It's a pipe dream, an illusion. But it remains incredibly appealing, and its temptation might actually prevent us from focusing on more realistic goals.
To have sovereignty means possessing decision-making power and the agility to act independently. You essentially control your own destiny. A nation with AI sovereignty would be able to make decisions about AI development and deployment without external constraints, fully independently.
My contention is straightforward: outside of the United States and possibly China, no nation currently meets all these criteria.

Sein verfolgenswerter Ansatz:

Rapid adoption and innovation: With talent, you can quickly integrate leading AI technologies and build world-class products and services on top of existing platforms. Yes, selling GPUs is great business, but most wealth generation in AI in the long run will be in applications.
Localization and adaptation: Don’t like a limited offer of US and Chinese AI? Take global AI developments and adapt them to local contexts, values, and regulatory requirements. The Swiss LLM initiative exemplifies this approach, and is precisely the kind of targeted, strategic initiatives that make sense. Needless to say, this needs strong talent.
Education and research investment: Because talent is so central, your first task is in ensuring you maintain and expand talent pipelines through sustained investment in education and research infrastructure.
The path forward is clear, in my view: if small to mid-sized nations want to position themselves strategically in the AI era, they should prioritize talent sovereignty. Rather than chasing the illusion of complete AI independence, focus on building and maintaining the human capital that can thrive in an AI-transformed world.

Sein Fazit:

In the end, success in the AI age won't be determined by whether a country can produce its own chips or control its own compute infrastructure. It will be determined by whether it has the people capable of building remarkable things with the tools available to them. For that you need talent production, and thus investment in education and R&D.

Neben den volkswirtschaftlichen Folgen einer rapide besser werdenden KI ist das das zweite drängende wirtschaftliche Thema, mit dem sich die europäische Politik beschäftigen muss.


China hat einen sehr anderen KI-Ansatz als die USA

Dazu passend die Frage, wie man in China KI angeht und warum plötzlich von dort offene KI-Modelle kommen, die es mit den US-Modellen aufnehmen können.

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