24. Juni 2015 Lesezeit: 3 Min.

Das Internet kann alles abdecken

Wolfram Schütte schreibt beim Perlentaucher über die Fähigkeit der Zeitung und insbesondere des Feuilletons, der Leserschaft Serendipity zu schenken, also das Entdecken von Dingen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie entdecken wollte, es geht ihm konkret um die Zukunft der Literaturkritik, und er macht dabei in seinem Text eine weitverbreitete (irreführende) Kritik an der digitalen Informationsverbreitung:

Wichtig scheint mir der hier beschriebene Wahrnehmungsvorgang, der nicht zielbewusst oder zielgerichtet ist - wie das algorithmische Suchen im Internet -, sondern beiläufig, zufällig, schweifend in ein Finden  übergeht.

Seine Lösung: Eine Digitale Zeitung:

Zeitung, wenn auch als digitales Imitat des einstigen Printprodukts, weil diese Erscheinungsform die beste Möglichkeit für das in Goethes "Gefunden" beschriebene Wahrnehmungsverfahren bietet: Totale & Großaufnahme im Wechsel.

Zeitung schließlich, um einen wiederkehrenden Ort für das Totum des Literarischen zu annoncieren, das in festzulegenden Abständen (wöchentlich, monatlich, Sonderausgaben?) rundum erneuert erscheint. (..)

Was unterscheidet Fahrenheit 451 [die erdachte, digitale Literaturzeitung, Anm. d. Blo.] von anderen Blogs im Internet? A) dass es alle journalistischen Formen als digitalisierte Zeitung bietet - & die Rezensionen nur eine Form unter anderen ist. B) dass auf ein kontinuierliches Interesse seiner Leser für alle Formen des Literarischen setzt, also nicht bloß auf das punktuelle, zielgerichtete, temporäre Interesse an diesem oder jenem Buch oder Thema. C) dass seine Notwendigkeit für den Leser & die Kontinuität seines (partiellen, aber regelmäßigen) Lebens mit Büchern & deren Lektüre als ein existenzielles Medium begreifbar wird., das ihn anregt, stützt & befördert. D) weil es als "Zentralpark" für die Präsentation der (weiterhin) vielfältigen Verlagsprogrammes ist. E) Von hieraus wird zu allen anderen literarischen Blogs & Website verlinkt, die sich der Literatur widmen. F) Wer über Fahrenheit ein Buch bestellt, kann es sowohl über eine angegliederte Institution, die nicht Amazon ist, beziehen oder über eine ihm genehme oder nächste Buchhandlung.

Digital lässt sich alles abdecken, was wir klassisch organisiert kennen. Und mehr.

Zeitungen lassen sich eins zu eins ins Internet übersetzen. Dass sie hier als identische Kopie (E-Paper) nicht erfolgreich sind, liegt auch daran, dass diese Gefäße nicht optimal sind.

Das Internet erlaubt eine Vielzahl von Organisationsmöglichkeiten, die es nur digital gibt.

Also, eine hierarchisch organisierte Einheit (Redaktion), die sich selbst als Ansammlung von Experten sieht und Periodika veröffentlicht? Kein Problem.

Es ist aber kein Zufall, dass die erfolgreichen Modelle online in der Generierung ihrer Daseinsberechtigungen netzwerkbasiert und nicht hierarchiebasiert sind.

Ohne auf die Gründe einzugehen, weil das den Rahmen sprengen würde: Bedeutet dieser Weggang von den Hierarchien automatisch algorithmisches Suchen als Entdeckungsweg? Zielbewusst und zielgerichtet?

Nein, natürlich nicht. Was Schütte beschreibt, ist die Suche bei Google und Amazon. Er beschreibt das dominierende Modell des Internets der Nuller Jahre.

Nun haben wir allerdings 2015 und eine bereits sehr viel reichhaltigere digitale Welt.

Wer Twitter benutzt, bekommt keine algorithmischen Ergebnisse seiner Zielsuche. Man bekommt dort chronologisch sortierte Gedankenschnipsel und Verweise von Menschen mit gleichen Interessen. Konsumdatum ist Verbreitungsdatum ist Veröffentlichungsdatum.

Was wir längst konkret sehen können, ist etwas, das man auch in den Nuller Jahren bereits ohne viel Mühe ahnen konnte. Über das Internet lässt sich jede denkbare Form der Vernetzung und Informationsverbreitung abbilden und realisieren.

Algorithmisch und zielgerichtet ist dabei nur eine Spielart. Aber das Internet hört nicht beim Suchschlitz auf:

  • Algorithmisch, von Freunden, nicht zielgerichtet: Facebooks Newsfeed
  • Chronologisch, von Menschen mit gleichen Interessen, nicht zielgerichtet: Twitters Timeline
  • Und speziell auf Bücher bezogen: Chronologisch, von Autoren, Freunden und von Menschen mit gleichen Interessen, nicht zielgerichtet: Goodreads' Timeline
Ausschnitt aus meiner Goodreads-Timeline

Das sind alles, wenn man so will, Publikationen neuer Art.1

Nichts davon ist ein Feuilleton, aber jede der genannten Instanzen kann je nach Bekanntenkreis und gewählten Kontakten, also je nach Inputquellen, die ehemaligen Aufgaben der Feuilletons und mehr, sehr, sehr viel mehr, übernehmen.

Der Punkt ist nicht zu sagen, dass eines der Beispiele die beste Lösung für irgendetwas sei. Der Punkt ist das Aufzeigen des Möglichkeitsraums. Dieser wird online bestimmt von Netzwerken. Hierarchien sind eine Untermenge von Netzwerken 2. Und deswegen schränkt ein auf Hierarchie setzendes Vorgehen immer ein, wenn man die Netzwerke nicht mitdenkt.3

Man kann eine Online-Zeitung als Grüpplein herausbringen, das sich Redaktion nennt, und dann glauben, die Zukunft der Literaturkritik mitzugestalten.

Die Wahrscheinlichkeit liegt aber bei nahe 100 Prozent, dass man dabei einem Irrglauben aufsitzt.
Die Hierarchien machen künftig nicht mehr das massenmediale Pangäa aus, sondern sind nur noch kleine Boote auf dem digitalen Urmeer.

Was früher alles war, ist heute bereits nur noch ein Teil eines sehr viel größeren Ganzen. Unwiderruflich.


  1. Streng aus der Welt der Netzwerke und Streams betrachtet sind klassische Zeitungen Streams von einer kleinen Gruppe von Menschen, die nur auf ihre eigenen Gedanken und Argumente verweist. Die Inhalte dieser kleinen Gruppe kann nur ganz oder gar nicht konsumiert werden. Man kann nicht nach Einzelpersonen filtern. Und die Gruppe selbst ändert sich im Vergleich ausgesprochen selten. (Wenn jemand die Organisation verlässt oder neu eingestellt wird.) Man vergleiche das mit den flüssigen Onlineformen.
  2. Hierarchien sind erstarrte, von oben festgelegte Netzwerke.
  3. Es ist durchaus denkbar in verschiedenen Kreisen zu denken, wo der innerste Kreis eine Hierarchie ist, die im ständigen Austausch mit festen Netzwerken steht, die über die Softwareebene verknüpft werden.Die Netzwerke werden umso leichtfüßiger, je weiter außen der jeweilige Kreis ist. (Genau genommen muss jedes Medienunterfangen heute so gedacht werden.)
Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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