7. Juli 2010 Lesezeit: 4 Min.

Denkfehler: Sascha Lobo glaubt, dass man immaterielle Güter stehlen kann

Update am Ende des Artikels.

In seinem Flattr-Kritik-Artikel schreibt Sascha Lobo unter anderem:

Flattr erscheint mir unter anderem als Feigenblättchen eines Menschen, dem seine Rolle der Contentdiebstahlbeihilfe etwas unangenehm geworden ist.

Nachdem unter anderem ich in den Kommentaren nachgefragt hatte, er solle erklären, wie man immaterielle Güter stehlen kann, schiebt er in den Kommentaren noch nach:

Die Volljährigen, die in schöner Newspeak-Tradition nicht wollen, dass die illegale Nutzung fremder Leute Inhalte “Diebstahl” heisst, müssen sich noch etwas gedulden: ich schreibe demnächst einen Artikel, weshalb ich die Musikindustrie (in großen Teilen) ebenso bescheuert finde wie die egoistischen illegalen Downloader.

Dirk von Gehlen hat dankenswerterweise das Thema bereits aufgegriffen:

[..]und das verwundert mich dann doch – schreibt der Strategieberater mit den Schwerpunkten Internet und Markenkommunikation tatsächlich von “Diebstahl”. [..]

Nein, das heißt nicht, dass ich es richtig finde, wenn im digitalen Raum vergütungsfrei geistige Schöpfungen konsumiert werden. Im Gegenteil: Ich glaube, dass die Digitalisierung das Urheberrecht vor große Herausforderungen stellt. Diesen wird man aber solange nicht angemessen begegnen können, wie man sie sprachlich nicht greifen kann. Und die Rede vom Diebstahl ist aus vielen Gründen nicht zielführend.


In der Tat.

Der Ausdruck des Diebstahls beim Zusammenhang mit immateriellen Gütern kommt vom irreführenden Begriff des geistigen Eigentums, das in der öffentlichen Debatte hanebüchenerweise mit dem Eigentum an physischen Gütern gleichgesetzt wird. Urheberrecht hat aber mit dem Eigentum an physischen Gütern nichts gemein.

Damit will ich weder Rechtsbruch verharmlosen noch gutheißen. Unautorisiertes Filesharing muss aber als das benannt werden, was es ist, und das ist nicht Diebstahl sondern unautorisierte Distribution. Und diese findet statt, weil den ehemaligen Konsumenten dabei keine zusätzlichen Kosten entstehen und diese Distribution dazu fast immer zusätzlich noch efffizienter als die autorisierte Distribution ist.

Die Gleichsetzung von unautorisiertem Filesharing und Diebstahl ist ein Ausdruck der Kampfrethorik der Rechteverwerter. Deshalb ist es besonders ironisch, wenn Sascha Lobo denen, die um korrekte Bezeichnungen bitten, "Newspeak", also propagandistische Verfälschung der Sprache, vorwirft.

Tatsächlich sprechen wir hier von verschiedenen Dingen. Bei immateriellen Gütern kann es immer nur um Nutzungsrechte gehen, die von einander auch losgelöst werden können - eben weil immaterielle Güter sich massgeblich von materiellen Gütern unterscheiden -. Würde man tatsächlich die Forderung "geistiges Eigentum" wie das Eigentum physischer Güter zu behandeln, durchsetzen, dann müsste man konsequenterweise auch einiges umsetzen, was natürlich grotesk wäre:

Wenn unautorisiertes Filesharing Diebstahl ist, …
  • ..warum kann man dann gebrauchte MP3s nicht weiterverkaufen?
  • ..ist dann das Herunterladen und anschließende sofortige Löschen Vandalismus?
  • ..warum geben dann einige Musiker ihre Musik kostenlos weiter? Kann es profitabel sein, sich bestehlen zu lassen?
Kopieren ist nicht stehlen.

Diebstahl bedeutet, dass jemandem etwas weggenommen wird. Die Plattenindustrie etwa argumentiert, dass ihnen potentielle Verkäufe gestohlen werden.

Das ist aber Unsinn. Man kann in diesem Zusammenhang nicht von Diebstahl reden, denn potentielle Verkäufe sind eben das, potentiell, und haben noch nicht stattgefunden. Wie widersinnig die Denkweise etwa der Plattenindustrie ist, zeigt auch David Weinberger in seinen 20 things I've stolen, auf die Dirk von Gehlen linkt. Ein paar Beispiele:

[..]

I remembered the movie times in my newspaper from the day before so I wouldn’t have to buy a copy of the paper today.

[..]

I have stared carefully at reproductions of great paintings.

[..]

I placed a bag on the seat next to me on the subway.


Der Punkt ist: Wenn man von potentiellen, also möglichen Einkünften spricht, die man nicht erhält, dann kann man den Verlust dieser nicht mit Diebstahl gleichsetzen.

Jedes entgangene Potential lässt sich zu einem Diebstahl umformulieren, wenn man nur eine möglichst radikale Sichtweise einnimmt.

Warum ist die Unterscheidung so wichtig?

Ganz einfach: Wenn Unternehmen, die, ob aus strukturellen oder anderen Gründen, ihr Geschäftsmodell nicht ändern wollen oder können, etwas, das ihr Geschäftsmodell untergräbt als Diebstahl hinstellen, dann schaffen sie eine Realität ohne Alternativen. Diese Realität benötigen sie, um zum Beispiel Gesetzesänderungen vorantreiben zu können, die ihre Geschäftsmodelle schützen.

Würde man stattdessen erkennen, dass die aktuelle Situation eine Frage von Geschäftsmodellen, also mehr eine wirtschaftliche Frage, denn eine von Verbrechen und Strafe ist, dann wären Gesetzesänderungen, die zum Beispiel Urheberrechtsverletzungen übermäßig hart bestrafen sollen, weniger konsensfähig.

Dass Experten wie Sascha Lobo oder auch die Publikation T3N von Diebstahl, von Contentklau reden, deutet darauf hin, wie erfolgreich die Propaganda der Plattenindustrie und der Filmindustrie in den letzten Jahren war. Es wird also noch sehr lang dauern, bis die Gesellschaft die Zusammenhänge erkennt, wenn selbst die hiesigen Experten sie nicht erkennen. Ironischerweise wird die Mehrheit der Gesellschaft trotzdem weiterhin regelmäßig gegen das aktuelle Urheberrecht im Internet verstossen.

Ich sage es ganz offen: Jeder, der vom Diebstahl immaterieller Güter spricht, verfolgt damit entweder Eigeninteressen oder weiß schlicht nicht, wovon er redet.

Noch ein paar ausgewählte Zitate zum Thema:

Michael Hutter, Professor an der Technischen Universität Berlin und Direktor der Abteilung “Kulturelle Quellen von Neuheit” am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung schreibt in der Sueddeutschen:

[..]

Geistige Inhalte sind öffentliche Güter, das heißt, sie können von vielen gleichzeitig genutzt und sie können leicht erschlichen werden. Darin liegt ein Problem. Aber dieses Problem lässt sich erst lösen, wenn die falsche Rede vom Diebstahl einer Sache aufhört.


Franz Schmidbauer, Richter am Landesgericht Salzburg, auf Futurezone:

Ein solcher Vervielfältigungsvorgang kann aber auch dann, wenn er nach dem Gesetz nicht zulässig ist, niemals als Diebstahl angesehen werden, weil nichts weggenommen wird. Ein Diebstahl ist laut Strafgesetz "die Wegnahme einer beweglichen Sache, mit dem Vorsatz, sich zu bereichern". Beim Download von Musik wird niemanden etwas weggenommen, da das kopierte Musikstück ja weiterhin verfügbar ist. Begriffe wie "Diebstahl geistigen Eigentums" oder "Raubkopie" sind psychologische Kunstgriffe, um Tauschbörsennutzer in den Bereich der schweren Kriminalität zu hieven.

Thomas Hoeren, Professor am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, Internetrechtsexperte und Richter am Oberlandesgericht, auf Zeit Online:

Multimedia heißt auch Multilegia. Das Internet führt zu einer Diversifizierung von Vertriebswegen, zu einer Vielfalt neuer Kommunikationsakteure und schnelllebigen Intermediären. Dass das den alten Anbietern wie den Verlegern Angst macht, ist klar. Die verlieren täglich an Bedeutung, was ihre Geldquellen und Netzwerke angeht. Aber Jura ist nicht dazu da, solch antiquierte Geschäftsmodelle zu schützen.

Professor Hoeren in der Anhörung der Enquete-Kommission:

“Bitte verzichten Sie auf den dummen Begriff des ‘geistiges Eigentums’. Der kommt aus der Diskussion etwa 1810 bis 1830, als die Preussen einen Kampfbegriff brauchten, um das Urheberrecht zu pushen. (…) Das Ding heißt ‘Immaterialgüterrecht’, das ist die übergeordnete, neutrale Formulierung."

Wir müssen die irreführenden Kampfbegriffe hinter uns lassen, um über die Veränderungen und die damit verbundenen Chancen und Risiken ernsthaft und konstruktiv reden zu können. Bis dahin scheint es aber noch ein weiter Weg zu sein.

Ich bin gespannt, wie Sascha Lobo Diebstahl und immaterielle Güter in seinem angekündigten Artikel zusammenbringen wird. Mit Logik wird es nicht viel zu tun haben.

Update:

Neben einigen Reaktionen auf diesen Artikel hat auch Sascha Lobo geantwortet:

Die bescheuerte Musikindustrie und die egoistischen Filesharer

Meine Replik auf Sascha Lobos Antwort findet man hier:

Filesharing-Debatte: Geschäftsmodellfragen statt ‘Diebstahl’-Argument

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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