Das Ausmaß des Abhörskandals und die Konsequenzen, die wir noch lange spüren werden, können kaum überschätzt werden. Mit einem Schlag wurde uns in den letzten Tagen gezeigt, dass unsere Privatsphäre so wenig zählt wie unser Grundgesetz oder die Souveränität unseres Landes. Das alles ist, so wird uns nun bewusst, noch weniger als Verhandlungsmasse, weil unsere Regierung diese Dinge im Zweifel auch ohne Verhandlung aufgibt.
Dass keine rasche, vehemente Reaktion einer alerten Bundesregierung auf den Abhörskandal folgte, sondern stattdessen, man hätte eine Steigerung dieser unionsgeführten Regierung nicht zugetraut, wieselndes Herumdrucksen an allen Fronten einsetzte, könnte der Politikverdrossenheit in diesem Land einen neuen Rekordwert verschaffen. Die Grundpfeiler unserer Demokratie wurden massivst erschüttert und die Bundesregierung verhält sich, als wären Kavaliersdelikte aufgedeckt wurden, deren Bedeutung erst noch erörtert werden müssen.
Das ist alles bereits bei weitem schlimm genug, aber die langfristigen Folgen sind sehr viel weitreichender. Deutschland ist ein Land, in dem es bis noch vor zwei, drei Jahren unter den Eliten des Landes nicht nur legitim sondern en vogue war, das Internet an sich für ein vergängliches Spielzeug zu halten und allen Ernstes frei von Selbstreflektion und damit Erkenntnis, wer Vater des Gedankens sein könnte, die Haptik von Zeitungen und Büchern als Allheilmittel gegen den Medienwandel in's Feld zu führen. In Deutschland kann ein Bestseller 2012 "Digitale Demenz" lauten und trotz offensichtlicher Mängel bei Argumentation, Logik und Sachverstand des Autors, mit vollem Ernst in Zeitungen und TV diskutiert werden.
Zähneknischend hat man sich von der Spielzeugsicht in den letzten Jahren verabschiedet. Das Internet wollte nicht weggehen und wurde stattdessen immer wichtiger. Und die unverbesserlichen Deutschen googeln nicht nur mit Google jeden Tag millionenfach sondern benutzen auch Facebook, die andere satanische Brut kalifornischer Herkunft, und machten sie zum populärsten Social Network in Deutschland; hinter Google-Tochter YouTube. Folglich ging man in den Leitartikeln und auf den Titelseiten dazu über, auf einzelne (US-)Webunternehmen einzuschlagen statt das gesamte Internet hinfortzuwünschen.
In den ersten Tagen, in denen dank der bewundernswerten Courage und des Mutes von Edward Snowden die ersten Informationen über PRISM an die Öffentlichkeit gelangten, konnte man deshalb förmlich einen kollektiven Seufzer der Beruhigung aus den konservativen Redaktionen Deutschlands vernehmen. Das Internet, endlich hat es einen Makel. Einen systemischen noch dazu. Welch Glück! Die NSA kann nicht einfach über Ihre Schulter schauen, während Sie Texte in der papiernen Zeitung lesen. Also besser nicht das Abo abbestellen! Im Internet dagegen, da haben Sie keine Privatsphäre. Nie gehabt. Und jetzt, da auch Sie es wissen, gehen Sie für Privatsphäre, das wird uns von einem Redakteur des Politikressorts der ZEIT allen Ernstes empfohlen, einfach für Gespräche in den Wald, wie damals zu DDR-Zeiten. Das ist nicht nur Resignation, das ist auch ein gutes Stück Häme. Resignation und Häme, wo eine Gesellschaft geschlossen für die Rechte einstehen sollte, für die sie bis vor kurzem zu stehen vorgab. Häme der Leute, die online nur Google, Email und maximal Amazon benutzen. Die Leute, die mit den für viel Geld für ihre Publikationen entwickelten und deswegen von jeder Usability weit entfernten Content-Management-Systemen hadern. Die Leute, die nicht verstehen, was so viele jeden Tag auf Facebook oder Twitter machen.
Man kann insofern froh sein, dass mittlerweile auch bekannt wurde, dass Telefongespräche mitgehört werden, dass Telefonverbindungsdaten gespeichert werden und dass sogar die deutsche Post Briefsendungen protokolliert und die Daten in's Ausland weiterleitet. Man kann also froh sein, dass die massive Ausspioniererei deutscher Staatsbürger durch ausländische Geheimdienste nicht nur im Internet, dem elitenfernen Netz der Freaks, passiert sondern auch da stattfindet, wo die deutschen Eliten sich bewegen und kommunizieren: Post, Telefon, mit Sicherheit auch Fax und (EU-)Büros.
Der Schaden ist aber nun da und wird nicht weg gehen, selbst wenn auch die Faxgemeinde ins Mark getroffen wird. Wer glaubt, dass Angela Merkel, das einzige westliche Regierungsoberhaupt, das Magierin, Kaninchen und Hut zugleich ist, zu einem historischen Schritt in der Lage ist, macht sich etwas vor. Angela Merkel hat acht Jahre lang keine inhaltliche Position gegenüber ihrem Volk eingenommen, auf das der gemeine Wähler von der Straße verweisen könnte; von der unsäglichen, die EU zerstörenden Austerity-Politik abgesehen. Das ist auch ein Versagen der Medien: Die Bundeskanzlerin nutzt konstant eine Schwäche der Massenmedien aus. Indem sie nie Stellung bezieht, macht sie sich dank fehlender Zitierbarkeit unangreifbar und folglich wird nichts negatives im kollektiven Bewusstsein mit ihr in Verbindung gebracht.
Weil die deutschen Medien sie praktisch nie dafür anprangern, unterstützen sie das systematische Für-nichts-stehen der Kanzlerin, die nur reagiert, wenn der öffentliche Druck zu groß wird. Folglich sind diese Reaktionen immer mehr oder weniger folgenlose Lippenbekenntnisse wie der 'Atomausstieg' nach der japanischen Kernschmelze. Angela Merkel nimmt niemals eine Position ein, die im eigenen Land kontrovers diskutiert würde. Im System Merkel verlieren die Politiker, die öffentlich Stellung beziehen, weil sie sich medial angreifbar machen. Merkel dagegen verweigert den Medien Zitate und Referenzierbares. Positionslosigkeit wird medial indirekt belohnt. Eine so agierende Politikerin wird niemals versuchen, die USA, unseren Freund, Helfer und Abhörer, zu einem historischen Abkommen zu bewegen, das Grundrechte international absichern würde. Die Axel-Springer-Presse würde das nicht zwingend gut finden und die Chance, zu scheitern, ist groß. Eine Machtpolitikerin wie Angela Merkel, der Bürgerrechte inhaltlich egal zu sein scheinen, wird dieses Risiko niemals eingehen. Dann lieber Lippenbekenntnisse der US-Regierung einholen und aussitzend darauf hoffen, dass die Medien ein anderes Thema finden und diese Sache vergessen.
Es wird also unter einer Merkel-Regierung keinen Vorstoß geben, der die USA zum Einlenken zwingt und der deutschen Bevölkerung ihr Vertrauen in die Benutzung des Webs zurückgibt. (Nur damit hier keine Missverständnisse aufkommen. Die USA sind mächtig, egoistisch und arrogant und die NSA und ihrer Verbündeten würden sich mit Händen und Füßen wehren gegen ein internationales Abkommen, dass ihren Handlungsspielraum massgeblich einschränken würde. Aber ein fest entschlossenes Deutschland hätte schnell die Mehrheit der EU-Staaten und mit hoher Möglichkeite alle EU-Staaten hinter sich. Die USA braucht das kommende Freihandelsabkommen mit der EU mindestens so sehr wie die EU und kann sich keine Abkühlung der Beziehungen zu Europa erlauben. Europa dagegen hätte Optionen, die nicht zwingend attraktiv, aber doch existierende Optionen sind: China, Indien und Russland etwa wären sicher an engerer Zusammenarbeit mit einem mit der USA fremdelnden Europa interessiert. Allein diese Aussicht dürfte für einen transatlantischen Poker nicht unerheblich sein.)
Das ist ein Problem für Deutschland, das bereits eine eher schwache Internetwirtschaft hat. Es mag sein, dass eine Imagekampagne deutscher Webstartups eine Chance für die hiesige Wirtschaft sein könnte. Aber dass es noch keine gibt, kann zwar ein Hinweis auf politisches Desinteresse bei deutschen Webstartups sein (kein geringer Teil der Gründer und Belegschaften Berliner Webstartups spricht übrigens wenig bis fast kein Deutsch), wahrscheinlich ist aber auch, dass das Problem tiefer liegt.
Jedes deutsche Startup, dass auf Amazons Cloud-Computing AWS setzt, um etwa Bilder auszulagern, kann nicht mit "Datenschutz made in Germany" werben. Das gleiche gilt für Startups, die Cloudflare einsetzen, Facebook-Logins anbieten oder andere Cloud-Computing-Lösungen für das eigene Angebot nutzen. Von iOS- und Android-Apps, die alle auf US-amerikanischen Betriebssystemen stattfinden, ganz zu schweigen.
Globale Arbeitsteilung existiert auch und gerade in der Webwirtschaft. Und besonders hier dominieren US-Anbieter, weil sie qualitativ oft überlegen sind. Was wäre nun die Option für deutsche Startups? Auf all die Erungenschaften der letzten Jahre verzichten? Auf die leicht skalierbare Auslagerung mit S3 und co. verzichten? Das ist nur dann kein Problem, wenn man auch auf die eingebaute Viralität von Facebook verzichtet. Denn dann hat man mangels Reichweitenexplosion auch kein Skalierungsproblem mehr.
Frank Schirrmachers Naivität, wenn er zum wiederholten Male europäische Alternativen zu Google und co. fordert, wäre in einem anderen Zusammenhang geradezu liebenswert, wenn sie nicht von einem FAZ-Herausgeber kommen würde, der erstens längst wissen müsste, dass es staatlich finanzierte Alternativflops gab als auch, dass gerade sein Verlag im juristischen Alltag (gegen Perlentaucher, Commentarist etc.) als auch auf Gesetzgebungsebene (Presseleistungsschutzrecht) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine deutsche Internetwirtschaft arbeitet. Ganz davon abgesehen, dass privatwirtschaftliche Alternativen nicht aufgrund von Forderungen entstehen.
Ein "Social Web made in Germany" ist keine Option. Es ist so realistisch wie ein Deutschland, das weder Güter importiert noch exportiert. Wer also ein Web rein deutscher oder europäischer Bauart als Lösung sieht, ist hoffnungslos naiv und weiß nicht, wie die heutige Internetwirtschaft arbeitet und wo sie sich hinbewegt. Die wahrscheinlichere Richtung, die das digitale Deutschland dagegen einschlagen wird ist düster: Das einzige Land weltweit mit Presseleistungsschutzrecht und verpixeltem Street View wird seinen Marsch auf die hinteren Ränge fortsetzen. Der Makel des privatsphärenfreien Internets wird dazu führen, dass der fehlende Wille zum Breitbandausbau nicht in Frage gestellt wird. Er wird die von der jahrelangen Hysterie der Kalifornienhetze der deutschen Presseverlage und TV-Sender verunsicherte Bevölkerung davon abhalten, eine vorsichtige Neugier zu entwickeln. Kurzum, der Abhörmakel des Internets wird den wichtigsten Wirtschaftszweig des 21. Jahrhunderts in Deutschland weiter diskreditieren. Aus dem Very-Late-Adopter-Land wird ein Never-Adopter-Land werden und man kann es ihm nicht einmal verdenken.