Martin Gaedt, Buchautor zum Thema, im Interview mit kununu (der seit 2013 zu Xing gehörenden "größten Arbeitgeber-Bewertungsplattform in Europa"):
Mehr als vier Millionen Deutsche arbeiten im Ausland. Damit sind wir Vize-Europameister direkt hinter Polen. Von allen Deutschen haben 15,1 Prozent einen akademischen Abschluss, von allen im Ausland arbeitenden Deutschen hingegen 84 Prozent. Wer geht, ist gut gebildet und flexibler. Weltweit tobt der sogenannte „war for talents“ um Software-Entwickler, Ärzte und Hoteliers. Warum gehen vier Millionen Fachkräfte weg? Meistens wegen befristeter Verträge oder schlechterer Bezahlung in Deutschland. Fachkräftemangel? Oder mangelhafte Verträge? [...]
Fachkräftemangel lenkt von vielen Mängeln ab. Mangel in der Unternehmenskultur. Mangel an magnetischer Anziehungskraft. Mangel an Experimenten in der Personalgewinnung. Mangel an Alleinstellung im Recruiting. Wie erreichen Betriebe die Menschen, die sich gar nicht bewerben? Wer erreicht die passiv suchenden Bewerber, die also nicht aktiv suchen, aber wechseln würden, hätten sie ein attraktives Angebot. Warum pendeln 60 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Arbeit, obwohl es überall vor der Haustür einen Teil der 3,6 Millionen Unternehmen gibt. Nehmen Betriebe Quereinsteiger? Querdenker? Regelbrecher? Sortiert das Bewerber-Managementsystem systematisch interessante Persönlichkeiten aus? Besetzen Unternehmen Vollzeitstellen mit zwei Kandidaten in Jobsharing-Tandems? Wer sagt, dass Azubis jung sein müssen? Wer bildet 25-jährige und 45-jährige aus? Es gibt Hunderttausende Studienabbrecher. Das sind perfekte Azubis, die nicht mehr zur Uni abhauen. Wie bleiben Unternehmen im Recruiting auf dem Laufenden? Oder machen sie das Gleiche wie immer?
Der "Fachkräftemangel", wie er in Deutschland diskutiert wird, schiebt die Schuld weg von den Unternehmen. Die weitverbreitete deutsche Unternehmenskultur (risikoscheu in allen Dimensionen bis hin zum Mausgrau-Fetisch) schlägt auch hier wieder zu. Besonders der erste zitierte Absatz oben legt den Finger in die Wunde.