Wie immer, ist zum aktuell heißesten Online-Thema Sascha Lobo lesenswert. In seiner aktuellen Spiegel-Kolumne schreibt er unter anderem, dass die Marktgegebenheiten Musk Grenzen aufsetzen, was Musk mit Twitter machen kann, will er nicht viele Milliarden in ein hochdefizitäres Netzwerk verlieren. (Ähnliches hatte ich in Nexus 107 im Juni argumentiert (nur für Mitglieder))
"Der Markt" setzt Musk Grenzen auf in Form von (u.a.) Werbekunden und (bald) Endnutzer:innen, die bald zahlenmäßiger direkt für diverse Funktionen bezahlen (werden, hoffentlich).
Das ist sehr richtig und oft unterschätzt. Grundsätzlich können Unternehmen weitaus weniger frei agieren als es Laien annehmen. (Und andersherum sind viele Probleme, die wir online haben, nicht allein die Folgen böser Entscheidungen von Zuckerberg und co. sondern eine Mischung aus menschlicher Natur und Versäumnisse der Zuckerbergs.)
Diese Grenzen sind allerdings enger gesteckt als viele denken. Sie sind auch nicht starr und leicht zu erkennen. Das haben Social Networks so an sich.
Wenn man Unternehmen einordnet, lässt sich fast immer aus der Stärke einer Unternehmensposition auch ihre Schwäche ableiten. Die zwei Seiten der gleichen Medaille.
Amazon etwa will der "Everything Store" sein und mit dem Marktplatz im besten Falle also alles abdecken, was man so kaufen wollen würde. Das ist bei weitem nicht der einzige Grund für den Erfolg des Marktplatzes, aber es war eine wesentliche Voraussetzung für die heutige Marktmacht im Onlinehandel und wichtig um etwa Google als Produktsuche gefährlich zu werden. Aus dem "Everything-Store"-Raster ergibt sich allerdings auch eine wesentliche Schwäche von Amazon: Jede Produktkategorie wird in das selbe Raster gepresst, egal ob Tomaten, Fernseher oder Jeans. Das funktioniert natürlich je nach Produkt nur so mittel, weshalb etwa in Europa unter anderem ein Zalando groß werden konnte. Niemand (oder zumindest nicht jede:r) will Fashion wie Tomaten shoppen.
Eine ähnliche Stärke-/Schwäche-Medaille gibt's auch bei Twitter.
Was ist Twitters Besonderheit?
Es sind nicht 280 Zeichen. Es ist nicht die Timeline. Es ist nicht die Text-Zentriertheit. Es ist auch nicht das damals 2007 revolutionär gewesene Follower-Prinzip, das den einzigartigen Interest-Graph ermöglich hat. Auch wenn das alles hineinspielt, ist das nicht Twitters heutige Stärke. Jedes Netzwerk kann das kopieren.
Twitters Stärke ist seine Universalität. Die Anwesenheit von Politiker:innen, von Prominenten, von Journalist:innen, von Forscher:innen und Expert:innen, die sich öffentlich äußern wollen.
Twitter hat wenige sehr hyperaktive Poweruser und ein toxisches Umfeld. Twitter ist außerdem das einzige Netzwerk, auf dem sich von Obama bis Taylor Swift alle zu Wort melden. Einzig Instagram kommt dem nahe. (Instagram ist auch das Netzwerk, das neben LinkedIn am meisten vom Twitter-Exodus profitieren könnte.)
Es ist das zweischneidige Schwert der Netzwerke. Sie sind da, weil die anderen da sind, und umgekehrt. Ein Tweet von einer prominenten Person stellt sicher, dass die Aussage bei den Journalist:innen ankommt, die Journalist:innen sind auf Twitter, weil sie wissen, hier gibt es Informationen.
Diese besondere Universalposition ist so stark wie sie fragil ist.
Sie ist auch zum Teil von einem funktionierenden Verificiation-System abhängig.. Denn ein nicht funktionierendes System erhöht die Nutzungskosten für diese Nutzerschichten enorm. Von den schwerwiegenderen Problemen ganz abgesehen.
Anyway. Diese Universalposition, diese Position von Twitter als Default für "ich berühmte Person will im Internet was Öffentliches sagen und sicherstellen, dass es alle relevanten Medien direkt von mir mitbekommen", funktioniert nur, so lang das Gefühl da ist, dass alle anwesend sind.
Seit Jahren verlassen prominente Nutzer die Plattform, zufälligerweise sind es irgendwie überwiegend oft Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, hm, hmmm.
Twitters Universalstatus ist das wichtigste Asset. Es ist außerdem so leicht zu verlieren, wie ein Kartenhaus einbrechen kann.
Denn selbst wenn 80% der angesprochenen Nutzer bleiben, verliert Twitter seinen Backchannel-für-Massenmedien-Status. Vielleicht muss der Nutzerschwund auch größer sein, vielleicht kleiner; die Nutzer müssen ihre Accounts auch nicht schließen, es reicht wenn sie nicht mehr kommen. Twitter hat ungefähr 230 Millionen tägliche aktive Nutzer (DAU) und über eine Milliarde(!) Karteileichen. Also Menschen, die irgendwann in den letzten Jahren einen Account angelegt haben und irgendwann kurz oder lang danach dachten 'lol, nope'.
Das ist vor dem Hintergrund einer zunehmend passiven Twitter-Nutzerschaft, die von einer kleinen Zahl sehr aktiver Nutzer verdeckt wird, bei der die aktive Nutzerzahl seit Jahren sinkt, ein ziemlicher Balanceakt.
Wann kippt die Universal-Realität in eine nur gefühlte Realität?
Hier ein, zwei falsche Schritte, zum Beispiel wichtige Dinge wie Moderation der bereits toxischen Plattform auf 15 Leute kürzen, kann eine Kaskade in Gang setzen, die kaum aufzuhalten sein könnte.
Die andere Seite dieses Balanceakts sind die Werbekunden.
Twitter war die letzen Jahre Teil des Onlinewerbemixes einfach, weil es eine Plattform war, die nicht zu Meta oder Google gehörte und eben ein Teil der Online-Öffentlichkeit, den jede:r kennt. (Im Gegensatz zum größeren Snapchat und jüngeren TikTok.) Twitter hat einerseits wenig Inventar und andererseits ein grotesk schlechtes Adtargeting-System.
Twitters Ad-System war so schlecht, dass es die Chancen, die App-Tracking bot, und die Meta und andere reich machte, nicht zu nutzen wusste. Was zur Folge hatte, dass das ineffiziente Twitter nicht von Apples ATT getroffen wurde.. (Siehe dazu Nexus 104 von August (nur für Mitglieder))
Musks Übernahme und vor allem Musks chaotisches Verhalten veranlasst nun gerade Werbekunden ihre Werbeausgaben auf Twitter zu pausieren. Das dürfte vor allem aus einem "warum machen wir das überhaupt" und "von dort kommt kaum messbares" und "wir müssen eh Marketingausgaben sparen in diesen Zeiten" kommen.
L'Oreal schmerzt Twitter-Verzicht nicht. Twitter schmerzt aber L'Oreals Verzicht.
Damit werden die Spielräume für Musk zügig sehr klein.
Twitter ist hochverschuldet und verdiente bereits vorher zu wenig und verliert nun Werbekunden.
Das Subscription-Business wird a.) langsam wachsen und kann b.) das Netzwerk kaputt machen, je nachdem wie es aufgesetzt ist.
Hier zeigt sich bereits ein grundlegendes Missverständnis von Musk und co.: Die wichtigen einzigartigen Kings und Swifts zur Kasse bitten zu wollen oder anderweitig zu vergraulen, wäre katastrophal für Twitter.
Sascha Lobo hat also recht. Der Markt setzt Musk Grenzen auf, was er machen kann. Allerdings sind diese Grenzen so eng, dass es schnell frustrierend werden wird für Musk, der, habe ich gehört, noch andere Firmen leitet?
Ich gehe deshalb wie andere davon aus, dass Musk Twitter innerhalb der nächsten 6 bis 12 Monate für einen Bruchteil des Preises weiterverkaufen wird. Und/oder Twitter durchläuft einmal Insolvenz. (Man stelle sich die Memes vor.)
Vielleicht wird es auch anders laufen, und Musk und co. schaffen einen beachtlichen Turnaround. Ich halte das aber mit jedem weiteren Tag für unwahrscheinlicher, gemessen daran welche Informationen öffentlich werden.
Um es ganz klar zu sagen: Es ist ein hochkomplexes Problem und die Deadline (wegen Schulden aus der Übernahme) ist brutal nah und die Organisation dahinter, ob voll besetzt oder mit halber Besetzung, hat bis dato nicht mit guter Umsetzung geglänzt, oder schneller Umsetzung, oder Umsetzung Punkt.
Die Frage bleibt meines Erachtens nur, wer nach Musk zuschlagen wird. Ein von A16Z geleitetes Konsortium? Saudi-Arabien?
Fun times.