Softwaredynamiken in der Wirtschaft zeichnen sich im Grunde immer dadurch aus, dass sie gewisse Aspekte extremer machen. Das ist nicht überraschend und nicht nur in der Wirtschaft so: Software nimmt da wo sie eingesetzt wird, an bestimmten Stellen Reibung heraus. Wie bei einer mathematischen Gleichung, bei der eine Variable auf Null gesetzt wird.

Das heißt etwa, Software kann Marktmacht unermesslich steigern, weil sie im Vergleich zu offline 'Reibung' herausnimmt: Geografische Beschränkungen, Grenzkosten. Mit Software sinkt das je nach Produkt nicht ein bisschen, sondern kann komplett verschwinden.

Das Gleiche gilt für Arbeitsteilung: Sich auf die eigenen Kompetenzen zu konzentrieren und so viel wie möglich vom Rest abzugeben, war auch vor dem Internet eine sinnvolle Sache. Aber die heutige Welt ist diesbezüglich mit der Welt vor 20 Jahren, ja selbst mit der Welt vor 10 Jahren, nicht mehr vergleichbar.

Das ist natürlich immer strategisch im Einzelfall gegen etwaige Abhängigkeiten von außen abzuwägen. Der Punkt ist lediglich: Die allgemeine Empfehlung, sich darauf zu konzentrieren, was man gut kann selbst zu machen und alles andere wenn sinnvoll abzugeben, wird mit den heutigen softwaregestützten Werkzeugen noch wichtiger, weil sich die möglichen Wege potenziert haben: Nicht nur Auslagerung, was am Rand stattfindet (Zoom etc.), sondern auch zentrale Elemente des Kerngeschäfts, die am Markt in Form von SaaS wie Lego-Bausteine angeboten werden.

Quick-Commerce wie Flink oder Gorillas macht Onlinelebensmittelhandel mit der Besonderheit der schnell(st)en Lieferung. Aus dieser simplen Aussage folgt alles andere: Das kleinere Produktsortiment, die gesamten operativen Strukturen, die Warenkorbgrößen, die Bestellfrequenzen. Also anbieterseitig wie kundenseitig.

Wie die Struktur des Marktes sich entwickelt, hängt auch davon ab, wie die Arbeitsteilung bei den Grundbausteinen des Angebots aussieht. Sprich also: Gibt es Hürden, die jedes Unternehmen nehmen muss? Oder können die Fähigkeiten, diese Hürden zu nehmen, notfalls eingekauft werden?

Cloud galore

Beispielsweise ist es zwar in vielen Fällen bei den direkt zuordbaren Kosten teurer auf Cloud-Anbieter wie AWS oder Azure zu setzen statt eigene Serverräume zu betreiben. Aber Cloud statt On-Premise einzusetzen, macht auch flexibler und bindet weitaus weniger indirekte Ressourcen, die bei gutem Controlling korrekt zugeordnet werden (weniger Arbeitnehmer, weniger Raum, weniger Planung). Es ist eine organisatorisch getriebene Entscheidung. (Also nicht auf Basis der Eigenschaften der Technik, sondern auf Basis der Auswirkungen auf die gesamten Ressourcen in der Organisation. Die durch Cloud gewonnene Flexibilität hat noch weitere Aspekte.)

Was das für Startups heutzutage bedeutet, wird selbst oft in der Fachöffentlichkeit noch unterschätzt.

B2B-SaaS als Durchlauferhitzer und Markteintrittsbarrierenabsenker

Eines meiner Hobbies: möglichst lange Wörter erschaffen.

Flink setzt für ein zentrales Element seines Angebots, die schnell(st)e Lieferung, auf M-Tools des Hamburger Unternehmens M-Tribes. M-Tools ist u.a. die Softwarebasis für das Matching von Kurieren und Bestellung, hat eine App für die Kuriere und bietet eine API für die Darstellung des Lieferstatus in der Endkundenapp. Auf M-Tools bin ich bei meiner Arbeit am Innovations-Report mit Kernpunkt gestoßen, in dem wir eben solche innovativen Dienstleister für den Onlinehandel gesucht und untersucht haben.

Auch die rasant wachsende Bedeutung von B2B-SaaS für alle Bereiche der Wirtschaft wird noch unterschätzt.

Neben Werkzeugen für die interne Organisierung, die Dimensionssprünge in der Qualität der Zusammenarbeit ermöglichen, sind es vor allem SaaS-Angebote, welche Bausteine für Endangebote umsetzen, die massgeblich Märkte verschieben können.

Nehmen wir M-Tools und Flink.

Flink und andere müssen nicht -es tut mir wirklich leid, aber da müssen wir jetzt durch- das Rad neu erfinden. Effizientes Kurier-Bestellung-Matching ist nicht trivial. Natürlich kann ein Quick-Commerce-Anbieter das selbst umsetzen. Aber wenn eine an die eigenen Bedürfnisse anpassbare Lösung existiert, gibt es nur wenige Gründe, warum man das trotzdem selbst machen sollte. (Preise und konkrete Flexibilität können solche Gründe sein. Auch durch Internationalisierung hinzukommende Komplexität kann ein Grund sein.)

Das Matching selbst ist eine Ingenieursleistung, die, sobald sie von einem SaaS-Dienstleister erfolgreich angeboten werden kann, austauschbar ist, table stakes, muss man haben, setzt einen aber gleichzeitig nicht von der Konkurrenz ab.

Die Existenz eines zentralen Bausteins in Form von SaaS hat noch weitere Auswirkungen:

  • Die Markteintrittsbarrieren sinken dramatisch.
  • Kleine Testprojekte können ohne großes Vorabinvestitionsrisiko umgesetzt werden.
  • Der Markt kann sich schneller, rasanter, entwickeln.
  • Gleichzeitig wird die Qualität dieses Bausteins in der Regel über die Zeit immer besser.

Warum wird die Qualität des Bausteins besser? Der SaaS-Anbieter ist Spezialist und kann bei Erfolg auf eine breitere Nutzung und die entsprechenden Feedbackloops (Datennetzwerkeffekte als auch klassisches Kundenfeedback) setzen.

Kurzum, der SaaS-Anbieter genießt bei Erfolg größere Skaleneffekte als ein Anbieter, der das gleiche nur für sich selbst umsetzt. Das bedeutet nicht, dass es nie gute Gründe gibt, sich bei Bausteinen gegen SaaS und für In-House zu entscheiden. Es bedeutet nur, dass SaaS als solches ganz eigene strukturelle Dynamiken in Branchen reinbringt.

Was zeichnet einen Quick-Commerce-Anbieter aus? Flink setzt für einen wesentlichen Teil des Flottenmanagements auf M-Tools. Seit Sommer 2021 kommen die Lebensmittel bei Flink von Rewe. (Supermarktblog) Das ist im Grunde auf eine Art durchaus eine Weiterführung des Sie-besitzen-gar-kein-Inventar a la AirBnB und Uber.

Das hat natürlich nicht nur Vorteile (Flexibilität, Geschwindigkeit der Verbreitung) sondern immer auch Nachteile (Lieferantenabhängigkeit, potenzielle Austauschbarkeit des Sortiments).

Was ist Flink? "Nur" eine App? "Nur" der Kundenzugang, also die gewonnene Kundschaft? Wie definiert man das Unternehmen? Sollte es überraschen, dass sie zentrale Elemente ihres Geschäfts "auslagern"?

2. Beispiel: Marken online & Kernkompetenzen - Alnatura und Farmy

Die Bio-Lebensmittelkette Alnatura wird noch diesen Sommer einen eigenen Onlinearm starten.

Supermarktblog über die bisherige Situation:

Die eigenen Produkte werden seitdem online ausschließlich über Partner verkauft (per Lieferung oder Abholung im Markt), in Deutschland u.a. bei Knuspr, Bringmeister und Picnic (via Edeka) und Amazon Fresh (via Tegut).

​Für Knuspr und co. war (und ist) Alnatura im Sortiment ein Differenzierungsmerkmal gegenüber den Konkurrenten, die die populäre Biomarke nicht drin haben. Eine Marke mit Strahlkraft.

​Jetzt zusätzlich einen eigenen Weg zu gehen, ist einerseits ein größeres Unterfangen für ein Unternehmen der Art von Alnatura:

Der Alnatura-Test ist (wenn ich mich recht entsinne) der erste Versuch einer deutschen Bio-Fachhandelskette, die Kommissionierung und Auslieferung von online bestellten Lebensmitteln komplett in die eigene Hand zu nehmen.

Dabei geholfen haben dürfte, dass Ex-Bringmeister-Berater Dominique Locher, der bei Farmy als Investor und Verwaltungsrat an Bord ist, laut „Handelszeitung“ seit vergangem Jahr auch als Digital-Beirat bei Alnatura engagiert ist.

Vor allem aber wird Alnatura nach dem Liefer-Boom der beiden Corona-Jahre einen ganz guten Einblick in die Nachfrage nach seinen Produkten bei (regelmäßigen) Online-Besteller:innen von Bringmeister bis Knuspr haben. (Anders übrigens als fast alle direkten Wettbewerber, die online bislang gar nicht präsent sind.) Deshalb dürfte man in Darmstadt ganz gut einschätzen können, ob es sich lohnt, Bio-Fans künftig einfach direkt zu versorgen.

​Andererseits passt es aber gleichzeitig auch in unser Thema der Arbeitsteilung. Denn natürlich baut Alnatura die Online-Komponenten nicht selbst auf, was auch Wahnsinn wäre.

Die Biomarke Alnatura ist faszinierend. Das Unternehmen hat als Bio-Marke bei dm (und tegut) angefangen. Mit den immer zahlreicheren eigenen Filialen kam der Bruch mit dm (das seine dm-Bio-Marke mittlerweile offensichtlich über die gleichen White-Label-Lieferanten quasi identisch bestücken lässt). Alnatura hat sich über die letzten Jahre auf der Bio-Welle schwimmend zu einer starken Marke entwickelt.

Wer online Lebensmittel in Deutschland verkaufen will, ist also mit einer Alnatura-Kooperation gut beraten. Naheliegend also, dass Knuspr etwa Alnatura im Angebot hat. (Aktuell sind 815 Alnatura-Produkte bei Knuspr.)

Für den eigenen Online-Ansatz kooperiert Alnatura mit dem schweizer Lebensmittelonlinehändler Farmy, um ein eigenes Angebot auf die Beine zu stellen. Handelszeitung:

«Die Software, die wir für Farmy entwickelt haben, wollen wir künftig verstärkt auch externen Kunden zugänglich machen», sagt Farmy-Co-Chef Roman Hartmann.

Mit der Software ist ein kompletter digitaler Werkzeugkasten gemeint, inklusive Routenplanungs-Tool, Apps für das Kommissionieren und für das Ausliefern der Ware. Das komplette Frontend und Backend eben, das es für den Betrieb eines E-Commerce-Shops braucht. Händler, die selber noch nicht online aktiv sind, können diese Farmy-Tools direkt an ihre bestehenden IT-Lösungen anschliessen lassen und damit mit dem Online-Vertrieb loslegen.

Das ist smart von Alnatura. Sie müssen das alles nicht selbst aufbauen. Sie haben die Marke und die damit verbundenen Produkte. Das sind ihre Kernkompetenzen, die zählen. Der Rest muss und kann gar nicht noch mal erfolgreich neu erfunden werden.

Egal ob cutting-edge Startups wie Flink oder alteingesessene Unternehmen wie Alnatura, die Situation ist immer die Gleiche. Entweder das Rad selbst neu erfinden oder am Markt nach einsetzbaren Lösungen suchen, die am Rand oder gar im Kern des eigenen Geschäfts eingesetzt werden können.

Mit der Zunahme an sehr branchenspezifischen SaaS-Angeboten wie dem von Farmy wird es immer wichtiger, den eigenen USP und die eigenen Kernkompetenzen richtig einzuschätzen.

Wo die Reise hingeht: Super-Apps, Plattformen, Informationsarchitekturen, Tokens

Kevin Kelly hat mal gesagt, dass die Tatsache, dass das Internet Verbindungen erleichtert, nicht einfach dazu führt, dass Mittelmänner also Zwischenknoten wegfallen (das passiert auch) sondern, dass sehr viel mehr neue Zwischenknoten dazu kommen. Wenn Verbindungen einfacher werden, nimmt ihre Zahl zu. Sprich aus einer Offline-Kette A-B-C, in der die Aufgabe von B ist, A und C zusammenzubringen, wird online zwar an manchen Stellen A-C aber eben auch A-D-E-F-G-C. Immerhin sinken Kosten für Vernetzung gegen Null.

Im Kernpunkt-Report habe ich mir auch Appboxo angeschaut. Appboxo baut ein Backend für Super-Apps. Super-Apps sind Apps wie Grab oder WeChat, in denen Miniprogramme/Angebote von Dritten stattfinden. Extrem mächtige Plattformen in Asien. Appboxo erlaubt es einerseits App-Anbietern über die Einbindung selbst zur Super-App zu werden. Andererseits erlaubt es Drittanbietern, die auf Super-Apps stattfinden wollen, über Appboxo sofort bereit zu sein für mehrere (Möchtegern-)Super-Apps. Appboxo zieht den Plattform-Aspekt von der Endnutzer-App eine Ebene tiefer ins Backend. Im luftleeren Raum sollte natürlich jede angehende Super-App es vorziehen, eine eigene mit anderen Super-Apps inkompatible Plattform anzustreben.

In der Realität steht jede Super-App wie jede Plattform am Anfang vor dem Henne-Ei-Problem. Das kann man mit Appboxo umgehen und sein Heil in anderen Gräben als dem Plattform-Lockin finden.

Unter anderem die populärste Payment-/Super-App Indiens Paytm setzt auf Appboxo.

In neunetzcast 86 haben Matthias Pfefferle und ich über Protokolle und Standards und deren zugrundeliegenden Prämissen gesprochen. Es gibt unterschiedliche Arten, wie Dezentralität, oder Kollaboration auf der Informationsarchitekturseite, gedacht werden kann. Im nächsten neunetzcast spreche ich mit Leonhard Dobusch darüber, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine moderne Rolle in der vernetzten Öffentlichkeit finden kann.

Eine der großen Fragen unserer Zeit ist, welche Funktionen, egal ob Händler, Biomarke oder große Social-Plattform, gebündelt aus einer Hand angeboten werden müssen und was auf mehr Schultern verteilt werden kann, ja, verteilt werden sollte.

Es geht im Grunde immer um das Selbstverständnis der Organisationen. Und ein wirkliches Verständnis der Potenziale digitaler Arbeitsteilung.

Shopify arbeitet daran, für die Shops Wallets mit NFTs so sichtbar zu machen, dass Kollaborationen zwischen Marken, Händlern, Creators, you name it, sehr viel einfacher wird. Also Dinge, die heute Abhängigkeit von 100 propritären APIs von ebenfalls 100 Servern bedeuten würden und deshalb niemand angehen würde, künftig trivial zu machen. (Siehe dieses Interview zum Thema) Die Fundamente der digitalen Welt sind noch nicht für immer gesetzt.

Software entbündelt und bündelt wieder.

It‘s the same old story.

Nur mit weniger Reibung.


Teile dieses Textes sind bereits im Nexus-Mitgliedernewsletter erschienen: (Nexus 99: Flink, M-Tools & B2B-SaaS; ParcelLock; BAYC & die Zukunft von NFTs (Februar 2022), Nexus 105: Buy with Prime – ein kommender Tornado im Onlinehandel; was bei Netflix los ist; Amazon Freevee vs. RTL und co.; Farmy + Alnatura (April 2022)). Mehr zum Mitgliederangebot und was Mitglieder darüber sagen, findet Ihr hier.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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