Die Patreon-artige Plattform OnlyFans, die vor allem für pornographische Inhalte bekannt ist, hat verkündet, künftig (allzu explizite) pornographische Inhalte zu verbieten, weil ihnen Mastercard neue Regeln auferlegt hat (siehe xbiz), auch wenn sie diesen Grund öffentlich nicht nennen. Das führt aktuell an vielen Stellen zu einer Diskussion, ob das nicht eine ziemlich große Chance für Kryptowährungen ist. (Siehe etwa TechCrunch und wahrscheinlich jede Krypto-Publikation) Ich schrieb auf Twitter im ersten Impuls: "Sexarbeit, Pornographie + Subscribe/OnlyFans/Patreonstyle-Modell + Beschränkungen traditioneller Paymentdienstleister = ziemlich offensichtliche Killerapplikation für Cryptowährungsansätze". Um sich ein Bild zu machen, sollte man sich das aktuelle Krypto-Feld anschauen, das nicht mehr mit dem von vor fünf oder sieben Jahren vergleichbar ist (was, scheint mir, ein bisschen das verfestigte Bild der Kritiker/innen zu sein scheint.)
Für den Kontext deshalb jetzt auch öffentlich dieser Text, welcher zuerst in Nexus 64: Was Venezuela über Zukunft von Krypto-Währungen lehrt, Amazons Marktplatzarchitektur vs. AliExpress, Pearpop am 16.04.2021 erschienen ist. Mehr zu OnlyFans dann in der heutigen Mitgliederausgabe Nexus 77.
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Coinbase
Der Börsengang von Coinbase wird, ob der Größe, vielerorts als den Einzug der Welt der Kryptowährungen im Mainstream gefeiert.
Siehe etwa Vox:
The company’s direct listing on the Nasdaq is a “coming-out party” for cryptocurrencies, according to Erin Griffith of the New York Times. The tech policy site Protocol similarly declared Wednesday as the “biggest day yet for the crypto world.” As Paul Vigna, a Wall Street Journal cryptocurrency reporter, recently said, “Not only does it make crypto and bitcoin a little more acceptable, it now gives investors another way to invest in bitcoin.” […]
Since 2018, Square, the payment processing service, has let most of its payment app Cash App users buy and sell bitcoin. And lately, more and more of them have been doing so. Square CFO Amrita Ahuja said in February that 3 million people did transactions in bitcoin on the app last year, while 1 million did so in January 2021 alone.
Inflation & die drei Geld-Funktionen
Egal wie man zur Krypto-Welt steht (ich bin da eher ambivalent, abgesehen vom Umwelt-Aspekt bei Bitcoin und vergleichbar arbeitenden Blockchains), wer die künftige Entwicklung in diesem Bereich antizipieren will, sollte statt an die US-Börse nach Venezuela schauen.
Venezuela kämpft mit Inflation.
Ein Effekt von Inflation ist, dass die vom Staat ausgegebene Währung eine der drei wesentlichen Geld-Funktionen verliert und bei einer zweiten geschwächt wird. Diese drei Funktionen sind, ich zitiere die Bundesbank, könnte aber auch jedes x-beliebige Ökonomie-Lehrbuch sein:
Die Tauschmittelfunktion, die Funktion als Recheneinheit und die Funktion als Wertspeicher.
Inflation zerstört die Wertspeicher-Funktion und erschwert erheblich die Funktion als Tauschmittel, weil, einfach ausgedrückt, die Preise zu sehr schwanken. (Richtig schlimm wird es bei Hyperinflation wie in Deutschland in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.)
Daraus folgt dann, dass Menschen im Alltag Ersatz-Währungen nutzen. Damit eine solche „Ersatz“-Währung alle drei Funktionen erfüllen kann, muss sie unter anderem in großem Maß überregional verfügbar sein. Das heißt, Dinge die bereits in vielen Haushalten vorhanden sind, die einen inhärenten „Wert“ haben, und die leicht transportierbar sind.
Als „natürliche“, sich einfach ungeplant herausschälende „Ersatz“-Währungen haben sich deshalb oft Zigaretten (gute Recheneinheit, weil trennbar von Stangen bis einzelne Packungen und einzelne Zigaretten) oder Schnaps-Flaschen etabliert.
Es können also durchaus Verbrauchsgüter sein. Sie dürfen halt nur nicht nach kürzester Zeit schlecht werden. Stichwort Wertspeicher. Möhren würden keine gute Währung abgeben.
Anyway.
Venezuelas historische Besonderheit
Venezuela kämpft seit längerer Zeit mit Inflation. Eine historische Besonderheit der Situation in Venezuela ist, dass diese Situation erstmals in einer Welt stattfindet, in der für Transaktionen theoretisch auch Krypto-Währungen bereit stehen.
Wenn die eigentliche, vom Staat kommende Währung zunehmend weniger in Frage kommt, dann kommt die Nutzung anderer Währungen ganz von allein, graduell, bei Verschlimmerung der Situation immer mehr. Das „offizielle“ Geld verliert an Bedeutung.
Ob wir es gut finden oder nicht, ich bin mir relativ sicher, dass große Teile der Krypto-Welt nur darauf warten, dass Inflation die Währung eines Landes weniger brauchbar im Alltag macht.
Zigaretten kommen in Gefängnissen als Zahlmittel zum Einsatz, mangels Alternativen. Abseits von Bitcoin, dass sich als Zahlungsmittel im Alltag nicht eignet, hat sich in den letzten Jahren ein ganzes Krypto-Paymentsystem gebildet, dass bis dato auf seinen Einsatzzweck quasi wartet.
Inflation stellt den perfekten Kontext für diesen Einsatzzweck.
Man muss sich das so vorstellen: In den letzten Jahren ist eine neue Geld/Währung/Payment-Parallelwelt entstanden, für die es abseits von Spekulation (Bitcoin als Geldanlage) noch nicht viel Verwendung gab. Es kann, muss nicht, schnellere Transaktionen ermöglichen. Es kann, muss nicht, bequemer und günstiger sein.
Wenn jetzt eine Währung und damit das Alltagsgeschäft eines Landes in Inflationsprobleme kommt, dann ist das ein Einfallstor für diese Welt, deren Zahlungsinstrumente nicht an diese Währung und ihren Wertverlust gekoppelt sein müssen.
Und das passiert gerade in Venezuela.
Deutsche Welle spricht von „Venezuelas kleiner Krypto-Revolution“:
Auch das New Yorker Blockchain-Analysehaus Chainanlysis geht davon aus, dass Venezuela eines der aktivsten Länder weltweit in Bezug auf Digitalwährungen ist. Weil die meisten Kryptowährungen dezentral verwaltet werden, ist eine statistische Erhebung schwierig. Dennoch sei Venezuela nach den USA und Russland, das Land, das am meisten Digitalwährungen in US-Dollar P2P handelt – also direkt zwischen Käufer und Verkäufer. […]
In den großen Städten wie Caracas, Maracaibo oder Valencia ist es manchmal sogar möglich, an einem Straßenstand mit einem digitalen Coin zu bezahlen, berichtet der Krypto-Journalist José Maldonado. Auch in immer mehr Geschäften würden digitale Zahlungsweisen akzeptiert. „Möbel, Klamotten, Lebensmitel – eigentlich ist es möglich fast alles mittlerweile mit Kryptowährungen zu kaufen.“ […]
Maldonado schreibt von Venezuela aus für Cointelegraph, ein internationales Nachrichtenportal für Blockchain-Nachrichten. „Die Kryptwährungen haben hier bei uns eine hohe Präsens – vor allem Bitcoin, Ether, Dash und Eos“, schreibt er auf DW-Anfrage. Die Krypto-Handelsplattform Binance sei in Venezuela mittlerweile genauso bekannt wie die Traditionsbank Banco de Venezuela.
Facebook hat seine geplante Krypto-Währung/Payment-Lösung auch als eine Möglichkeit für Menschen angelegt gehabt, die für Arbeit ins Ausland gezogen sind und Geld zur Familie zurückschickt. Das war und ist ein sinnvoller Usecase, um so etwas zu etablieren, weil zum Teil hohe Transaktionsgebühren eingespart werden können. Konkrete Einsparungen können ein gutes Mittel sein, um Trägheit aufzubrechen.
Wenn Inflation in der Heimat dazu kommt, kommt damit ein sehr wichtiger weiterer Grund hinzu. Es ergibt dann nur noch sehr wenig bis keinen Sinn, Geld in die Heimat-Währung zu wechseln:
Gerade für die vielen mittlerweile im Ausland lebenden Venezolaner sind die Kryptowährungen eine Möglichkeit, günstig und schnell Geld an ihre Verwandten zu schicken. Von den knapp 30 Millionen Venezolanern sind fünf Millionen vor der sozialistischen Regierung ins Ausland geflohen.
Venezuela hat auch eine eigene, staatlich ausgegebene Digitalwährung, den Petro:
Die von Gabriel Jiménez miterschaffenen erste Digitalwährung eines Landes – der Petro – wird derweil weiter von der Regierung als staatliches Instrument eingesetzt. So verschenkt sie Petros im Rahmen von Sozialprogrammen. Mitte 2020 gaben Tankstellenbetreiber im Land an, dass rund 15 Prozent der Bezahlungen über den Petro abgewickelt worden sein. Anscheinend will die Regierung die Akzeptanz weiter erhöhen. Zum Ende des Jahres bekamen rund acht Millionen Angestellte als Weihnachtsbonus einen halben Petro – umgerechnet 30 Dollar. Wer den Bonus haben wollte, musste sich auf der staatlichen Plattform registrieren. Auch können Steuerzahlungen können seit Ende 2020 über den Petro getätigt werden.
Der Petro dürfte aber vor allem den Effekt in der Bevölkerung haben, dass das doch noch recht fremde Konzept einer rein digitalen Währung weniger fremd wirkt.
„Wie der Petro von der Regierung, aber unabhängig!“ ist ein gutes Verkaufsargument für Kryptowährungen.
Was das alles bedeutet
Staatsoberhäupter und Notenbankchefs haben immer große Angst vor Inflation. Zum Teil berechtigt, zum Teil getrieben von den Wünschen der wohlhabenden Eliten. (Wer viel Kapital anhäuft, hat bei einer Inflation viel zu verlieren.) Das Risiko, langfristig die Kontrolle über wesentliche Teile der Finanzwelt und damit der Wirtschaft zu verlieren, dürfte in den nächsten Jahren Inflation als zusätzliches Einfallstor noch mehr zum Schreckgespenst werden lassen.
Ein Szenario: Man stelle sich ein Europa in der Inflation vor und die europäischen Regierungen wollen ihrer Bevölkerung untersagen, ihre Geschäfte finanziell auf Krypto-Basis abzuwickeln, obwohl das eine für die Bevölkerung sicherere Basis in Bezug auf den Werterhalt im Gegensatz zum inflationären Euro bedeutet.
Wie erfolgreich wäre das? Wie sehr würde die reine Existenz von Krypto-Alternativen die turbulente Dynamik einer solchen Zeit noch verstärken? Wie sehr würde sich die Bevölkerung wehren, wie sehr würde es eine Rolle spielen, wann die nächsten Wahlen im jeweiligen Land sind? Wie sehr könnte vor allem die EU und der sowieso problematische Euro damit geschwächt werden?
Wie realistisch so ein Szenario ist, kann ich nicht beurteilen.
Nur eins kann ich sagen: Länder wie Venezuela sind international betrachtet ebenfalls Einfalltore für Krypto-Transaktionssysteme (um mal ein vielleicht passenderen Begriff für die Ökosysteme zu benutzen). In den nächsten 10, 20 Jahren wird Venezuela nicht das letzte Land gewesen sein, das Inflation in einer Welt mit Krypto-Alternativen und einer Bevölkerung mit Smartphones erleben wird.
Das muss auch nicht bedeuten, dass die Träume der Krypto-Fans von der dezentralen Krypto-Währung im Alltag eintrifft. Vielmehr bietet sich geopolitisch hier eine große Chance für China, das mit seiner eigenen Krypto-Währung vergleichsweise einfach bei anderen Ländern andocken kann und die lokale Regierung mit Infrastrukturinvestitionen locken kann. Vor allem kleine afrikanische und asiatische Länder könnten dafür in den nächsten Jahren empfänglich sein.
Sind die USA und die EU auf dieses Szenario vorbereitet?