Im Feuilleton der Süddeutschen beschwert sich Willi Winkler unter der Überschrift “Verfall des Urheberrechts” darüber, dass das Project Gutenberg gemeinfreie Werke verfügbar macht und, weil trotz der Lobby-Anstrengungen von Disney und co. die Schutzfristen weltweit doch noch nicht komplett vereinheitlicht lang sind, Werke wie die Buddenbrooks dort verfügbar sind, weil sie in den USA bereits gemeinfrei sind während das in Deutschland noch nicht der Fall ist, was laut Winkler besonders problematisch wird, wenn Lehrer in Deutschland Schüler zum Herunterladen von den Buddenbrooks aufrufen. So viel zum Wettbewerb um den längsten Einstiegssatz in einen Text.
Dabei liegt die Kernfrage so nahe: Kann ein Lehrer in Deutschland mit digitalen Materialien arbeiten, ohne „systematisch gegen das Urheberrecht zu verstoßen”, wenn er sich nicht zum Urheberrechtsexperten weiterbilden lässt? Schon die Regeln für Kopien aus Schulbüchern sind komplex und kleinteilig genug. Immerhin wurde der Schultrojaner vergangenes Jahr beerdigt, so dass Schulbuchverlage den Lehrern nicht bis auf den Computer hinterherspionieren können. An den zugrundeliegenden Verträgen aber hat sich kaum etwas geändert. [..]
Ob Willi Winkler die Konsequenz ziehen würde, die Werke gar nicht mehr in digitalen Archiven anzubieten, solange die rechtliche Situation so ist, wie sie ist, wird nicht recht deutlich. Der Artikel bleibt in der Schwebe, legt es aber nahe, wo vom „modernen Urheberrechtsmissbrauch” durch Project Gutenberg die Rede ist. Ob es noch Gebrauch oder schon Missbrauch des Urheberrechts ist, Werke mit stetig verlängerten Schutzfristen der Öffentlichkeit zu entziehen, fragt er dagegen nicht.
Man beachte auch die Infografik im irights-Artikel, welche schön illustriert, wie schwierig es ist, festzustellen, ob ein Werk jetzt hierzulande gemeinfrei ist oder nicht.
Eines der größten Probleme der Urheberrechtsdebatte ist, dass in der Öffentlichkeit, und damit sind vor allem die Massenmedien genannt, keinerlei Verständnis mehr für die Gemeinfreiheit existiert.
Wir sind in einer Welt eingeschlossener Kultur aufgewachsen und können uns (urheberrechts-)freie Kultur kaum noch vorstellen. Deswegen kann Winkler ohne auch nur ansatzweise den höchst problematischen Kontext zu realisieren im Feuilleton einer angesehenen Zeitung gegen Menschen schreiben, die trotz(!) des aktuellen Urheberrechts und offensichtlich ohne kommerziellem Hintergedanken an der besseren Verfügbarkeit von Kultur arbeiten. An keiner Stelle macht sich Winkler die Mühe zu erklären, warum es im Sinne der Gesellschaft ist, dass die Verbreitung der Buddenbrooks noch immer einem Monopol unterliegt, das unter anderem die problemlose Verwendung des Werkes im Bildungsbereich unterbindet.1
Wer die Debatte länger als zwei Wochen verfolgt, ist von solchen Texten natürlich nicht überrascht. Man könnte im Gegenteil sogar überrascht sein, dass nicht viel militanter gegen Unternehmungen wie Project Gutenberg angeschrieben wird, da alles, was die Gemeinfreiheit als Grundlage hat, in der Regel als grundsätzlich fragwürdig betrachtet wird. (Dieser in den deutschen Massenmedien immer wieder beobachtbare Blick auf die Gemeinfreiheit ist natürlich Unsinn und vor allem dem Mindset der industriellen Informationsgesellschaft geschuldet.) ↩