12. Juni 2018 Lesezeit: 2 Min.

Nachhaltigkeit, Retouren und der Amazon-Skandal

Mark Steier sehr lesenswert auf Wortfilter über den Retouren-Skandal um Amazon und die Retouren-Praxis im (Online-)Handel:

Ein Ansatz ist oftmals, sich die Ware erst gar nicht zurücksenden zu lassen. Nämlich dann, wenn der tatsächliche Warenwert so gering ist, dass er die Kosten einer Rücknahme nicht übersteigt. [...]

Ein anderer Ansatz kann aber auch sein, dass Waren in ein B-Waren-Lager gelangen, da die individuelle Zustandsprüfung jeder Rückgabe fehleranfällig ist. Sprich, alle Retouren werden über einen gesonderten Kanal angeboten. [...]

Liegen Neudefekte vor, wünschen Hersteller selten einen Rückversand der Ware. Sie schreiben dem Handel vor, die Ware zu ersetzen und fehlerhafte anschließend auch zu vernichten. [...]

Rückgaben sind für jedes Unternehmen echte Kostenfaktoren. Die Warenvernichtung kann eine wirtschaftliche Option sein oder wird gar gesetzlich vorgeschrieben (Hygieneartikel oder Produkte mit einer Mindesthaltbarkeit). Grundsätzlich versucht aber jeder Händler, seine Kosten aktiv zu steuern und zu senken.

In meinem Studium (vor gefühlten 100 Jahren) hatte ich auch eine SVWL-Vorlesung zum Thema Nachhaltigkeit belegt​. Unterm Strich die wichtigste Erkenntnis daraus: Die nachhaltige Lösung  ist nicht immer offensichtlich. Denn dafür muss immer der gesamte involvierte Prozess betrachtet werden. (Während die "offensichtliche" Lösung nur diejenige ist, deren nach außen sichtbarer Schritt genehm erscheint.) Hier zum Beispiel: Der komplette Rücktransport von Produkten ist nicht nur teurer sondern auch weniger nachhaltig als die Vernichtung der Produkte. (Besser wäre natürlich weder das eine noch das andere tun zu müssen, aber wir reden eben über eine Situation, bei der die Entscheidung zwischen diesen beiden Optionen liegt.)

Da Amazon aufgrund des hohen Umsatzes und großen Sortiments relativ viele Retouren unterschiedlichster Art bekommt, bietet sich eine Zusammenarbeit mit einem Angebot wie Innatura förmlich an:

Innatura ist eine Vermittlungsplattform für Spenden an gemeinnützige Organisation. Einer der größten Spendengeber für die Plattform Innatura ist Amazon.

Bereits seit dem operativen Start im Jahr 2013 arbeiten Amazon und Innatura zusammen: »Amazon hat uns ganz proaktiv im Aufbau unterstützt und nicht nur Waren geliefert, sondern uns auch mit dem logistischen Know-how geholfen«, sagt Juliane Kronen im Rückblick. Bislang hat Amazon Neuwaren aus Überbeständen im sechsstelligen Eurowert kostenfrei an Innatura geliefert und ist auch im Kuratorium der Organisation vertreten.

​Und weiter:

Welche Ware wird tatsächlich vernichtet?

Recht einfach: Es wird die Ware vernichtet, die wirtschaftlich nicht anderweitig verwertbar ist. Dazu gehören z. B. Reklamationen von Neuwaren, Hygieneartikel, Produkte nahe des MHD oder auch reklamierte Ware, über die es besondere Vereinbarungen mit dem Hersteller gibt. [...]

Nein, es gibt keinen Skandal und Amazon vernichtet lediglich Waren, die nicht mehr wirtschaftlich verwertbar sind. Das ist angemessen und wird vom gesamten Handel, auch dem stationären, praktiziert. Der Anteil der vernichteten Waren liegt bei circa 1%-5%. Und das sehr konservativ gerechnet.

​Steier über die Berichterstattung:

Leider ist die angelaufene Berichterstattung nicht gerade eine Sternstunde des deutschen Journalismus. Mit etwas mehr fachlichem Hintergrund und kritischer Betrachtung hätte diese Story gar nicht produziert und geschrieben werden dürfen.

Nicht einmal 1% der Retourenware wird tatsächlich bei Amazon vernichtet. Das ergibt sich aus den Zahlen der Wirtschaftswoche und des ZDF/Frontal21. Dazu braucht man nicht mal Abitur. Es ist simpelste Mathematik.

Es scheint sich im Vorfeld oder während der Tiefenrecherche niemand Gedanken über die Dimensionen und den Wahrheitsgehalt der gelieferten Fakten und der Komplexität innerbetrieblicher Prozesse gemacht zu haben. Scheinbar hat niemand darüber nachgedacht, wie denn mit Neudefekt- und Reklamationsware in der Industrie und im Handel umgegangen wird.

Es ist dieser Gotcha-Journalismus, der unbedingt den "großen Plattformen", den "Digital-Riesen", "GAFA", schlechtes Verhalten nachweisen will, der uns keinen Deut voran bringt. Dabei braucht es echte kritische Analyse mehr denn je: Unsere Wirtschaft wird gerade komplett auf den Kopf gestellt. Die neuen Dynamiken, die mal positiv, mal dysfunktional wirken, müssen ernsthaft analysiert werden. Nur eine gut informierte Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit mit Zukunft.

Die substanzlose Skandalaneinanderreihung dagegen wird in der Wirtschaft nicht ernstgenommen und verpufft im besten Fall deshalb wirkungslos, im schlechtesten Fall führt sie zu volkswirtschaftlich schädlicher Regulierung.

So oder so: Big Tech bietet genügend Angriffspunkte, auch und besonders Amazon, dafür muss man sich nicht an branchenüblichen Praktiken reiben, die genau betrachtet verhältnismäßig und nachhaltig sind.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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