Weil Facebook private Chats algorithmisch auswerten und auch bereits von Mitarbeitern hat auswerten lassen, fordert Sascha Lobo auf Spiegel Online nachvollziehbarerweise ein neues "Telemediengeheimnis". Ein Gesetz, das das Briefgeheimnis auf Webdienste übersetzt. Er schreibt unter anderem:
Private Chats sind 2012 das, was Briefe 1948 waren.
So sehr ich die Grundintention verstehen kann, so muss ich trotzdem festhalten, dass die Prämisse nicht korrekt ist. Wer 1948 einen Brief an einen Freund geschickt hat, war auf die Post angewiesen. Wer heute auf Facebook mit einem Freund chattet, kann stattdessen auch Emails, GTalk, AIM, Jabber, Windows Live Messenger
oder VZ-nutzen. Daraus folgen eine Handvoll Schlussfolgerungen:
Die Wahlmöglichkeit der Systeme minimiert das Problem.
Einige dieser Systeme kommen nicht von zentralen Providern mit Profitabsichten. Namentlich Jabber und Email lassen sich ohne weiteres verhältnismäßig sicher aufsetzen und nutzen. Bei beiden gibt es auch entsprechende Institutionen, die explizit Dienste in diese Richtung anbieten.
Wir stehen noch immer am Anfang einer gewaltigen Entwicklung, die man als große gesellschaftliche Experimentierphase wahrnehmen muss, auch und besonders, wenn es um gesetzgeberisches Vorgehen geht. Jede Regulierung kann in unserer heutigen Umbruchsphase ungeahnte Nachteile mit sich bringen. Und damit meine ich nicht einmal die Fundamentalisten rund um Herrn Gorny, weil mir nicht einfallen will, wie diese Gruppe ein solches Gesetz für sich nutzen könnte. (Was nicht heißt, dass dem Bundesverband Musikindustrie nicht doch etwas einfallen könnte.) Ich meine eher Funktionalitäten, die sich auch rund um eine private Unterhaltung flechten lassen. Automatische, semantische Analyse, die Zusatzdaten bereitstellt etwa. Und ungefähr ibzehn weitere Dinge, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Mit einem Telemediengeheimnis wären folgende Szenarien möglich:
- a.) Man kann als Nutzer auf dieses Recht verzichten. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die in (3) beschriebenen potentiellen Funktionen angeboten werden können. Ein wahrscheinliches Ergebnis: Anbieter wie Facebook nehmen die Genehmigung in die AGB auf. Es bleibt praktisch alles wie bisher.
- b.) Auf dieses Recht kann nicht verzichtet werden. Private Kommunikation wird nur übermittelt, darf nicht verarbeitet, ausgewertet oder aufbereitet werden. Weitere Funktionen sind damit praktisch verboten. Reichhaltige Zusatzfunktionalität gibt es nur bei öffentlicher Kommunikation. User werden dazu gedrängt, eher öffentlich zu kommunizieren, wenn sie dies und jenes möchten. (Lustiger Nebeneffekt: Das Drängen zur öffentlichen Kommunikation ist auch so schon im Interesse von Facebook und co.)
Mir geht es nicht darum, der Überwachung von privater Kommunikation das Wort zu reden. Mir geht es darum, dass hinter solchen zunächst nachvollziehbaren Forderungen, die in Deutschland natürlicher- und frustrierenderweise immer breiten Beifall finden, ein enormer Rattenschwanz an Problemen und Herausforderungen und last not least an potentiell enormen gesellschaftlichen Kosten liegen. Warum? Weil wir aktuell nicht in einer Zeit der Stabilität leben. Wir leben in einem Zeitalter des gesellschaftlichen Umbruchs, der nicht gestern begonnen hat und heute vorbei ist, sondern der noch auf Jahrzehnte andauern wird.
Was wäre eine sinnvolle Gesetzgebung vor diesem Hintergrund? Sie sollte nicht den Wettbewerb zwischen den Systemen und damit deren Weiterentwicklung behindern. Sie sollte also immer wenn möglich nicht auf die Funktionen selbst abzielen. Stattdessen wäre es sinnvoll, die Kommunikation zwischen Anbietern von Webdiensten und Nutzern stärker zu regulieren. Ein klarer, gesetzlich vorgeschriebener Hinweis etwa, dass ein privater Chat auf Facebook mitgeschnitten und ausgewertet wird, würde den Boden ebnen für selbstbestimmte Nutzerentscheidungen darüber, ob ihnen das egal ist oder ob sie lieber auf Alternativen ausweichen.
Bleibt die Frage, warum in Deutschland tendenziell eher auf Regulierung statt auf Wettbewerb gesetzt wird. Es könnte etwas mit Menschenbildern zu tun haben.
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P.S.: Kein neues Gesetz sollte sich jemals danach richten, ob "Die Eltern des Grundgesetzes es so gewollt" hätten. Entweder ist es ein Gesetz, auf das sich die Gesellschaft heute als wünschenswert einigt oder nicht. Vermutete Meinungen toter Frauen und Männer sind irrelevant.