Thierry Chervel vom Perlentaucher, der deutsche Medienbeobachter mit dem wahrscheinlich umfangreichsten Blick auf die deutsche Öffentlichkeit, bezeichnete die deutschen Massenmedien vor vielen Jahren einmal als provinziell. Dieses so harsche wie, ich finde, zutreffende Urteil schwirrte diese Tage öfter als sonst durch meinen Kopf.
Viele Aspekte rund um den Rücktritt des Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt sind bemerkenswert. Die NYT-Story, die zunächst vom Verleger gekippte Recherche über den Machtmissbrauch des Bild-Chefs, und die schnelle Reaktion des Axel-Springer-Verlags, die Ambitionen und der Irrsinn.
- Die deutsche massenmediale Öffentlichkeit ist provinziell
- Das Mediengeschäft im 21. Jahrhundert hat sich grundlegend geändert
- Axel Springer hat große, internationale Ambitionen
I. Die deutsche massenmediale Öffentlichkeit ist provinziell
Es liegt irgendwo zwischen amüsant und ermüdend, wie hierzulande das Diskurstheater, das man in den USA beobachten kann, nachgeahmt wird. In den USA hat Metoo zu einer ersten, zaghaften Kultur der Konsequenzen geführt, die dort am rechten, konservativen Rand "Cancel Culture" getauft wurde. Während hierzulande Metoo und Aufschrei zwar zu Debatten geführt hat, hat es nachweislich (dazu gleich mehr) nicht zu einer Kultur der Konsequenzen für Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe geführt. Das hat die hiesigen konservativen Kulturkämpfer mit Englischkenntnissen nicht davon abgehalten, trotzdem hierzulande eine "Cancel Culture" zu sehen, gegen die sie kämpfen müssten. Manchmal werden die eigentlich unsichtbaren diskursiven Werkzeuge, mit denen Mobilisierung, Aufmerksamkeit und Overton-Schieberegler bewegt werden sollen, allzu deutlich sichtbar.
Wie dem auch sei.
Im Frühjahr diesen Jahres, die Älteren werden sich erinnern, erschienen Reportagen über Julian Reichelts Verhalten gegenüber Kolleginnen. Das führte zu einer 12-tägigen internen Untersuchung, nach deren Ergebnis Reichelt zurück auf seinem Posten als Bild-Chef landete, mit dem einzigen Unterschied, dass die BamS-Chefin gleichberechtigte Vorsitzende der "Bild"-Chefredaktionen wurde. Damals reine Kosmetik also.
Damit war die Causa Reichelt erledigt. »Vögeln, fördern, feuern«, wie der Spiegel berichtete, beim Chef der reichweitenstärksten deutschen Zeitung und keine Konsequenzen.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass das ehemalige Buzzfeed-Investigativ-Team jetzt als Ippen Investigativ an diesem Thema dranblieb. Warum keine andere Redaktion? Weil Deutsche Medien so nicht funktionieren. Wir reden hier über den Axel Springer Verlag.
Die Reaktion von Verleger Dirk Ippen, die Reportage kurz vor Veröffentlichung zu kippen, war ungeschickt, aber eher nur im Zeitpunkt ungewöhnlich für den deutschen Medienbetrieb. Der 81jährige Ippen dürfte sich verhalten haben, wie man sich als gestandener Verleger in Deutschland eben verhält. Dachte er zumindest. Im Zweifel nicht gegen einen anderen Presseverlag. Erst recht nicht gegen Axel Springer.
Ippen dürfte ebenfalls mit der massenmedialen Brille des 20. Jahrhunderts auf die Recherche seines Investigativ-Teams geschaut haben. Wenn er es kippt, ist es gekippt, was könnte ernsthaft passieren, außer dass ein paar Journalist/innen unzufrieden sind?
Untergebene zum Sex zu nötigen, hat Tradition im Axel-Springer-Haus und nicht nur da. Die Führungskultur in deutschen Pressehäusern ist.. grundsätzlich schwierig.
II. Das Mediengeschäft im 21. Jahrhundert hat sich grundlegend geändert
Provinz, das ist die Deutschland AG, die unter sich bleibt. Wie hätte es auch anders sein können im 20. Jahrhundert mit beschränktem Papier, beschränkten Sendefrequenzen und einem Markt, der durch Geografie und Sprache (und Geopolitik) definiert wird. Das Ergebnis wie in jedem anderen europäischen Land ist eine Medienbranche, die überschaubar ist. Die mächtigsten Menschen der Branche, fast immer Männer, kennen sich gegenseitig. Sie treffen sich auf Konferenzen, Preisverleihungen, haben gemeinsame private Dinner und sind in Verbänden organisiert, in denen einer von ihnen der Vorsitzende ist.
Je kleiner eine Branche, desto eher Krähenverhalten. Es wird nicht gehackt. Gehört sich nicht.
Hinzu kommt: Erst recht nicht bei der größten Krähe. Bei der Krähe, die am ehesten verbissen zurückhacken könnte. Und hinzu kommt, was die Enthüllungen im Frühjahr zeigten: Wenn geradezu groteskes Verhalten des Bild-Chefs in einer anderen deutschen Publikation öffentlich gemacht wird, dann führt das zu wenig bis nichts. Und sind die neuen Enthüllungen nicht nur einfach mehr von dem, was im Frühjahr erschien? Warum also Verwerfungen mit dem Axel-Springer-Verlag riskieren?
So oder so ähnlich dürften Ippens Überlegungen gewesen sein. Und tatsächlich: Die Enthüllungen im Spiegel im Frühjahr hatten Reichelt nachweisbar nicht geschadet. Warum sollte es jetzt anders sein?
Viel wurde in den letzten 10, 15 Jahren über den Medienwandel geschrieben. Auch von mir hier. Oft drehten sich die Themen um Geschäftsmodelle (und die Verwechslung von Erlösmodell und Geschäftsmodell), um den Aufstieg des Prosumenten, kognitives Surplus, die neue Kleinteiligkeit. Was dabei oft übersehen wurde war, dass sich selbst traditionelle Ansätze in banal erscheinenden, kleinen Dingen verändern. Klein zunächst, signifikant und umwälzend später.
Dazu gehört, dass investigative Journalist/innen heute vielfältige Möglichkeiten zur Kommunikation mit ausländischen Journalist/innen haben. Das beginnt mit länderübergreifender, tieferer Vernetzung der lokalen Netzwerke, die Erstkontakte erleichtert und endet bei international koordinierten großen Rechercheprojekten.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ben Smith im Zuge seiner Recherche für seinen geplanten Text zu Axel Springer auf die laufenden monatelangen Recherchen des Ippen-Investigativ-Teams aufmerksam gemacht wurde. Es ist also möglich, dass bereits Kontakte zu diesem Thema bestanden, bevor Ippen die Reportage kippen wollte. (Hinzu kommt, dass Ben Smith vor seiner Anstellung bei der New York Times ebenfalls bei Buzzfeed arbeitete, als Chefredakteur für die USA. Er kennt Drepper und Löffler vom Ippen-Investigativ-Team persönlich, sagt er im Zeit-Interview.) Selbst wenn nicht: Die Geschwindigkeit, mit der Smith von der New York Times über die gekippte Reportage erfuhr und wichtige Infos daraus in seinen Text einfließen lassen konnte, ist schlicht nur dank der heutigen Kommunikationswege möglich gewesen. Mit Telefon und Fax wäre es nicht so schnell gegangen.
Der Mediensektor erlebt außerdem einen großen strukturellen Wandel, der hierzulande bisher kaum rezipiert wird. Auf der einen Seite stehen die kleinen, lokalen Onlinepublikationen, die sich via Steady, Patreon und co. refinanzieren. (neunetz.com setzt mit dem Mitglieder-Bereich Nexus auf die Patreon-Tochter Memberful.) Auf der anderen Seite erlebt die Medienbranche eine bis dato nicht gesehene Internationalisierung.
Die wichtigste Infrastruktur der vernetzten Onlineöffentlichkeit sind global1 verfügbare Social Networks. Aber das meine ich gar nicht. Der Mediensektor hat eine besondere Kostenstruktur: Großen fixen Investitionskosten stehen vernachlässigbare Grenzkosten gegenüber. Das Teuerste ist die Erschaffung von Inhalten, deren Verbreitung kostete früher danach im Vergleich wenig und heute quasi nichts. Diese Kostenstruktur im Verbund mit der Monopol- oder, wenn die Konsumenten Glück hatten, Oligopolstruktur lokaler Medienmärkte hat sehr lukrative Medienunternehmen ermöglicht.
Die Verschärfung dieses Ungleichgewichts in der Kostenstruktur hat unter anderem zur Folge, dass heute große Medienunternehmen zwangsläufig internationaler denken müssen. Für die TV-Branche heißt das etwa, dass deutsche TV-Sender nicht mehr einfach weiter populäre Inhalte aus den USA lizenzieren können sondern auf einmal mit internationalen Riesen wie Netflix, Prime Video und Disney+ in ihrem eigenen Heimatmarkt direkt konkurrieren müssen. Unternehmen wie Netflix haben mit über 15 Milliarden US-Dollar, die sie pro Jahr für Inhalte ausgeben können, die Größe und die Kostenstruktur ihrer Branche auf ihrer Seite. (Jeder weitere Haushalt mit Netflix-Abo bringt zusätzlichen Gewinn für den Streaminganbieter.)
Das heißt nicht, dass Internationalisierung damit automatisch ein naheliegender, einfacher Expansionsschritt ist. Deutsche Medienhäuser sind daran gescheitert, Buzzfeed Deutschland war auch kein Erfolg, ebenso wenig die Financial Times Deutschland.
Aber in einer Welt, die näher zusammenrückt, die vernetzter ist, und deren Mediendynamiken Größe in die Hände spielt?
Meine Arbeitshypothese für die Medienwelt in der nahen Zukunft lautet folgendermaßen: Es wird wenige, sehr große Medienhäuser geben, die mit ihrer schieren Größe ganz anders agieren können als ihre früheren Pendants. In den USA sind das natürlich die New York Times und die Washington Post, in Europa zumindest der Guardian. Diesen werden eine unübersehbar große Zahl an professionellen Kleinstpublikationen gegenüberstehen. (Substack-basiert etc.) Natürlich wird es Mediengiganten geben, die rein in ihrem lokalen Markt agieren können, aber viele werden es nicht sein. Und sie werden sich schwer tun gegen diejenigen Riesen, die erfolgreich international gehen konnten.
Kurz gesagt: Mehr noch als in anderen Branchen werden Medien, und insbesondere die Presse, künftig dominiert von wenigen Großen und vielen Kleinen, die Mittelgroßen dazwischen werden aussterben. Zur letzteren Gruppe gehört die überwiegende Zahl der traditionellen Medien.
III. Axel Springer hat große, internationale Ambitionen
Axel Springer ist das einzige deutsche Medienunternehmen, das eine ähnliche Hypothese zu vertreten scheint. (Presseverlag kann man bei der heutigen Umsatzverteilung eigentlich nicht mehr sagen.)
In Nexus 78 schrieb ich im August diesen Jahres:
Axel Springer übernimmt Politico und die verbliebenen 50 Prozent des gemeinsamen Joint Ventures Politico Europe. (siehe u.a. DLF)
Das ist bereits die zweite Übernahme eines erfolgreichen US-Onlinemediums nach Business Insider.
Was direkt auffällt und wir auch bereits im Nexus-Discord diskutiert haben:
Axel Springer scheint der einzige Medienkonzern zu sein, der Interesse an diesen großen, erfolgreichen (profitablen) Medien hat und auch bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen. Selbst wenn wir die deutschen Medienhäuser, mehrheitlich Schnarchnasen auf diesem Gebiet, einmal außen vor lassen, dann bleibt die Frage:
Wo sind die restlichen westlichen Medienhäuser, die ein zukunftsträchtiges Onlinemedien-Portfolio aufbauen wollen?
Als News Corp. das Wall Street Journal übernahm, war das ein kleines mediales Erdbeben. Das Wall Street Journal ist berühmt für seine sehr gute, akurate Berichterstattung. Das ist es immer noch. Aber mittlerweile gibt es eine Meinungssektion, die, sagen wir, in ihrer Faktentreue eher am anderen Ende des Spektrums liegt.
Das ist die Macht, die man als Verlag mit dem Medium erwirbt. Die Berichterstattung mag die Lage darlegen, aber auf der Meinungsseite darf, unter der gleichen Marke, gern auch mal das Gegenteil behauptet werden.
Zu Politico gehört auch das noch sehr junge Protocol. Procotol beschäftigt sich mit der Schnittmenge Tech/Business/Regulierung. Das wird wenig überraschend in den nächsten Jahren ein Themenfeld, auf dem viele Weichen gestellt werden.
Hier kommt auch ein wichtiger Aspekt in der Springer-Strategie neben dem klassischen Mediengeschäft zum Tragen. Medien finden heute im Kontext von Plattformen wie Google und Facebook statt. Das wird sich nicht mehr ändern. Onlineöffentlichkeit beginnt nicht auf den Startseiten der Medien, sie beginnt in den Netzwerken, den Messaging-Apps und den Aggregatoren.
Wer das zu seinem Gunsten zurechtregulieren will, muss über Deutschland hinausdenken. Auch die europäische Ebene hilft da nur begrenzt weiter.
Was meine ich damit konkret: Axel Springer hat mit aller Gewalt (und der Unterstützung der anderen großen deutschen Medienhäuser) das Presseleistungsschutzrecht in Deutschland durchgeboxt. Das Gleiche hat man noch einmal auf EU-Ebene gemacht. Das Ziel aber ist stärkeres regulatory capture für den neuen Onlinekontext. Mathias Döpfner hat das hauseigene Business Insider bereits für einen Meinungsbeitrag in diese Richtung Anfang des Jahres genutzt. (Einzig wichtig hier: Worauf Benedict Evans im Screenshot hinweist.)
Axel Springer macht zwar in Deutschland längst die Mehrheit seiner Einnahmen mit Geschäftsfeldern abseits der eigenen Medien. Aber das Ziel des Konzern ist es trotzdem, die Macht und den Öffentlichkeitsdruck, den man mit erfolgreichen eigenen Massenmedien genießt, zu erhalten oder neu zu schaffen.
Wenn der Kontext der eigenen Geschäfte aus großen US-Plattformen besteht, dann muss man als Konzern vielleicht dort öffentlich Fuß fassen. Die kleinen und mittelgroßen Onlinemarktplätze, mit denen Axel Springer heute Geld verdient, finden in diesem Kontext ebenso statt wie die hochoptimierte Google-Sitemap namens WELT oder das Ramschblatt BILD.
Plump gesagt: Axel Springer will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Rupert Murdochs News Corp. ist aus Australien heraus zu einem globalen Schlachtschiff und Meinungsmacher auch dank M&A geworden.
Neben dem Geldverdienen, das mit Insider und Politico zweifellos gut geht, scheint Axel Springer auch darauf aus zu sein, eine Art News Corp. des 21. Jahrhunderts zu werden; zumindest für die westliche Welt.
Wenig in der Öffentlichkeit beachtet, hat Axel Springer bereits 2016 eMarketer übernommen (Axel Springer) Die Marktanalyse-Angebote von eMarketer und Business Insider Intelligence wurden 2019 in einem Unternehmen zusammengebracht. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Axel Springer auch das deutsche Gründerszene.de übernommen hat, das mittlerweile ein Reiter bei Business Insider ist.
Nun kursieren bereits erste Gerüchte, dass Axel Springer auch mit Axios über eine Übernahme verhandelt. (The Information)
Last not least: Während das in den deutschen Medien nur noch ein Randthema zu sein scheint, wird in den internationalen Medien bei der Übernahme immer auch gern direkt in der Überschrift erwähnt, dass Axel Springer mehrheitlich dem Private-Equity-Giganten KKR gehört. (siehe etwa Axios, Telegraph) Die aktuelle Eigentümerstruktur dürfte die auch vorher bereits verfolgte M&A-Strategie vor allem weiter beschleunigt haben. Lediglich dank der Pandemie dürfte diesen Effekt noch nicht sichtbar geworden sein.
Sprich: Man kann mit sehr viel mehr Medienübernahmen von Axel Springer in westlichen Märkten rechnen. Auch wenn bald nicht mehr viel übrig ist.
Anfang 2020 hat Axel Springer auch den ausgesprochen populären Wirtschaftsnewsletter MorningBrew (3 Millionen Abonnent/innen) übernommen. Wahrscheinlich wegen der Pandemie zu einem vergleichsweise günstigen Preis.
Axel Springer und der Hauptinvestor KKR scheinen das Ziel zu verfolgen, Rupert Murdochs Erfolg über den digitalen Weg wiederholen zu wollen. Die Ambition ist nicht einfach, "Axel Springer will in den USA groß werden". Die Ambition ist im digitalen Publishing das zu erreichen, was Rupert Murdoch mit TV und Print erreicht hat. Aus einem relativ kleinen eigenen Heimatmarkt heraus, den man dominiert(naja, Auflagen sind nicht mehr was sie mal waren), in die restlichen westlichen Märkte expandieren und mittels M&A und eigenen Marken, eine dominierende Macht in der Öffentlichkeit werden. Am liebsten bis hin zur Kingmaker-Kür. Döpfners Ziel: Dass im Zweifel im Weißen Haus, in Downing Street, in Brüssel der Hörer abgenommen wird, wenn er anruft.
Politico, das für Politiker/innen, Lobbyist/innen und deren Mitarbeiter/innen in Washington nicht wegzudenken ist, ist geradezu ein künftiges Juwel im Springer-Portfolio. Die Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Hierzulande kann man sich das nicht vorstellen, weil es in Deutschland keine vergleichbare Publikation/Dienstleistung für in der Politik arbeitende Menschen gibt.
Es war bereits ein Zeichen dessen was da kommen wird und ein trauriger Beweis dafür, wie wenig sich andere Verlage für diesen hochspezialisierten Ansatz oder internationale (oder wenigstens europäische) Ansätze interessieren, dass Axel Springer vor sieben Jahren der Joint-Venture-Partner für Politico Europe wurde.
Politico Europe hat bereits ein Pro-Feature. Nach erfolgreicher Übernahme wird Axel Springer dieses Angebot sicher in Europa ausbauen und etwas Vergleichbares in Berlin für die Bundespolitik starten. Man ist damit nicht nur konkurrenzlos, man rückt damit auch sehr nah an die politischen Machtzentren heran.
Die Bedeutung von Politico für den US-Markt und dessen, was sich Axel Springer dort erhofft, ist kaum zu überschätzen. (Maximal vielleicht vergleichbar mit der Übernahme des Wall Street Journal durch News Corp.)
Politico und dessen Einfluss ist auch der Grund, warum der neue Eigentümer Axel Springer jetzt in den USA genauer betrachtet wird.
Erstaunlich ist, dass Matthias Döpfner das nicht vorhergesehen hat.
Oder vielleicht auch nicht.
Denn Döpfner und Axel Springer insgesamt sind verwöhnt. Berechtigt oder nicht, Axel Springer genießt in Deutschland Narrenfreiheit. Die Bild kann unfassbar Unsägliches (siehe Bildblog) machen und es hat keinen Einfluss auf die Akzeptanz der Bild und ihrer Verantwortlichen bei Kolleg/innen, Prominenz oder Politik. Es kann 2021 an die Öffentlichkeit gelangen, dass der Bild-Chef seine Macht gegenüber Untergebenen für sexuelle Gefälligkeiten ausnutzt, und nicht einmal einen Monat später kräht kein Hahn mehr danach. Narrenfreiheit nach innen und nach außen.
Smith selbst erzählt im Interview mit der Zeit, dass nichts in seinem Text stand, was die Juristen von Axel Springer nicht selbst schon wussten. Der Unterschied, warum Reichelt doch so schnell gehen musste, war, weil es jetzt in der New York Times stand.
In einem Land, das Deutschland mindestens bei Themen wie Sexismus und Machtmissbrauch um viele, viele Jahre voraus zu sein scheint.
Ein Manager in den USA wäre für sehr viel weniger sehr viel schneller entlassen worden.
Entscheidender aber ist, dass die Enthüllungen auch ein Licht auf Axel Springer als Unternehmen werfen und eben auch auf seinen Vorsitzenden, Matthias Döpfner. Döpfner hat Reichelts Verhalten geduldet, wie man aus seinem Verhalten im Frühjahr erkennen kann, selbst wenn man kein Deutscher ist.
Das fällt auf. Hinzu kommt seine bizarre private Nachricht, die in dem NYT-Artikel große Reichweite erfuhr, in der er ernsthaft2 die Corona-Massnahmen als eine zweite DDR-Diktatur bezeichnete.3
Und last not least, der Versuch, neben Politico auch Axios zu übernehmen. Smith berichtet in seinem Text davon, wie Döpfner neben Politico auch Axios übernehmen und beide zu einer schlagkräftigeren Gesamtpublikation zusammenführen wollte. Axios wurde von zwei ausgestiegenen Politico-Gründern geschaffen. Entsprechend schlecht ist man bei Politico auf Axios zu sprechen. Die Lösung des deutschen Mini-Machiavelli: Man verschweigt Politico gegenüber die Übernahme von Axios und führt beide unter Axios-Führung zusammen, sobald alles über die Bühne ist. "Sneaky" nannte man diesen Vorschlag bei Axios, schrieb Smith. Und: So machen wir keine Geschäfte hier.
Dass Döpfner glaubte, damit Erfolg haben zu können, deutet erneut auf die Sonderposition seines Ladens in Deutschland hin: Narrenfreiheit. Hierzulande werden auch Lügen verziehen bzw. gar nicht erst als solche wahrgenommen, egal wie offensichtlich sie sind. Siehe Leistungsschutzrecht.
Axel Springer und Döpfner waren bis dato unbeschriebene Blätter in den USA, trotz erfolgreicher Insider-Übernahme.
Das Bild, dass die NYT zeichnete, ist aber nun ein Konzern, dessen Chef:
- Fox-News-ähnliche Ansichten vertritt, und
- dessen wichtigster Untergebener sich mit seinem Segen durch‘s Unternehmen vögeln darf, und
- der im Zweifel Geschäftspartner, sogar solche die er übernehmen will, an zentraler Stelle auch anlügt, wenn es ihm hilft.
Reichelt kommt vielleicht in ein, zwei Jahren wieder zu Springer zurück, in einer für ihn neu geschaffenen Position, die alle deutschsprachigen oder europäischen Redaktionen überblickt oder ähnliches, aber Reichelts sehr zügige Entlassung? Die ist eine Szene aus der nackten Kanone. Der neue Bild-Chef, der geradezu offensiv harmlos erscheinende Johannes Boie, ist Leslie Nielsen. Und Döpfner? Matthias Döpfner ist das brennende Haus.
Die wichtigste Erkenntnis für Medienjournalist/innen sollte sein, dass der Axel-Springer-Verlag mit seinen internationalen Ambitionen nun plötzlich nicht mehr unangreifbar ist.
- Naja, globalish. Vieles ist in China geblockt, ein bisschen auch in Indien. Aber Sie verstehen schon, was ich meine. ↩
- Ernsthaft. Und wenn man nicht weiß, wie man solche peinlichen Aussagen entkräften kann, dann lässt man sein Unternehmen in einer Stellungnahme darauf hinweisen, dass das nur ironisch gemeint wäre. Don‘t take it literally, people! Na klar, sure. ↩
- Zwei Erkenntnisse aus dieser privaten Nachricht: Man trinkt bei Axel Springer scheinbar viel vom eigenen Saft. Und auch intern ist die bedeutungslose WELT keine Erwähnung wert. ↩