31. Jan. 2024 Lesezeit: 5 Min.

Universal Music vs. TikTok: Wenn die Macht der Majorlabels bröckelt

Universal Music vs. TikTok: Wenn die Macht der Majorlabels bröckelt

Der Vertrag zwischen Universal Music und TikTok läuft heute, 31.1.24, aus, weil sich beide Seiten nicht einigen konnten.

Tagesschau:

Das weltweit größte Musikunternehmen Universal Music und die Social-Media Plattform TikTok gehen vorerst getrennte Wege. Man habe sich nicht auf einen neuen Lizenzvertrag einigen können, teilte Universal gestern mit. Der gemeinsame Vertrag läuft demnach am 31. Januar aus.

Damit könnte Musik von bekannten Künstlerinnen wie Taylor Swift und Lady Gaga ab Donnerstag von TikTok entfernt werden.

Ein wesentlicher Grund für die fehlende Einigung: Die Macht liegt erstmals bei einer Verhandlung um Musikrechte nicht bei einem Majorlabel sondern auf der anderen Seite des Verhandlungstisches, bei der Plattform.

Und der Plattformprovider Bytedance weiß das natürlich auch.

TikTok habe den Musikern und Songautoren nur "einen Bruchteil" der auf ähnlichen anderen Online-Plattformen üblichen Vergütung geboten, argumentierte Universal Music in einem offenen Brief.

Der offene Brief ist hier zu finden.

Universal schreibt im offenen Brief unter anderem, dass TikTok nur für 1% der Gesamtumsätze verantwortlich ist.

Das liegt am Vertrag, nicht an der Bedeutung der Plattform. Oder anders: TikTok ist indirekt für einen großen Teil der Umsätze bei Universal verantwortlich.

Viele Musiker:innen werden auf TikTok groß, viele Songs haben auf TikTok ihren Durchbruch.

So wie Booktok, die Buchcommunity auf TikTok, spürbar die Nadel in der Buchbranche bewegt, so ist es in der Musikbranche, nur dort noch zentraler. Weil Songs integraler Bestandteil der Plattform sind.

Das ist der Hintergrund zwischen der Kollaboration zwischen Billboard und TikTok.

Das geht über die Zahlen und Charts hinaus. Man betrachte diesen Graph aus dem jüngsten The Sky Is Rising Report:

Influence of TikTok on Music Activities in 2022

Dieser zentrale, massive Wert, den TikTok für Musiker:innen darstellt, ist der Grund, warum TikTok-Mutter Bytedance sich so verhält wie sie sich verhalten.

Sie wissen, dass Universal nicht lang auf TikTok verzichten kann. Die Musiker:innen unter Vertrag werden nicht begeistert sein; mehr noch, so bekommt man kein neues Talent unter Vertrag.

TikTok unterscheidet sich außerdem fundamental in der Nutzung von YouTube, Spotify und co:

YouTube, Apple Music, Spotify und co. werden für den passiven Konsum von Musik benutzt. Sie sind die spirituellen Nachfolger der Plattensammlung.

Es ist deshalb für diese Dienste undenkbar, auch nur auf einen Backkatalog eines Majorlabels zu verzichten.

TikTok dagegen ist das Tanzstudio, oder der Club: Hier interagieren wir mit Musik. Oder machen sie sogar selbst. Und im Schnitt hören wir dort nur die immer gleichen 30 Sekunden eines Songs, die sich dann ins Hirn fräsen.

Wenn Universal-Musik nicht dabei ist, dann halt 30 Sekunden von anderer Stelle.

Die für den vorliegenden Fall relevante Folge davon ist, dass auf TikTok der Universal-Katalog zwar fehlen wird, er aber die App nicht unnutzbar macht für die User, so wie das gleiche Fehlen bei Spotify der Fall wäre.

Die Musiker:innen von Universal brauchen TikTok, TikTok braucht nicht Universal.

Die Tagesschau irrt sich also bei der Schwere der Folgen, wenn dort geschrieben wird:

Für TikTok könnte der Ausstieg von Universal Musik erhebliche Folgen haben: Sehr viele Videos haben musikalische Begleitung von berühmten Künstlern. Universal hat zahlreiche der bekanntesten Musiker unter Vertrag. Universal Music räumte ein, dass der Schritt auch Konsequenzen für die eigenen Künstler haben werde. Man habe jedoch die Verantwortung, für faire Konditionen für sie zu kämpfen.

Dass Universal bereits jetzt schon(!) einräumt, dass der Schritt Konsequenzen für die eigenen Künstler:innen haben wird, zeigt, dass man im Unternehmen weiß, wie im Vergleich zu anderen Verhandlungen schwach die eigene Position hier ist.

TikTok nutzt das in seinem Statement (via Variety):

It is sad and disappointing that Universal Music Group has put their own greed above the interests of their artists and songwriters. Despite Universal's false narrative and rhetoric, the fact is they have chosen to walk away from the powerful support of a platform with well over a billion users that serves as a free promotional and discovery vehicle for their talent.

TikTok has been able to reach 'artist-first' agreements with every other label and publisher. Clearly, Universal's self-serving actions are not in the best interests of artists, songwriters and fans.

Das sind sehr deutliche Worte, die man so niemals etwa von YouTube oder Spotify gelesen hat. Beiden Seiten ist das Machtgefälle bewusst, über das ich hier schreibe.

Generative KI spielt auch hier eine Rolle. Im offenen Brief heißt es:

On AI, TikTok is allowing the platform to be flooded with AI-generated recordings--as well as developing tools to enable, promote and encourage AI music creation on the platform itself -- and then demanding a contractual right which would allow this content to massively dilute the royalty pool for human artists, in a move that is nothing short of sponsoring artist replacement by AI.

Für TikTok sind die KI-Funktionen eine von vielen Features, die Contentgenerierung in der App einfacher machen. Ein wesentlicher Grund neben dem Algorithmus, warum die App so populär wurde.

Gleichzeitig stärkt das TikToks Position als Plattform natürlich gegenüber den Labels, die hier Lieferanten sind.

TikTok experimentiert unter anderem mit AI Song, einem neuen Feature, das, wie das Unternehmen gegenüber TechCrunch mitteilte, Bloom verwendet, ein LLM, um Liedtexte auf der Grundlage von Textaufforderungen zu erstellen. Die Texte werden dann mit Musik aus einem in TikTok erstellten, vorab gespeicherten Katalog gepaart.

Das ist eine natürliche Weiterentwicklung der Onlinemusikwelt.

Es war immer offensichtlich, dass irgendwann Werkzeuge entstehen werden, die es auch Laien und Novizen einfacher machen, eigene Musik zu erzeugen. Dass diese neuesten Tools nun unter das Label "Generative KI" fallen, ändert daran nichts.

Natürlich meint Universal mit "artist replacement by AI" die eigenen Künstler:innen. Aber es erscheint mir zumindest erwähnenswert, dass die Menschen, die erfolgreich AI-Tools auf TikTok verwenden und damit vielleicht einen viralen Hit landen, ebenfalls Künstler:innen sind.

Die KI-Tools sind Werkzeuge in unseren Händen, nicht autonome Agenten.

Es wird nicht das letzte Mal sein, dass die spürbare Verschiebung der  Machtverhältnisse sichtbar wird. Die Macht der Majorlabels, die als Oligopol die Bedingungen für Musikdienste setzen konnten, hat sich erstaunlich lang gehalten. Zuletzt haben sie es geschafft, die Auszahlungskonditionen bei Spotify zu ihrem Gunsten zu verändern. Auch da war der vorgeschobene Grund, es wäre eine Gegenmassnahme zum "massive dilution of the royalty pool".

Aber diese historische Marktmacht der Majorlabels ist jetzt sichtbar an einem strukturellen Scheidepunkt angekommen.

Auf der einen Seite steht TikTok als Kingmaker, auf den kaum ein:e Musiker:in lang verzichten kann. Auf der anderen Seite steht Streaming (via), das von ungefähr gleich vielen Playern (YouTube, Spotify, Apple Music) dominiert wird wie das Majorlabel-Oligopol:

Global Recorded Music Revenues in billions of dollars

Die Majorlabels hatten ihre Chance, ein diverses Ökosystem an Musikdiensten zu ermöglichen. Eine einzigartige Chance dieser Branche, dank des Oligopols, die es so nirgendwo sonst gab.

Sie hätten eine Branchenstruktur fördern können und sollen, die dank Wettbewerb sicherstellt, dass auf der anderen Seite dieser Verhandlungstische nicht allein einzelne Giganten wie Apple oder Bytedance sitzen, sondern neben diesen viele kleine und mittelgroße Player, die mit einander konkurrieren.

Aufgrund der Skaleneffekte online dank Netzwerkeffekten und fehlender geografischer Begrenzung gibt es immer Tendenzen zu immenser Größe auf der Plattformebene, also der Ebene der Interaktionen und des Matchmakings. Das lässt sich als Lieferant nur aktiv steuern, wenn man dafür die Marktmacht hat, Passivität führt zu Skalierung.

Das einfachste Beispiel: Eine aktive Marktgestaltung hätte etwa ein Stufensystem für Lizenzen beinhaltet, das kleine Anbieter begünstigt und große benachteiligt.

Vor ungefähr 10 Jahren endete meine letzte Kolumne für die mittlerweile eingestellte Fachzeitschrift Musikmarkt mit einer Vorhersage:

Wenn die Majorlabels nicht aufpassen und die unabhängigen, dedizierten Musikstartups weiter ausbluten lassen, werden sie irgendwann nur noch mit den Musikstreaming-Abteilungen der großen Tech-Konzerne verhandeln.

Man erntet, was man sät.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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