Im Gegensatz zu Google wurde Facebook besonders in Deutschland in manchen Kreisen nie sonderlich ernst genommen. Als ich 2010 das mittlerweile zurückliegende Jahrzehnt zu "Facebooks Jahrzehnt" erklärte, war die Mehrheitsmeinung hierzulande sogar unter Expert:innen, dass Facebook genau so schnell wie MySpace wieder verschwinden würde.
Diese Unter- und Geringschätzung hat sich erstaunlicherweise bis heute gehalten. Weder die strategisch sehr klugen Übernahmen von Instagram und Whatsapp noch der erfolgreiche Aufbau des mobilen Werbegeschäfts haben Facebook/Meta viel Respekt in manchen Kreisen eingebracht. (Was sicher unter anderem auch daran liegt, wie unfassbar nachlässig bis fahrlässig Facebook in wichtigen Themen wie Moderation ist.)
Facebook selbst hat 3 Milliarden aktive monatliche Nutzer (MAU). (Statista) Instagram liegt bei 1,2 Milliarden MAUs. (Statista) Über alle Meta-Netzwerke verteilt kommt der Konzern auf aktuell 3,65 Milliarden MAUs. (Statista)
3,65 Milliarden Nutzer.
Facebook hat allein 2021 laut eigenen Angaben 10 Milliarden $ in seine Metaverse-Aktivitäten gesteckt. (The Verge) Die Abteilung "Facebook Reality Labs" umfasst neben der Hardware (Oculus) auch Software und Inhalte.
Wieso sieht Facebooks "Horizon Worlds" aber so schlecht aus, immerhin schlechter als über 20 Jahre alte Spiele?
Ist der große Konzern Facebook trotz Milliardeninvestitionen nicht in der Lage, bessere Grafik zu produzieren?
Jein.
Ich lese gerade Matthew Balls sehr empfehlenswertes Buch über das Metaverse. (Ausführliches Review kommt demnächst.)
Neben den Potenzialen spricht Ball auch über die Herausforderungen für ein Metaverse in dem, wie in Snow Crash, Tausende Menschen und mehr direkt im selben virtuellen Raum mit einander interagieren bzw. nebeneinander existieren.
Wir sind weit davon entfernt, auch nur ein Zehntel davon heute ermöglichen zu können.
Es fehlt die Serverkapazität, es fehlt die Computingpower bei den Endnutzern für das Rendern, es fehlt an Bandbreite und in vielen Fällen ist die Latenz schlicht zu hoch.
UGC/Multionlineplayer-Spiele arbeiten deshalb mit Workarounds.
Roblox, Minecraft, Eve Online und co. haben schlichte Grafik (huch!). Fortnite, World of Warcraft und co. beschränken den unmittelbaren Raum, in dem Spieler direkt mit einander interagieren, so dass nur vergleichsweise wenige Spieler:innen sich gegenüber stehen und bei den jeweiligen Gegenübers in Echtzeit dargestellt werden müssen. Manchmal ist es eine Mischung aus beidem und mehr.
Ball arbeitet in seinem Buch sehr gut heraus, wie schnell kleinste Verzögerungen Interaktionen frustrierend machen können. Spiele profitieren außerdem davon, dass die Bewegungsarten standardisiert und beschränkt sind. (Und Eve Onlines Weltraumschlachten sind noch leichter gerendert und berechnet als Fortnites Kämpfe.) Das gilt nicht zwingend für offene Welten, die sich auf reiche soziale Interaktion konzentrieren wollen wie es Meta gern hätte.
Jede technische Weiterentwicklung muss an gewissen Punkten Kompromissse eingehen. Priorisierungen widerspiegeln.
So weit ich weiß, hat Facebook/Meta bis dato nicht über die schlichte Grafik gesprochen. Der Kompromiss hier erscheint mir aber mehr als offensichtlich:
Was priorisiert ein Unternehmen, dessen Produkte ausschließlich Social Networks sind und das 3,6 Milliarden monatlich aktive Nutzer hat?
Grafik? Sound? Soziale Interaktionsmöglichkeit?
Take a wild guess.
Meine wilde Vermutung:
Meta hat offenbar die Priorität gesetzt, mit den heutigen sehr beschränkten Mitteln eine virtuelle Onlinewelt zu bauen, in der mehr Menschen gleichzeitig mit einander interagieren können als in anderen virtuellen Welten.
Wir reden nicht von großen Zahlen. Hier geht es in der Größenordnung vielleicht darum, dass aktuell vergleichsweise vernünftig 20 Leute mehr in Horizon Worlds als in Fortnite gleichzeitig frustfrei in Echtzeit mit einander interagieren werden können.
Damit das mit niedriger Latenz klappt, muss unter anderem bei der Grafik gespart werden. Und sogar bei den Beinen.
Zeithorizont.
Bis zur Lektüre von Balls Buch war ich davon ausgegangen, dass ein "echtes" Metaverse, wie es sich viele vorstellen, vor allem von der noch geringen Verbreitung der Endgeräte, VR-Headsets etc., zurückgehalten wird. Also zusätzlich zur Rechenpower bei den Endgeräten. Mittlerweile sehe ich die größte Hürde in der Netzwerkinfrastruktur weltweit.
Zuckerberg hat sich, for good and bad, für eine fundamentale Richtung für sein Unternehmen entschieden, die in 10 Jahren vielleicht schon fruchten wird, die aber erst Jahrzehnte von heute wirklich real werden kann. Das ist ein bemerkenswerter Zeithorizont für ein börsennotiertes Unternehmen (und wird von ihm sicher auch optimistischer gesehen). Es ist nur möglich, weil Zuckerberg allein die komplette Kontrolle über Meta hat. (Sean Parkers Vermächtnis an die Menschheit…)
Deswegen ist das Thema aber heute nicht per se egal. Proto-Metaversen wie Roblox und Fortnite sind bereits heute die populärsten und profitabelsten Spiele aller Zeiten; und wir reden hier von der größten Entertainmentbranche weltweit. Außerdem trifft Meta heute Entscheidungen für seine Metazukunft. Aufgrund der Größe und Bedeutung des Unternehmens haben diese Entscheidungen Auswirkungen auf unterschiedlichste Unternehmen und Sektoren. Übrigens auch, auf welche Dinge sie sich deshalb nicht konzentrieren können. Opportunitätskosten..
Es wird aber noch fundamentaler. Um seine Vision wahr werden zu lassen, muss Zuckerberg über kurz oder lang an das Backbone des Internets gehen. Und an alle anderen Stellen der Internetverkabelung weltweit.
Die schlechte Grafik, mit der Meta heute arbeiten muss, sagt uns nicht, dass Meta keine Spielegrafik kann -wer das denkt, ist ein Idiot-, sondern dass Meta mit seiner langfristigen Vision vom Metaverse zum Techgiganten geworden ist, der am sensibelsten auf hohe Latenzen und niedrige Bandbreite, kurz auf zu schwache Internetinfrastruktur, reagiert.
Ball schreibt in seinem Buch von einer Untersuchung, in der festgestellt wurde, dass eine Zunahme oder Rückgang von 10 Millisekunden Latenz bei Onlinespielen die wöchentliche Spieldauer um sechs(!) Prozent entsprechend erhöht oder senkt.
Meta und Zuckerberg werden nun immer latenzsensitiver werden.
In Nexus 115 schrieb ich zuletzt Anfang Juli darüber, wie die langfristige Vision von Zuckerberg heute schon Auswirkungen hat und haben wird:
Erhofft man sich eine „realere“ Online-Welt, also eine Online-Welt, die noch stärker unsere gesamte Welt abbildet und abdeckt, dann muss der dominierende Social-/Verbindungslayer auch entsprechend mehr Kontexte als nur einen unterstützen.
Entsprechend steht Meta mit seinen Meta-Accounts über Facebook, Instagram und WhatsApp. Mit dem Vorteil natürlich, dass diese sehr weit verbreiteten Social-Assets Teil von Meta sind und immer First-Party-Verknüpfungen bereithalten werden.
Außerdem: Über diesen Weg wird strukturell sichergestellt, dass Meta die Vorteile der Verbreitung von Facebook und Instagram mitnehmen können, ohne die Nutzer:innen zu vergraulen, die sich davon eingeengt oder abgeschreckt fühlen würden. (Lies: vor allem jüngere Menschen..)
Außerdem: Meta setzt für das Verbindungsprinzip im Metaverse auf das Followerprinzip, das wir von Twitter, Instagram, TikTok und co. kennen.
Es ist wegen all dem durchaus denkbar, dass in den nächsten Jahren beispielsweise eine Allianz aus Meta und anderen Metaverse-affinen Unternehmen wie Epic Games, Roblox oder sogar Nvidia Vorschläge für neue Netzwerkprotokolle machen werden, die auf niedrige Latenz optimiert sind und massiv Lobby für diese machen werden. Außerdem wird Meta der größte und lauteste Befürworter des Ausbaus von Internetinfrastruktur werden.
Es wird etwa heftige Debatten über eine Ablösung des Border Gateway Protocols (Wikipedia) geben.
Das alles kommt auf uns zu. Zumindest so lang Horizon Worlds ohne Beine und andere Details auskommen muss.