Massenmedienzeitalter

Im 20. Jahrhundert entstanden Marken in der Regel so: Gießkanne -> Werbung in Massenmedien. Konzerne wie P&G, Unilever, Nestle und co. haben zusätzlich meterlange Produktportfolios weil der beschränkte Platz in den Supermärkten und Drogerien die Strategie ermöglichte, einfach das ganze Regal mit eigenen Marken zu fluten bis es voll ist. Die populärsten Marken in Kategorie XY zu besitzen gab/gibt diesen Konzernen Verhandlungsmacht, um nicht nur auf Augenhöhe im Regal zu sein sondern auch darüber hinaus vertreten zu sein.

Massenmedien und Ladenregale führen zu auf Knappheit basierenden Strategien. Das ist einer der Aspekte, der sich mit dem Internet ändert. Das heißt nicht, dass es online keine Knappheit gibt, sie sieht nur sehr anders aus.

Marktplatzmarkenholdings als die künftigen P&Gs?

Jochen Krisch und ich haben in Exchanges #264: Thrasio und der Marktplatz-Boom über das Potenzial von Unternehmen gesprochen, die die Popularität des Amazon-Marktplatzes nutzen, um Marken aufzubauen. Oder besser: In ihren Nischen auf Amazon erfolgreiche Marken aufzukaufen und die Prozesse des Verkaufs und der Produktion zu professionalisieren.

Das hat durchaus Potenzial. Das Vorbild für diese Unternehmen ist Thrasio:

  • 2018 gegründet
  • Bewertung bei 1 Milliarde US-Dollar
  • Besitzt laut eigenen Angaben zwischen 8.000 und 9.000 Produkten auf Amazon

Die Arbeitsweise ist relativ simpel. Modern Retail:

All acquisition companies try to nab top products in a given category. That is strategic from a sales point of view. Currently, according to Hollywood, once a product is the #1 or #2 on Amazon, it’s hard for it to lose that slot. “Amazon’s algorithms help the winners to win,” he said. That algorithmic reality drives at the central logic behind acquirers like Thrasio or Boosted Commerce in the first place: it’s extremely hard for third-party sellers to build up their products to take that top slot. But “once you’re there, people really want to acquire you because it’s much harder to do what you’ve done,” Hollywood said. So instead of launching their own products from scratch, acquirers like Thrasio would rather improve on products that Amazon’s algorithms already love — the assured winners.

Neben Thrasio gibt es noch Perch (123 Millionen $ VC), Boosted Commerce (87 Mio. $ VC) oder Heroes, das sich selbst das „Europäische Thrasio“ nennt.

Oder auch die deutsche Razor Group, die vor einiger Zeit 25 Millionen Euro eingesammelt hat. (siehe unter anderem pymnts.com)

OMR hat vor einiger Zeit ausführlich über diesen Trend geschrieben. Ich möchte zwei Zitate herausziehen:

Florian Heinemann hatte seine Meinung dazu schon im Kassenzone-Podcast gegenüber Alexander Graf klar gemacht: „Das strukturelle Business funktioniert schon. Wenn du Marken auf eine professionelle Struktur setzt, kann das schon grundsätzlich Sinn machen.“ Er erwarte aber kein extremes organisches Wachstum von Unternehmen, die auf das Thrasio-Modell setzen: „Du baust ja keinen kontinuierlichen Kundenstamm auf, sondern bist darauf angewiesen, mit immer neuen Produkten, die du auf die Marktplätze schiebst, Wachstum zu erzielen. Das wird strukturell weder leichter, noch von den Margen besser.“[…]

Christian Dahlen, VP, Portfolio bei SAP und Business Angel schreibt auf Twitter: „Thrasio kann das nächste Procter & Gamble werden. Und die ausseramerikanische Version das nächste Nestlé oder L’Oréal.“

Fangen wir mit Florian Heinemann an. Er legt den Finger genau in die Wunde: Eine Huckepack-Strategie auf dem Amazon-Marktplatz funktioniert zwar, und kann auch im großen Stil funktionieren, aber man baut keinen Kundenstamm an, Reaktivierung von Kunden oder auch der „Kundenzugang“ allgemein läuft über Amazon. Also im Zweifel bezahlt, und immer dem Algorithmus ausgeliefert (also den internen Entscheidungen bei Amazon). Das ist in den Ladenregalen nicht anders. Hersteller erfahren nicht, wer ihre Produkte dort kauft.

Es gibt aber zwei entscheidende Unterschiede:

  1. Online gibt es eine unüberschaubar große Anzahl an Wegen, um auch und gerade als Markenhersteller einen Kundenstamm aufzubauen, den man direkt erreichen kann. Die Tatsache, dass diese Wege existieren, bedeutet im nächsten Schritt, dass reine kundenstammlose Marktplatzmarken potenziell stammkundenstarke Konkurrenz haben oder haben werden.
  2. Amazon ist nicht Google. Händler und Marken müssen für Distribution immer zumindest initial irgendwo andocken. Sei es ein Massenmedium mit Werbung, sei es ein Suchergebnis und/oder Werbung auf Google oder sei es ein erfolgreicher Marktplatz mit all seinen Instrumenten. (Oder sei es die noch viel beschworene Innenstadt.) Amazons Marktplatz ist attraktiv: Eine sehr populäre Verkaufsstelle mit vielen Plattformfunktionen explizit für den Verkauf bis hin zu FBA (Fulfillment by Amazon). Es ist der erste One-Stop-Shop für den Onlinehandel, der im Mainstream angekommen ist. Aber. Aber Amazon ist eben auch ein Händler, ein Händler mit Eigenmarken, der genau schaut, was auf seinem Marktplatz passiert. Amazon ist ein Unternehmen, das gnadenlos seine Partner ausquetscht, weil es um die Attraktivität des Marktplatzes weiß. Die Debatten um die Platzierung und Darstellung von Suchergebnissen auf Google die letzten 10 Jahre werden harmlos sein im Vergleich zu den Debatten, die sich rund um den Amazon-Marktplatz drehen werden. Ich sage immer, man stelle sich vor, Google wäre nicht nur Suchmaschine sondern auch Händler mit eigenen Produkten. Wie stark wären da die realen und vermuteten Interessenskonflikte?

Hinzu kommt, dass es nicht im Interesse einer Plattform (Marktplätze sind Plattformen) liegt, einen einzelnen Akteur auf ihr so groß werden zu lassen, dass sich die Marktmachtasymmetrie drehen könnte. Erst recht nicht einen Akteur, der einfach die vielen kleinen Akteure aufkauft und so in einer Organisation vereint.

Was uns zum zweiten Zitat bringt: Thrasio kann niemals das nächste Procter & Gamble via Amazon werden, weil Amazon das schlicht nicht zulassen wird. Ein erfolgreicher Marktplatzhändler in der Größenordnung von P&G liegt diametral zu den Zielen von Amazon. Kartellrechtlich kann das durchaus relevant werden. Aber kein deutscher Thrasio-Klon sollte sich auf das Bundeskartellamt verlassen. Amazon hat so viele Hebel, die die Sichtbarkeit einschränken können (zu Gunsten von Produkten von anderen Anbietern!), dass die vielen kleinen Stiche schwer nachweisbar sein würden. Wie genau dieses Katz-und-Maus-Spiel aussehen wird, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass es in Amazons Interesse liegt, dass Thrasio und co. eine bestimmte Größenordnung schlicht nicht überschreiten.

Also nein, auf dem Amazon-Marktplatz wird wohl eher kein „nächstes P&G“ entstehen.

Die Frage ist aber, was ist der vielversprechendste Weg, heute eine Marke oder gar einen Markenkonzern aufzubauen?

Zunächst BWL 101: Verlasse dich niemals auf einzelnen Lieferanten oder Abnehmer, egal wie attraktiv es ist. Das steht natürlich im Konflikt zum Fokus junger Unternehmen. Amazons Marktplatz hat extreme Hebel für den Verkauf, mehr als jeder andere Marktplatz. Ein junges Wachstumsunternehmen konzentriert sich auf diesen Marktplatz? Wenig überraschend. Aber die Frage ist, ob den Teams bewusst ist wie fragil die Basis der Distribution ist. Denn man muss sich dessen bewusst sein, um sich langfristig nachhaltig aufzustellen.

Sprich also, mindestens Multihoming. Mindestens auf mehr Marktplätzen vertreten sein und zwar nicht nur als Listing sondern auch mit Ressourcen für die speziellen Anforderungen. Besser noch über Marktplätze hinaus denken, wenn man in künftigen Konzern-Dimensionen denkt. (Sprich: VC einsammelt.)

Das ist ein wesentliches Thema der (mindestens) nächsten 10 Jahre: Der Aufstieg von Multi-Plattform-Strategien, also Unternehmen, die nachhaltig erfolgreich sind, weil sie auf verschiedenen Plattformen unterschiedlich stattfinden. Wir werden dieses Jahrzehnt vor allem auch erste Ansätze sehen, wie man die verschiedenen Plattformen zu etwas Neuem on Top verbinden kann, also mehr mit der wachsenden der Zahl der Marktplätze und Plattformen aller Art machen kann als sie nur als Kanäle zu sehen, die bespielt werden müssen. (Letzteres wird auch funktionieren, größere Reichweite bleibt größere Reichweite, aber die Musik wird bei den clevereren Modellen spielen.)

Influencer und die neue Markenwelt

Ein anderer Weg Marken online aufzubauen, ist die extrem rasant wachsende Welt der Influencer, YouTube/Instagram/TikTok-Stars, Creators, wie auch immer man die via online berühmt gewordenen Persönlichkeiten nennen will.

Vor kurzem sorgte der Youtube-Star MrBeast für Schlagzeilen, weil er an einem Tag eine neue Fastfoodkette in den USA mit 300 Filialen launchte. Dazu gleich noch mehr.

Der entscheidende Unterschied zwischen einem Produkt, das auf Nummer eins in seiner Nische auf Amazon gekommen ist und einem populären Influencer liegt in der Portabilität bei letzterem: Influencer können ihre Reichweite auf andere Plattformen oder einen anderen Kontext übersetzen/mitnehmen. Der Nischengewinner auf Amazon ist ohne zusätzliche Anstrengungen außerhalb Amazons unbekannt.

Dieser Vergleich wirft durchaus die Frage auf, ob eine nur auf Amazon erfolgreiche Marke wirklich eine Marke im klassischen Sinne ist; oder vielleicht nicht doch ’nur‘ ein erfolgreiches Suchergebnis? (Das sich dank des Feedback-Loops des Amazon-Algorithmus längerfristig etablieren konnte.)

Das heißt nicht, dass aus Marktplätzen keine Marken erwachsen können, die über ihre Marktplatz-Präsenz hinauswachsen können. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte aus dem Elektronik-Bereich Anker sein.

Vielleicht ist es aber notwendig eine neue Rangordnung für Marken einzuführen. Kann Marke XY ihrem (Plattform-)Umfeld entwachsen?

Ich erwähnte oben die Notwendigkeit, auf vielen Plattformen stattzufinden, um die langfristige Relevanz sicherzustellen und die Abhängigkeit zu verringern. Influencer und vor allem YouTube-Stars haben das längst verstanden. YT-Stars sind nicht nur auf YouTube aktiv, sondern naheliegenderweise fast immer auch auf TikTok und Instagram. Jüngstes Beispiel: YT-Star PewDiePie wird seine Videos künftig auch auf Facebook verbreiten. (Forbes, siehe auch unten unter ‚Mehr Wissenswertes‘)

Mit dem rasanten Wachstum des Influencer-Themas geht auch eine Professionalisierung auf der Dienstleiser-Seite einher, die das ganze Thema wiederum weiter beschleunigt.

MrBeast hat für seine „300 Filialen“ mit VDC kooperiert. VDC (Virtual Dining Concepts) ist ein „Franchise-as-a-Service“, dessen einer Gründer früher CEO von Hard Rock Cafe war und ein Gründer von Planet Hollywood ist, also mit Erfahrung in Franchises.

VDC verbindet Influencer oder Stars mit Restaurants, einer App für Endnutzer und der Auslieferung über in den USA GrubHub, DoorDash, UberEats etc. (Ich empfehle sehr diesen Thread zu VDC. Natürlich gibt es aktuell auch Qualitätsprobleme.)

Das Konzept hinter VDC lässt sich verallgemeinern:

  • Influencer bringen die Marke, die Reichweite
  • Dienstleister organisiert die Lieferanten (hier Restaurants & Lierfdienste) und bringt sie mit der Marke zusammen
  • Dienstleister hilft beim konkreten Produkt (App etc., hier etwa: Gerichte und Menüs)

Appstores für die Apps und Lieferdienste mit APIs machen es einfach, das Backend lego-artig zu verbinden.

Das Potenzial hier ist enorm. Dieses Konzept lässt sich schließlich auf andere Branchen übersetzen.

Man kann an der Wachstumsdynamik von Shopify ablesen, wie groß das Potenzial auf beiden Seiten, Anbieter wie Kunden, bereits ist.

Dienstleister wachsen wie Pilze aus dem Boden.

Denkbar ist auch, dass Marktplatzhändler und -marken und Influencer zusammenkommen, weil letztere auf ‚ihren‘ Plattformen für Discovery sorgen können.

Modern Retail etwa berichtet darüber, wie TikToker dank ihrer Reichweite Affiliate-Imperien aufbauen, also einen neuen, für alle Beteiligten lukrativen Zugang zu Produkten auf Amazon schaffen:

Amazon, for all of its e-commerce dominance, remains a cluttered and confusing place to find new products — and these TikTokers have developed a flourishing auxiliary service that cuts through the noise. Most of their videos feature products that have some sort of unusual quirk: laser keyboards, cereal dispensers and a two-in-one sponge holder and soap dispenser are popular recent examples. In each video, #AmazonFinds TikTokers demonstrate how the product works, talking through the benefits in a voice-over. They make money through the commissions on their Amazon affiliate links. […]

Many of the products they feature appear to be organic, and right now, Wiley guessed that only a fraction are sponsored. “They can just drive such insane traffic and revenue for these brands because people relate to them more,” said Wiley of #AmazonFinds TikTokers. She compared them to modern-day QVC hosts, able to make their sales pitches entertaining.

Der von extern kommende Boost kann über die initialen Verkaufsrekorde hinaus wirken, weil der Amazon-Algorithmus populäre Produkte höher gewichtet. Aber davon abgesehen: Wer populäre TikToker dazu bewegen kann, enthusiastisch das eigene Produkt zu bewerben, sollte vielleicht eine eigene Webpräsenz haben, auf der man direkt mit den neuen Kunden interagieren kann, statt sie auf eine Produktseite eines Marktplatzes zu leiten, über deren Segmente man nur beschränkte Kontrolle hat…

Dieser Text ist zuerst in Nexus 52: Wie sich heute Marken aufbauen lassen, Marken-Unterschiede, Facebook-AR, Steady am 15.01.2021 erschienen. Nexus ist das Mitgliederangebot von neunetz.com mit zusätzlichem Newsletter, exklusiven Podcasts und einem Discord-Forum. Mehr Informationen zum Mitglieder-Angebot hier.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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