Sascha Lobo sieht die Gründe in der Staatstrojaner-Affäre und dem offensichtlich gewordenen Kompetenzvakuum in weiten Teilen der verantwortlichen Politik auch in einer weitestgehenden Missachtung und systematischen Unterschätzung der Digitalisierung bei den Verantwortlichen.
Er schreibt auf Spiegel Online:
Deutschland leidet unter einer grundsätzlichen Missachtung des digitalen Raums. Es ist kein Zufall, dass hierzulande kaum relevante und keine reichweitenstarken Blogs unabhängig entstanden sind, während das US-Großblog Huffington Post nach Seitenbesuchern doppelt so groß ist wie alle drei VZ-Netzwerke zusammen. Es ist kein Zufall, dass der deutsche Ebook-Markt praktisch inexistent ist.
Es ist kein Zufall, dass der Boom der Internetfirmen mit Unternehmenswerten bis in den dreistelligen Milliardenbereich hinein in Deutschland weitgehend daraus besteht, dass drei Brüder ein Startup nach dem anderen klonen. Es bleibt die anstrengende Hoffnung, dass die Zeit das ändern wird, denn Anzeichen für ein wachsendes Verständnis der digitalen Welt quer durch alle Bereiche und Altersschichten gibt es. Vielleicht muss man schmerzhafterweise einfach abwarten, bis der digitale Marsch durch die Institutionen wenigstens Leute dort hin spült, die nicht aus Versehen die Verfassung brechen.
In meiner Zeit bei netzwertig.com hatte ich die Missstände in der deutschen Gesellschaft in meiner Entwicklungsland-Trilogie dokumentiert.
(Ironie: Der einzige Mensch, der sich auf allen relevanten Plattformen die größte Reichweite als Einzelperson in Deutschland erarbeitet hat, nutzt diese Reichweite nicht dafür ein Blog aufzubauen. Stattdessen schreibt er eine Kolumne auf Spiegel Online, in der er das Fehlen reichenweitenstarker Blogs in Deutschland beklagt.)
Sascha Lobo says
Das ist natürlich totaler Unsinn, der letzte „ironische“ Absatz. Dir ist vielleicht entgangen, dass ich ein Blog habe – wichtiger aber: es geht nicht nur um mich. Kann es gar nicht. Es ist versucht worden, große Blogs aufzubauen, Spreeblick, Carta, Mädchenmannschaft und viele andere. Entweder waren die Versuche zu halbherzig, was natürlich sein kann, aber meine Interpretation ist, dass das deutsche Durchschnittspublikum Blogs nicht annimmt.
Auf Spiegel Online erreiche ich viele normale Leute, auf die es mir ankommt. Auf Blogs sagen sich die gleichen 20.000 Blogger gegenseitig, wie irre wichtig Netzpolitik ist (mit wenigen Ausnahmen). Wenn nicht die immer gleichen sieben Journalisten von SPON, Zeit Online, Heise et al. darüber schreiben, wirken Blogs exakt null nach außen. Sehr ärgerlich, ja. Aber eine Tatsache, für die Du mir bizarrerweise die Alleinschuld zuzuschieben scheinst. Das ist sehr bequem, vor allem für Leute wie Dich, die das Potenzial hätten, aber sich aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen mit In-Group-Performing begnügen, offenbar.
Marcel Weiss says
Danke für den interessanten Kommentar, Sascha.
Zu den Versuchen: Ich kenne die Ausrichtung von Mädchenmannschaft nicht, kann dazu also nichts sagen. Zu Carta (das finanziell nicht erfolgreich war, aber sonst sehr gut bei seinem Zielpublikum angekommen ist, das nicht nur aus den „20.000 Bloggern“ bestand) und Spreeblick: Beide haben es ohne externe Finanzierung und mit teils sperrigen Inhalten (Carta) oder einer fehlenden Linie (Spreeblick) versucht. Das ist bei keinen der größeren Blogs in den USA der Fall gewesen. (Lediglich einige Techblogs und andere Nischenblogs haben es mit Bootstrapping hinbekommen. HuffPo, Politico, GigaOm etc. zB. wurden fremdfinanziert. Kein Blog mit fehlender Linie ist dort groß geworden.)
Davon abgesehen haben wir auch hierzulande ein paar Erfolge. Mark Hoffmann von Gründerszene erzählte mir neulich, dass sie mittlerweile 11 Leute beschäftigen. Zumindest in der Außenansicht erscheint mir auch netbooknews recht erfolgreich in seiner Nische.
Jetzt kann man bei allen argumentieren, dass sie in ihren winzig kleinen Nischen leben, was ich nicht so sehen würde, aber nachvollziehen könnte.
Deshalb möchte ich noch auf Exciting Commerce hinweisen (wo ich als Autor tätig bin), das nicht nur mit den Live Shopping Days bereits eine erfolgreiche jährliche Konferenz mit 300+ Teilnehmern aus dem Ecommerce-Sektor aufgebaut hat, wo zB bereits der CTO von Woot! gesprochen hat, sondern just noch eine Konferenz (K5) für die größten Onlinehändler erfolgreich veranstaltet hat, wo z.B. die Keynote vom Geschäftsführer von Tengelmann kam.
Warum erzähl ich das? Jochen Krisch, der Macher von Exciting Commerce, hätte sicher, statt das Blog zu machen, seine Energie auch in Kolumnen in den einschlägigen Fachmagazinen reinstecken können. (die macht er zusätzlich) Immerhin findet man dort die normalen Versandhändler, die man in den letzten Jahren über Blogs nicht errreicht hätte.
Er hätte sie erreicht, aber was hätte er damit erreicht? Vielleicht noch mehr Beratungsanfragen? Wer weiß. Ich glaube, und das ist jetzt wild rumvermutet, seine Themen wären im Meer des jeweiligen Umfeldes mehr oder weniger versandet. Mit dem Blog dagegen kann man nicht nur eine Kolumne zum großen Wochenthema schreiben, sondern Themen, die man behandeln will, verfolgen und immer wieder aus allen Blickwinkeln beleuchten. Man kann ein interessiertes Publikum um sich scharen und mit der Zeit, wenn man gut ist, in dem Feld, das man beackert, sehr viel mehr bewegen, als wenn man irgendwo andockt, wo man einer unter vielen mit einer Stimme unter vielen ist. Und niemand kann einem sagen, dass dieses oder jenes Thema gerade nicht passt.
Hätte Jochen Krisch mit Kolumnen Konferenzen auf die Beine stellen können? Vielleicht, ich wage es aber zu bezweifeln. Auf keinen Fall hätte er auf diesen Weg eine eigene Publikation etabliert. Exciting Commerce wird heute in der kompletten dt.sprachigen E-Commerce-Branche gelesen, und sogar mit Google Translate(!) in mindestens den USA.
Ich glaube zu verstehen, warum du die Kolumne auf SPON machst. Von der Sichtbarkeit eimal abgesehen: Ich bin nicht sicher, ob es so sinnvoll ist, an einem boulevardesken Angebot anzudocken, das, wenn es Pageviews bringt, auch Themen entgegen deinen Einstellungen und dem common sense behandelt. Und ich bin auch nicht sicher, ob du deine eigene Reichweite nicht unterschätzt, die du mit einer zentralen, immer aktuellen Anlaufstelle, die unabhängig von Social Networks wäre, erreichen würdest. (Dank der Viralitätspotentiale spricht man nicht immer zu den gleichen Leuten, nur weil man mal nicht auf SPON veröffentlicht.)
„Wenn nicht die immer gleichen sieben Journalisten von SPON, Zeit Online,
Heise et al. darüber schreiben, wirken Blogs exakt null nach außen.“
Das mag in weiten Teilen stimmen, aber stimmt auch nicht immer. Von den Nischen wie Onlinehandel etc. einmal abgesehen: Meine Texte hier haben schon Einzug als Zitat in zumindest eine Bundestagsrede gehalten. Ich weiß, das zumindest ein paar MdBs und/oder ihre Mitarbeiter von drei der fünf im Bundestag vertretenen Parteien hier ab und an mitlesen.
„Das ist sehr bequem, vor allem für Leute wie Dich, die das Potenzial
hätten, aber sich aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen mit
In-Group-Performing begnügen, offenbar.“
Danke für das Kompliment. Du machst deine Sache auch gut. :) Ich bin nicht sicher, was du mit In-Group-Performing meinst, aber wenn du glaubst, dass ich hier nur Themen behandele, bei der „meine Peergroup“ (wer auch immer das sein soll) mir zujubelt, dann warst du lang nicht, wahrscheinlich nie, in den Kommentaren, wenn ich ausführlich über Urheberrecht und Filesharing geschrieben habe. Ich werde bei diesen Themen zuverlässlich beschimpt.
Das wird auch bei Themen, über die ich in naher Zukunft schreiben wil, nicht anders sein.(wahrscheinlich wirds eher schlimmer)
Wenn du mit 'In-Group-Performing' ein eigenes Blog befüllen, statt bei einem größeren Angebot zu schreiben, meinst, dann kann ich dir nur sagen, dass ich immer wieder überrascht bin, wer bei mir mitliest, wenn sich Leute melden. Das war schon früher bei netzwertig so und ist jetzt immer noch so. (Und das ist auch der Grund, warum praktisch jeder meiner Jobs in den letzten 3+ Jahren mehr oder weniger direkt über neunetz.com oder neumusik.com zustandekam.) Ich schreibe dank neumusik.com eine monatliche Kolumne für die Musikbusiness-Zeitschrift Musikmarkt und ich bin jedes Mal wieder begeistert, welche progressiven Themen ich dort immer wieder unterbringen kann. Aber das kann für mich nur etwas zusätzlich zum Blog und nicht der Ersatz für diesen sein.
Wie oben beschrieben, halte ich Blogs auch in Dtl. für effiziente Vehikel, wenn man sie zielführend einsetzt. Dass das hierzulande immer noch selten passiert, ist wirklich bemerkenswert. (Und eine meiner Theorien noch: warum hierzulande Blogs immer noch unterrepräsentiert sind, sehe ich nur zum Teil im Publikum und neben oft schlecht geführten Blogs eher auch im Fehlen von Durchlauferhitzern wie Digg begründett. Das letzte Manko hat sich mit Twitter, Facebook und Google+ langsam erledigt. (Wie bei unserem anderen Streitthema sehe ich auch hier den Nachholbedarf eher bei den Anbietern als beim Publikum.))
Ich kann deine Position nachvollziehen. Mitnichten gebe ich dir die „“Alleinschuld“ für den Zustand der dt. Blogs. Ich gebe dir nicht mal eine normale Schuld. (Ehrlich, wirklich nicht.) Ich finde es aber nur schade, dass du nicht trotzdem nebenbei ein Blog aktiv mit den Themen befüllst, die dich umtreiben. Gerade weil du das Potential hättest, ein sehr gut gelesenes Blog aufzubauen, das nicht nur etwas bewegen sondern auch auf andere Blogs abstrahlen könnte, wenn es nicht nur bei Vollmond befüllt wird. Wenn nicht einmal du so etwas machst, wer dann. Das war alles, was ich damit sagen wollte.
Sascha Lobo says
In einem Punkt hast Du recht; und das ist der Grund, weshalb ich in letzter Zeit wieder häufiger mein Blog befülle.
Marcel Weiss says
Super!
Leander Wattig says
Frage mich gerade, zu wessen „Group“ ich gehöre ;))
Ich habe im Buchmarkt durchaus die Erfahrung gemacht, dass man selbst als Frischling und Einzelkämpfer in kürzerer Zeit mit einem Blog sowie passenden zusätzlichen Community-Plattformen sowie Networking-Events durchaus eine stärkere Durchdringung schaffen und in die Breite wirken kann. Aber auch das ist natürlich nur eine Nische.
Hinderlich ist meiner Erfahrung nach vielfach argumentative Schwarz-Weiß-Malerei, die zwar die Anhängerschaft eint und stärkt, aber auch dazu führt, dass sich viele gleich abwenden.
Das Charakteristische in Deutschland ist doch, dass viele Projekte nicht die nötige Power und Ausdauer haben, warum auch immer – siehe Carta. Außerdem wird nicht genug kooperiert. Jeder betreibt seinen eigenen kleinen Blog. Eigentlich müssten wir uns unter einem Themendach zusammen tun, die Erlösquellen von Beginn an im Blick haben, das Ding pushen, die Kosten zunächst über Beratung u.ä. querfinanzieren und die Sache schrittweise hochziehen. Spannend wäre ja gerade auch, verschiedene Standpunkte abzubilden wie bei Eurer Streitdiskussion letztes Jahr oder wann das war. Das würde sicher klappen. Aber wer macht das schon so konsequent …?
Leander Wattig says
P.S.: Außerdem habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, von außen nach innen zu argumentieren. Also erstmal eine Vision formulieren, die viele Leute auch mit anderen Detail-Ansichten teilen. Das ist der gemeinsame Nenner. Dann wird nach innen argumentiert, diskutiert, gestritten etc. Aber der Leuchtturm ist stets sichtbar. Idealerweise hat die Leuchtturm-Botschaft dann noch eine „virale“ Komponente natürlich einprogrammiert. Zudem müsste man dann die Wortführer der Gegenseite gezielt angehen und auf gut sichtbare Debattenbühnen zerren vor dem Hintergrund der Vision, die der Großteil des Publikums teilt.