Sebastian Matthes im Wirtschaftswoche-Blog ungedruckt über die verhältnismäßig langsame Verteilung der Nutzung von Webdiensten in Deutschland:
Grund für das Aufmerksamkeitsdefizit ist, dass es im deutschen Twitter-Raum zu wenig Menschen gibt, die der weltweiten Community etwas zu sagen hätten. Zu wenige Top-Ökonomen, bekannte Schauspieler, Buchautoren und Spitzenpolitiker nehmen an der Diskussion teil. Anders in den USA.
Bei Blogs sieht die Sache übrigens ähnlich aus: In den USA sind sie beispielsweise unter Top-Ökonomen längst ein Instrument, um sich über neueste Gedanken und Studien auszutauschen. In Deutschland gibt es allenfalls zaghafte Ansätze.
Es dauert in Deutschland einfach wahnsinnig lange, bis sich Instrumente wie Twitter, Facebook & Co. durchsetzen, auch deshalb, weil wir ersteinmal jahrelang über die Risiken diskutieren müssen. Das kostet Zeit, Zeit, die andere produktiv nutzen.
Es ist ein Teufelskreis: Ohne die Nutzung von Menschen, die bereits eine Autorität mitbringen, sei es als Entertainmentstar oder als Experte in Ökonomie oder anderen Feldern, kann sich die Sichtweise auf Webdienste nicht ändern: Wenn Schauspieler in Interviews im TV erzählen können, wie toll Twitter ist, oder wenn das ein Politiker von Rang macht, dann hat das Auswirkungen auf die Wahrnehmung auf diese Webdienste. Ohne diese veränderte Wahrnehmung probieren aber viele hierzulande diese Dienste erst gar nicht aus; und urteilen von außen, was nicht sinnvoll ist. Da muss dann erst eine Partei in Landesparlamente einziehen, die sich vor allem mit Internet-Themen profiliert, bis sich mehr ändert.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Neuland vor uns auftut. Eine Zeit, in der Experimentierfreudigkeit gefragt ist.
Wir sind eine Gesellschaft, die sich vor allem durch Furcht auszeichnet.
Unser Zwang als Gesellschaft praktisch immer zuvorderst und oft ausschließlich über die Risiken und Gefahren zu sprechen, und die immensen Vorteile in einem schulterzuckenden Nebensatz abzuhandeln, hält uns immer weiter zurück.
Der unvermeidlich langsam eintretende relative Bedeutungsverlust des Westens in der Weltgesellschaft, der aktuell durch die Finanz-/Eurokrise stark beschleunigt wird, wird zum Beispiel in den USA zumindest dadurch abgeschwächt, dass dort mit den aktuell entstehenden Internet-Plattformen die kommerzielle Infrastruktur für die Industrien von morgen entstehen. Die wirtschaftliche Bedeutung dessen kann man nicht überschätzen.
Wir haben in Deutschland nichts dergleichen.
Dafür haben wir in Deutschland Datenschützer, Google-Hass und Facebook-Abscheu.
Deshalb: Schaut mehr auf die Chancen, setzt die Risiken in Nebensätze. Traut euch was. Für die Kinder.
Stefan Münz says
Ich sehe die Hauptursache für die deutsche Internet-Rückständigkeit nicht darin, dass „Stars aus Funk und Fernsehen“ fehlen. Diese Interpretation von „tollem Internet“ finde ich fast selber schon etwas rückständig. Das Netz schafft sich seine eigenen Autoritäten auf Grund eigener Dynamik und ist auch ohne Mrs. Kutcher lebensfähig. Nein, dem Ami-Starkult huldigen müssen wir nun wirklich nicht. Vielleicht ist Deutschland den Amis in dem Punkt sogar etwas voraus. Wir brauchen keine Internet-Verkünder, an denen wir speichelleckend hochschauen können wie vor Jahr und Tag an James Dean und Marylin Monroe. Wir brauchen eher die Bereitschaft von „gesellschaftlich Herausgehobenen“, sich mit ganz normalen Leuten zu unterhalten. Betonung auf „unterhalten“. Was nutzt mir eine Claudia Roth bei Google+ (https://plus.google.com/u/1/116623723512670996958/posts?hl=de), wenn die einfach nicht auf Diskursversuche eingeht? Kannste knicken. Dann lieber nur netz-interne Koriphäen, die aber zumindest wissen, dass man im Netz präsent sein muss, um es zu beherrschen, und dass man das keinen Hiwis, Ghostwritern und HTML-fähigen Söhnen von Angestellten überlassen kann.
Klausi says
Naja man muss nicht jedem Trend hinterherlaufen der aus dem Amiland kommt. Ich bin selbst in Twitter hin und wieder aktiv und frage mich auch häufig, warum bin ich in diesem Portal? Facebook ist schon viel sinnvoller als Twitter.
tom says
Wer das mit der Furcht und der Überbetonung der potentiellen Risiken mal an sich selbst sehen will, ersetze einfach Twitter/Facebook/Google/Internet durch Gentechnik…
don dada says
der „artikel“ ist leider murks und zeugt vom wenig entiwckelten verständnis des autors für die gefahren, die blindes und unreflektiertes hinterherlaufen hinter rattenfängern birgt.
ein hoch auf den in deutschland immer noch in ansätzen existierenden datenschutz und das gesunde misstrauen, dass der jüngeren generation wie dem autor fatalerweise abhanden zu kommen droht.
welchen vorteil hat twitter? keinen. also wozu nutzen?
der begriff „top-ökonom“ ist ohnehin ein oxymoron. grossbritannien ist ein land, in dem nichts mehr existiert, ausser den „industrien von morgen“ — gebracht hat es dem land einen einwöchigen bürgerkrieg — da lobe ich mir deutschland, die anderen sollen ihren fortschrittswahn, der nichts anderes ist als gehirnwäsche, ruhig ausleben.
maenjemin says
Und dann ist da noch der kleine, scheinbar unbedeutende Teil der Bevölkerung, der auf dem Land lebt und den die Anbieter mit immer schöneren Versprechen über ihre Unfähigkeit (und den fehlenden Willen) ihn mit einer angemessenen Internetverbindung (zu humanen Preisen!) auszustatten, sodass auch er zumindest demnächst mit DSL 1000 surfen kann…wär doch was?
Dann könnten diese Leute nämlich auch in angemessener Weise an der inzwischen progressiv-digitalen Welt teilhaben…