We stole from the Greeks and made the gods into institutions.
– David Simon über The Wire
Die US-Serie The Wire wird von vielen (allen?) TV-Kritikern als die beste TV-Serie aller Zeiten bezeichnet:
Die Kritiker schwärmen: „Beste Serie seit Jahrzehnten“ („New York Times“); „beste Show in der Geschichte des amerikanischen TV“ („Philadelphia Inquirer“); „wird als das beste Drama, seit es Fernsehen gibt, erinnert werden“ („San Francisco Chronicle“); „HBOs Meisterwerk – eine TV-Revolution“ („Entertainment Weekly“).
[..]
„Time“ entschuldigte sich bei seinen Lesern dafür, nicht schon früher über „The Wire“ berichtet zu haben: „Wir haben versagt.“ Das Intellektuellenmagazin „Atlantic Monthly“ empfiehlt, die DVDs zwischen Dostojewskij, Dickens und Tolstoi einzusortieren, und der „New Yorker“ begleitete den Erfinder der Serie, David Simon, monatelang für einen elfseitigen Artikel, in dem selbst das Weihnachtsmahl seiner Eltern beschrieben wird.
Was ist das Besondere an The Wire? Neben dem kompromisslosen Format (die im Vergleich zu gewöhnlichen TV-Serien langsame Erzählweise erlaubt keine Spannungsbögen pro Episode und versteht die Serie mehr als Roman in TV-Form; Musik läuft nur, wenn ein Charakter Musik hört) hat The Wire etwas Bemerkenswertes geschafft:
Verkleidet als Copshow ist es eine Serie über den Verfall der amerikanischen Gesellschaft. Die Serie zeigt, wie etablierte, gealterte Institutionen in ihrem Selbsterhaltungstrieb destruktiv auf die Gesellschaft wirken. Sie zeigt auf, wie Informationsasymmetrie und falsche Anreize Menschen dazu bringen oder zwingen, nicht so zu handeln, wie sie unter anderen Umständen handeln würden.
Was in griechischen Tragödien die Götter als unaufhaltsame Naturgewalten waren, sind bei The Wire die Institutionen.
Politiker und ihre Mitarbeiter, die von Polizisten geschönte Statistiken erwarten, um Presse und Höhergestellten keine Chance für Angriffe zu geben. Schulen, an denen Tests im Vorfeld auswendig gelernt werden, um gut im Ranking abzuschneiden. Journalisten, die nur an Preisen interessiert sind, und Redakteure, die sie dabei unterstützen, weil Prestige nützlich ist.
Wenn Vorgesetzte aufsteigen, weil sie Statistiken so aufbereiten, wie es Politiker brauchen, werden Polizeireviere nicht effizienter. Es glaubt nur jeder, der es nicht besser weiß. Wenn Journalisten Preisen hinterherjagen und Schulen Rankings, dann optimieren sie dementsprechend.
Das ist den Individuen noch nicht einmal immer vorzuwerfen: Wer in einem Bereich arbeitet, in dem die Arbeitsplätze immer knapper werden, der versucht natürlich den eigenen Lebenslauf auf eine möglichst gute Basis zu stellen. Und wer weiß, dass die zugeteilten Gelder in der nahen Zukunft, und gar der eigene Arbeitsplatz, davon abhängen, welche Zahlen man produziert, dann produziert man direkt auf die Zahlen zu, und nicht auf das, was die Zahlen eigentlich sichtbar machen sollen.
The Wire ist so faszinierend, weil es ein abstraktes Thema, institutionellen Verfall und organisationale Problematiken wie etwa Anreizsysteme, in eine fikitonale Narration verpackt, die nichts beschönt und vereinfacht, es aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen verständlich macht. Weil das eines der bestimmenden Problemfelder unserer Gesellschaft ist, ist das nicht nur ein Fest für Organisationstheoretiker. (In meinem BWL-Studium waren die Schwerpunkte Unternehmensrechnung und Organisation.)
The Wire ist ein Portrait der US-Stadt Baltimore, aber es ist gleichzeitig ein Portrait der US-Gesellschaft in ihrer heutigen Verfassung; und darüber hinaus auch von westlichen Gesellschaften allgemein. Denn überall lässt sich im kleinen wie im großen beobachten, was The Wire beschreibt.
The Wire ist nicht misanthropisch. Es erzählt seine Geschichte aus der Sicht der einfachen Arbeiter und des mittleren Managements. Der Schichten, die zerrieben werden.
David Simon, der Macher von The Wire, in einem langen, sehr lesenswerten Interview:
I think it’s a dark show. I think it has a great deal of sentiment to it. I just don’t think it’s sentimental. I think it’s intensely political. I think if you want to suggest that it’s cynical about institutions and their capacity to reform themselves or be reformed, I would have to plead guilty to that. The only thing I would cite is to say that, given where we’re at as a culture right now, cynicism therefore becomes another word for „pragmatically realistic.“I don’t think it’s cynical about human beings.
Immer wieder zeigt The Wire Menschen, die das Richtige machen wollen und entweder feststellen, dass sie damit gegen Wände laufen oder dass sie nur vorwärts kommen, wenn sie das Spiel mitspielen. Es geht nicht um gut und böse, sondern um Anreize und Anreizsysteme.
Simon und seine Mitstreiter zeigen in The Wire keine Lösungen, und auf keinen Fall einfache Lösungen, für die dargestellten Probleme auf.
David Simon hat Recht, wenn er ausführt und in der Serie aufzeigt, dass Institutionen, hier hierarchische Organisationen, schwer bis gar nicht reformierbar sind.
Wir haben als Gesellschaft ein enormes Problem, das in seiner Tiefe kaum erkannt wird. Destruktive hierarchische Strukturen verstärken die Schäden, die sie verursachen, immer weiter. Gleichzeitig werden sie mit steigendem Alter immer unreformierbarer. Beides geht Hand in Hand dank sich tief verankernden, fehlgeleiteten Anreizsystemen. Während Unternehmen vielleicht noch untergehen und Platz machen können für Neues, gilt das Gleiche für Behörden und politische Ämter nicht.
Es kann sich kein ‚Held‘ hinstellen, die Ärmel hochkrempeln und das Problem einfach lösen. Weil das Problem systemisch ist.
***
Eines der großen Themen unserer Epoche ist in meinen Augen eine Enthierarchisierung. Wir können an vielen Stellen die ersten Anfänge beobachten, wie aus Hierarchien Netzwerke werden.
Oder präziser: Wie Aufgaben, die früher nur von hierarchisch organisierten Institutionen erledigt werden konnten, von Netzwerken übernommen werden. Wikipedia ist das offensichtliche Beispiel. Clay Shirky hat es in „Here comes everybody“ (Affiliate-Link) als ‚organizing without organizations‘ bezeichnet.
Gleichzeitig entstehen neue Orte im Web, an denen Dinge in Marktform statt in hierarchischer Form organisiert werden. Plattformen, auf denen (mehrseitige) Märkte entstehen, die vorher nicht möglich waren. Diesen Trend habe ich als die P2Pisierung der Wirtschaft bezeichnet.
Was ist der wesentliche Unterschied zwischen Netzwerken und Märkten auf der einen Seite und Hierarchien auf der anderen?
Netzwerke und Märkte sind durchlässig. Sie sind sehr viel durchlässiger als Hierarchien. Filter, statt Gatekeeper. Transparenz, statt Informationsasymmetrien. Korrigierbare Anreizsysteme.
In seinem neuen Buch „The Penguin And The Leviathan“ (Affiliate-Link) beschreibt Yochai Benkler anschaulich und ausführlich, warum unser, von der industriellen Gesellschaft mit ihren hierarchischen Institutionen geprägtes Menschenbild vom Egoisten nicht nur unvollständig ist (was jedem klar sein dürfte), sondern sehr viel weiter weg von der Realität ist, als die meisten glauben. Der Mensch an sich ist nicht nur weitaus weniger egoistisch als oft angenommern, er ist auch sehr viel kollaborativer. Etwas, das sich sogar evolutionstheoretisch begründen lässt: Der Kollaborierende stärkt die eigene Gruppe und sichert damit nebenbei auch besser das eigene Überleben.
Damit spannen wir wieder den Bogen zu The Wire, in der die Menschen durch die Anreize der Institutionen korrumpiert werden, nicht anders herum, und diejenigen, die an ihren Idealen so weit festhalten wie möglich, verzweifeln, weil sie im vorgegebenen Rahmen nichts erreichen können. Der Rahmen ist entscheidend.
Wir stehen noch immer am Anfang einer umwälzenden Veränderung, die unsere Gesellschaft erschüttern wird. Die ersten Umbrüche der letzten Jahre waren nur Vorboten.
Es ist vielleicht ein glücklicher Zufall, dass zur gleichen Zeit, in der die Finanzkrise die globale Wirtschaft erschüttert und nicht loslassen will, Amazon, Facebook, Wikipedia und Tausende andere große und kleine Unternehmen, Projekte und Netzwerke Menschen zusammenbringen und die alten Wege hinterfragen, nach denen Gesellschaft und Wirtschaft organisiert waren.
Egal ob man The Wire oder der Wall Street zuschaut, die Erkenntnis dürfte ähnlich sein: Das Internet konnte nicht früh genug kommen.
Das 21. Jahrhundert wird die Epoche, in der sich entscheidet, ob wir das industrielle, im Nachhinein sicher als sehr unmenschlich wahrgenommene, Zeitalter hinter uns lassen und uns etwas besseres bauen können oder ob es uns geordnet in den zivilisatorischen Untergang führen wird.
***
Man kann The Wire unter anderem auf Amazon kaufen. (Affiliate-Link)
Siehe auch:
Jan Jasper Kosok says
Ich schmökere gerade unterwegs immer mal wieder in Luhmanns Mitschrift zu einer seiner Systemtheories-Vorlesungen. Bei dem Satz „Destruktive hierarchische Strukturen verstärken die Schäden, die sie verursachen, immer weiter.“ ff musste ich kurz an die Busfahrt heute morgen denken.
Marcel Weiss says
Interessant. Luhmann habe ich, muss ich zu meiner Schande gestehen, noch gar nicht gelesen.
Friedemann Karig says
Jeremy Rifkin würde eher die globalen ökologischen Probleme als die Krise sehen, zu deren Überwindung das Internet (und das durch diese globalen demokratischen Medien erst ermöglichte „biosphärische Bewusstsein“) gerade zur rechten Zeit kommt.
Ansonsten stimme ich Dir natürlich komplett zu. Institutionen waren mal eine gute Lösung, um große Gesellschaften und Volkswirtschaften zu stabilisieren. Sie haben gutes, aber auch viel schlechtes gebracht. Und einige „historische Unfälle“ (Shirky halt) verkörpert und bis heute künstlich am Leben gehalten.
Jetzt haben wir andere Mittel, um eine Welt zu bauen, die dem einzelnen Menschen mehr entspricht.
Ronnie Grob says
Sehr schön beobachten kann man, wie viele Online-Portale von Printprodukten den publizistischen Kurs, für den sie mal bekannt waren, aufgeben, weil sich herausstellt, dass andere Sachen besser geklickt werden. Irgendwann dann haben sich nicht nur die Leser, auch die Schreiber ganz vom ehemaligen Produkt entfremdet. Aus kapitalistischer Sicht ist es sicher richtig, wenn ein Produkt den Bedürfnissen des Lesers angepasst wird. Es fragt sich nur, ob der Leser will, dass sich das von ihm eigentlich geschätzte Produkt vollends seinen durch Klicks zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen anpasst. Und ob er das Produkt am Schluss überhaupt noch mag.
Die Beschreibung von „The Wire“ als ein Abbild des Verfalls trifft es mE sehr gut. Bedrückend ist nur, dass kaum jemand einen Ausweg aus dieser Abwärtsspirale zu kennen scheint.
Marcel Belledin says
Gute Analyse. Ich bin mir nur nicht sicher, ob du das Netzwerk grundsätzlich als nicht hierarchisch siehst? Die Strukturen bereiten sich auch dort aus, auch wenn sie noch nicht so gewachsen sind. Sie sind teilweise noch durchlässig… Wikipedia ist ein Beispiel, wo ich schon Zweifel hätte es als nicht hierarchisch zu bezeichnen.
Jan Jasper Kosok says
Ich eben auch nicht. Mein Antrieb war vor allem das sich einschleichende Gefühl, dass unheimlich viele Leute immer gern und inflationär mit Luhmann um sich werden, ohne zu wissen, worum es geht. Nach 70 Seiten leuchtet mir auch ein, warum das so ist. Das ist Stoff, der sich ohne weitere Vertiefung nur schwer greifen lässt. Will sagen, falls man Nachholbedarf sieht, sollte man Zeit einplanen.
Marcel Weiss says
Ich verstehe hierarchisch hier aus organisationstheoretischer Sicht. Eine Hierarchie ist top down, Netzwerke sind bottom up. Wir können bei älteren Netzwerken wie Wikipedia beobachten, dass sich Strukturen verfestigen und sich informelle Rangordnungen bilden. Sie bleiben aber informell und werden nicht formalisiert. Wie nah das dann an eine formale Hierarchie kommt, müsste mal untersucht werden. Ich glaube aber, dass es immer Unterschiede geben wird, schon aus informationsarchitektonischen Gründen.
Aber guter Einwand. Danke!
jensbest says
Einstiegsempfehlung Luhmann: http://books.google.de/books?i…
autopoiet says
Lesenswerte Zusammenfassung. Danke dafür.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich „das Netzwerk“ in ähnlich umfassender Weise als Lösung für die Probleme auffassen würde, die David Simon in The Wire beschreibt. Denn: Netzwerke müssten nicht nur die Funktionen konventioneller Hierarchien gewährleisten (der einfachere Punkt), sondern gleichzeitig dafür sorgen, dass institutionelle Kurzschlusslogiken nicht einfach neu reproduziert werden – die (deutschsprachige) Wikipedia, nur weil Du sie oben als „das offensichtlichste Beispiel“ anführst, mag als stille Warnung in diesem Sinne dienen. Streng hierarchisch organisierte Institutionen bieten sicherlich ein sehr geeignetes Medium für dysfunktionale Kurzschlusslogiken – aber das Kernproblem liegt tiefer, befürchte ich. Ich empfehle bei dieser Gelegenheit folgende Rede David Simons: http://sebastian-ploenges.com/…
Marcel Weiss says
Klar, auch Netzwerke lösen nicht alles und können auch zu Kurzschlusslogiken führen. Aber (durchlässigere) Netzwerke sind unsere beste Chance auf besseres Organisieren in vielen (nicht allen) Bereichen, weil sie die Kurzschlusslogiken im Vergleich zu Hierarchien tendenziell minimieren. (Die dt. Wikipedia ist ein gutes Beispiel dafür, dass Netzwerkstrukturen allein nicht zwingend die Lösung sind, wenn die Software und damit das Rahmensystem der Größe und dem Alter des Netzwerks nicht mehr genügen. Man könnte aber immer noch ohne Probleme argumentieren, dass selbst eine dysfunktionale deutsche Wikipedia der Gesellschaft einen besseren Dienst leistet als ein hierarchischer Brockhaus.)
Mir ist auch klar, dass Simon nicht zu dem selben Schluss kommt wie ich. Vielen Dank für den Link! Schaue ich mir an, wenn ich Zeit habe.
autopoiet says
»Aber (durchlässigere) Netzwerke sind unsere beste Chance auf besseres Organisieren in vielen (nicht allen) Bereichen, weil sie die Kurzschlusslogiken im Vergleich zu Hierarchien tendenziell minimieren. … Man könnte aber immer noch ohne Probleme argumentieren, dass selbst eine dysfunktionale deutsche Wikipedia der Gesellschaft einen besseren Dienst leistet als ein hierarchischer Brockhaus.«
Da bin ich vorsichtiger. Besser auf Basis welcher Grundlage? Als augenscheinliches Beispiel des Wiederauftretens solcher Hierarchien? Solange »Wissen« (besser wohl: Information) nach Maßgabe eines latent-hierarchisierenden Beobachtungsschemas (relevant/irrelevant) sortiert wird? Ich möchte nicht zynisch klingen, weil ich auch keine Lösung parat habe. Aber Wikipedia (die deutschsprachige) dokumentiert genau die Dysfunktionalität, die David Simon &. Co auch dokumentieren; eine Minimierung von Kurzschlüssen kann ich jedenfalls nicht beobachten, im Gegenteil (http://de.wikipedia.org/wiki/W…öschkandidaten). Möglicherweise funktionieren sie subtiler oder werden besser verschleiert (oder interessieren schlicht weniger).
Kurz: Der Rationalitätsanspruch der Wikipedia ist strukturell derselbe wie jener der hierarchischen Organisation des Baltimore Police Departments… ob man den Text von unten nach oben oder von oben nach unten liest, ist imho nebensächlich.
Sascha says
Was aber, wenn Netzwerke nicht die Zukunft der Organisation sind, sondern ihr Ursprung, Hierarchien und Märkte mithin Ausprägungen der Vernetzung?
Daniel Jungblut says
Vielen Dank für diese wirklich lesenswerten Gedanken!
Ich werfe mal Max Weber in die Runde: Eine andere Möglichkeit, diese Problematik zu denken wäre auch im Sinne der Weberschen Definition von Macht. Demzufolge wird Macht ja definiert als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ In der legitimierten Ausübung von Macht, also Herrschaft, unterscheidet Weber bekannterweise charismatische und institutionalisierte Herrschaft. (siehe „Wirtschaft und Gesellschaft“)
Moderne Netzwerke wären dementsprechend eher ein Ort der charismatischen Herrschaft, wo Menschen aus natürlichen und unmittelbaren Gründen als mächtig empfunden werden: Weil sie kompetent arbeiten, weil sie Ahnung haben, sympathisch sind etc. Wenn diese Strukturen aber verhärten, sich also das Charisma institutionalisiert, dann geschieht das, was auch in der Wikipedia passiert ist: Dann beanspruchen diese Personen plötzlich, immer und qua Tradition kompetent zu arbeiten, Ahnung zu haben und sympathisch zu sein. Das Hinterfragen solcher Glaubensgrundsätze führt dann zur typischen Reaktanz: Verteidigung der alten Ordnung, Angriff gegen Umstürzler.
Ich denke, dass auch die Institutionen, die in The Wire (und nicht nur dort) seziert werden, diesen langen Weg hinter sich haben. Natürlich waren sie vorher keine Netzwerke, allerdings ist ihnen irgendwann die unmittelbar legitimierende Kompetenz verloren haben, und ihre Macht erhalten sie nun allein durch Tradition und Argumention im Stile von „Da könnte ja jeder kommen“.
Svengali says
Das scheint mir auch viel eher die Perspektive zu sein, die The Wire
einnimmt. Die politischen und administrativen Institutionen sind ja auch
gerade deshalb so ineffizient, weil ihr Funktionieren ständig von allen
möglichen informellen und unkontrollierten Netzwerken durchkreuzt wird.
Und auch außerhalb der politischen Sphäre sind Netzwerke nicht immer
erfolgreich, auch da nicht, wo sie unter enthierarchisierten und
dezentralen Vorgaben erfolgt, wie man zum Beispiel an der „New Day
Co-Op“ oder der Selbstorganisation der Hafenarbeiter beobachten kann.
Wenn es in The Wire überhaupt erfolgversprechende Methoden gibt, dann
sind es eher parasitäre, flexible Strategien, die Lücken und
Verwerfungen in den existierenden Strukturen und Netzwerken ausnutzen.
Damit kann man sich zumindest eine Weile ganz gut durchschlagen, wie
Omar Little, oder wenigstens punktuelle Erfolge erzielen, wie McNulty
und Freemon. Die Sonderkommission ist ja am Anfang geradezu ein
Sammelbecken von Anti-Netzwerkern, und dass es ihnen gelingt, die
Barksdale-Organisation zumindest ansatzweise in Schwierigkeiten zu
bringen, liegt auch daran, dass ihre Mitglieder mal mehr, mal weniger
außerhalb des Systems stehen. Was das angeht, weicht die Serie nicht so
sehr vom klassischen amerikanischen Topos des bewunderswerten
Einzelkämpfertums ab. Sie gönnt ihren Einzelkämpfern nur eben nicht mehr
den vollständigen Triumph, sondern allenfalls das, was in einer
vernetzten, durchorganisierten Gesellschaft machbar ist.
Vielleicht könnte man eine Quintessenz von The Wire auch so formulieren:
Sobald sich Allianzen und Interessengemeinschaften zu Netzwerken
verfestigen, die über die Situation hinaus bestehen wollen, aus der sie
entstanden sind, und das Weiterbestehen als Selbstzweck verfolgen, wird
es problematisch.
In diesem Zusammenhang lohnt sich übrigens auch ein Blick in Simons
aktuelle Serie „Treme“: New Orleans ist darin ganz wesentlich ein
Konglomerat unterschiedlichster Netzwerke, und die zentrale Frage ist,
wie lebensfähig und stabil solche Strukturen auch angesichts einer
zerstörerischen Katastrophe sind.
Svengali says
Institutionen können ihren Ursprung durchaus in Netzwerken haben. Ihr Ziel ist es ja gerade, Prozesse, die sonst informell und spontan ablaufen würden, in eine objektive, verlässliche und wiederholbare Struktur zu gießen – eben zu institutionalisieren.
Was Stringer Bell mit der Barksdale Organisation versucht, ist im Grunde ja genau das: Die Gang, die zunächst ja auch nur ein Netzwerk ist, dass sich aufgrund bestimmter Gegebenheiten bilden konnte, in einen Apparat zu verwandeln, der so stabil und zuverlässig funktioniert, dass der charismatische Chef auch mal ins Gefängnis wandern kann, ohne dass die Maschinerie auseinanderfällt. Das gelingt ihm natürlich nur teilweise, weil – könnte man sagen – auch das durchinstitutionalisierteste Staatswesen auch eine charismatische Legitimierung braucht, vor allem dann, wenn am Horizont eine charismatischere Konkurrenz auftaucht.
Marcel Weiss says
„Besser auf Basis welcher Grundlage? Als augenscheinliches Beispiel des Wiederauftretens solcher Hierarchien?“
Durchlässigkeit von unten nach oben. Auch die gefestigten Strukturen der deutschen Wikipedia sind so fest wie die des Baltimore Police Departments. Bzw. sie sind bottom up und nicht top down. (Das lässt sich sicher im Detail diskutieren.)
Marcel Weiss says
Ah, sehr interessanter Gedanke. Danke!
Marcel Weiss says
Danke für die Ausführungen. Das ist sehr interessant.
„Vielleicht könnte man eine Quintessenz von The Wire auch so formulieren:Sobald sich Allianzen und Interessengemeinschaften zu Netzwerken verfestigen, die über die Situation hinaus bestehen wollen, aus der sie entstanden sind, und das Weiterbestehen als Selbstzweck verfolgen, wird es problematisch.“
Da könnte etwas dran sein. Aber wir dürfen nicht die verschiedenen Ebenen vermischen. Die Netzwerke sind doch auch oft in The Wire dann Querverbindungen von Hierarchien. Was wenn die Hierarchien selbst weniger starr organisiert sind?
Marcel Weiss says
Danke auch für die Anmerkungen.
Marcel Weiss says
„Institutionen können ihren Ursprung durchaus in Netzwerken haben. Ihr Ziel ist es ja gerade, Prozesse, die sonst informell und spontan ablaufen würden, in eine objektive, verlässliche und wiederholbare Struktur zu gießen – eben zu institutionalisieren.“
Stimmt. Das ist ja, was man in Teilen bei der deutschen Wikipedia beobachten kann.
„wenn am Horizont eine charismatischere Konkurrenz auftaucht.“
Ich hoffe, damit meintest du nicht Marlo.