Erst gestern erschien in der FAZ der vielbeachtete “Aufruf der Schriftsteller“, in dem sich über 560 Autoren wie folgt äußern:
“Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr.”
Eine klare Forderung. Leider ist die Beobachtung von Benutzern ein so verlockend Effizienz-steigerndes Tool, dass beim Lesen des Artikels auf faz.net laut dem Browser-Plugin Ghostery immerhin 11 Tracking-Dienste eingesetzt werden – die die Daten zum großen Teil auch gleich in die USA transferieren (u.a. Doubleclick, Google Adsense/Analyics und Chartbeat)
Die FAZ ist damit wahrlich nicht allein, Mierau zählt NYT, Guardian und die taz auf, aber angesichts der Kampagne des FAZ-Feuilletons gegen „Big Data“ und Daten allgemein, erscheint dieses Vorgehen recht scheinheilig:
Besonders lustig ist diese Tracker-Liste bei der FAZ, wenn man den FAZ-Service-Artikel “Wie wehre ich mich gegen Überwachung?” liest, in dem unter anderem die Frage aufgeworfen wird:
“Was wissen Google und Facebook denn über mich?”
Nun, in diesem Fall weiß Google zumindest, dass gerade der Artikel gelesen wird. Hätte man der Ehrlichkeit halber ja mal hinschreiben können. Statt dessen wird aber lieber mit dem Finger auf das Internet gezeigt – so als passiere es eben “dort” und nicht “hier und jetzt”
Dieses Verhalten -Google und co. verdammen, aber gleichzeitig selbst nutzen- ist nicht neu für deutsche Medien, in denen auch schon zum Boykott von Google in Artikeln aufgerufen wurde, die von Google AdSense flankiert wurden.
Man mag das damit erklären, dass Verlag und Redaktion eigenständige Unternehmenseinheiten sind, aber dann stellt sich trotzdem folgende Frage:
Wie viel ist eine Presse wert, die ein Verhalten auf eine grundsätzliche Art verdammt, dieses Verhalten aber selbst einsetzt, ohne Anzeichen zu machen dies zu minimieren oder gar ganz zu unterlassen?
Es scheint zumindest keine ehrliche Debatte zu sein.
Bitte unterschätz nicht die Vielstimmigkeit eines Medienverlags. Die Leute, die für diese Tracker zu verantworten haben, kennen die, die für die Inhalte zuständig sind, wahrscheinlich nur vom Sehen. Vermutlich wäre ein Gutteil der FAZ-Redakteure total überrascht zu erfahren, dass ihre Website Tracker einsetzt. Oder eher: Sie hätten keine Ahnung, was das ist.
(Ohne besondere FAZ-Sympathien zu haben: Als Redakteur nervt es manchmal ganz schön, für jeden Mist, den dein Arbeitgeber gebaut hat, in die Pflicht genommen zu werden.)
Das ist mir bewusst, aber gerade bei diesem Thema und gerade beim Feuilleton der FAZ bleibe ich dabei: Wer hochmoralisch eine klare Linie zwischen Gut und Böse ziehen will, muss vorher diesbezüglich vor der eigenen Tür kehren. Wenn dieses Thema dem Feuilleton so wichtig wäre wie es tut (und es nicht auch zuvorderst um Positionierungen von einzelnen Unternehmen und das Framing für Debatten zu Regulierungsfragen geht), könnte es sehr wohl etwas bewegen.
Wenn der Verlag von heute auf morgen die Printausgabe einstellen und auf reines Online umstellen würde, würden die Redakteure auch die Wände hochgehen.
Hier schreiben sie teilweise hochemotional gegen ein Vorgehen an, das ihr eigener Verlag selbst im Extremen betreibt.
„Vermutlich wäre ein Gutteil der FAZ-Redakteure total überrascht zu erfahren, dass ihre Website Tracker einsetzt. Oder eher: Sie hätten keine Ahnung, was das ist.“
Das wäre witzig, wenn wir nicht alle wüssten, dass das auf viele zutreffen wird.
Ja, es hängt natürlich auch daran, mit wieviel moralischer Hybris du dich aus dem Fenster hängst. Ich lese die FAZ nicht, aber was davon in meine Filterblase eindringt, spricht dafür, dass sie sich hier tatsächlich sehr angreifbar machen.
Und es wäre vieles gewonnen, wenn die Mainstream-Journalisten ein bisschen mehr Ahnung von den Techniken haben, über die sie zu schreiben glauben müssen.
„Wie viel ist eine Presse wert, die ein Verhalten auf eine grundsätzliche Art verdammt, dieses Verhalten aber selbst einsetzt, ohne Anzeichen zu machen dies zu minimieren oder gar ganz zu unterlassen?“
…vermutlich viel mehr wert, als wenn nicht oder nur positiv darüber berichtet würde, nur weil diese Services in diesem Fall auch gewissermaßen als Sponsor auftreten (kostenlose Reichweitenverstärkung durch Anbindung an Soziale Netzwerke, Werbeeinnahmen durch AdSense)? Damit ist sie so manch anderem Presseprodukt voraus, in dem (positive) Berichterstattung oft nur noch als Gegenleistung zu einer geschalteten Anzeige erbracht wird.
Ja, sehe ich genau so.