21. Mai 2010 Lesezeit: 6 Min.

"Plattformneutralität": Eine inhaltsleere politische Forderung

Michael Seemann hat auf seinem FAZ-Blog eine Internet-Politik der Zukunft entworfen (im Sinne von: eine konstruktive Politik, die sich mit den tatsächlichen Umständen statt mit Symbolhandlungen befasst). Es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Forderung nach politisch durchgesetzter "Plattformneutralität". Seemann wird zu diesem Thema eine Keynote auf der vom 22.05.10 bis 24.05.10 stattfindenden SIGINT10 halten.

Inhalt:

Monopole und Plattformen

In einem Artikel schreibt Seemann:

Wie können wir die Freiheit des Nutzers erhalten? Wie können wir dauerhaft dafür sorgen, dass der Nutzer nicht von immer anderen, immer neuen Layern, bevormundet wird? Wie können wir auch in Zukunft eine Plattformneutralität gewährleisten?

[..]

Ja, ich plädiere dafür, dass Infrastruktur- und damit Machtkolosse wie Facebook, Apple und Google auf die eine oder andere Weise vergesellschaftet werden. Wichtig: mit "Vergesellschaftung" meine ich nicht Verstaatlichung! Ich meine damit: unter die hoheitliche Macht und Kontrolle der zivilen Gesellschaft gestellt. Bei Algorithmen ist die beste Vergesellschaftung die Überführung in Open Source. Quelloffene Programme sind vergesellschaftlicht insofern, dass jeder die Möglichkeit hat, ihre Funktionsweise zu überprüfen, sie zu ändern und weiterzuentwickeln und dass sie für jeden kostenfrei einsetzbar sind.

Dieser bemerkenswerten Forderung nach umfassenden staatlichen Regelungen (denn nur über sie lässt sich dies durchsetzen) für die Internetwirtschaft liegt die Überlegung zu Grunde, dass Märkte mit Netzwerkeffekten und im speziellen mit zweiseitigen, indirekten Netzwerkeffekten automatisch Monopole erschaffen, die zu starke Machtkonzentration nach sich ziehen. Das ist so nicht richtig.

Gerade die möglichen unterschiedlichen Geschäftsmodelle für Plattformprovider bei zweiseitigen Märkten erlauben verschiedene Herangehensweisen, die unterschiedliche Präferenzen ansprechen können und dementsprechend Koexistenz ermöglichen, wie man bereits in der Vergangenheit beobachten konnte (siehe etwa der Spielkonsolenmarkt, oder der Kreditkartenmarkt in den USA).

Hinzu kommt, dass auch der stärkste direkte Netzwerkeffekt, jener, den man bei Social Networks beobachten kann, bis dato zu keinem anhaltenden Monopol geführt hat. Facebook ist hier auf einem guten Weg und weiter als jeder vor ihnen, aber sie sind dort noch nicht angekommen.

Nun ist diese Monopolbildung allerdings nicht auszuschliessen. Im Gegenteil, sie ist bei einem starken direkten Netzwerkeffekt sogar langfristig wahrscheinlich. Die Frage ist aber nun, ob die Ausnutzung des Monopolstatus nicht dazu führen würde, dass die Marktsituation sich wieder ändern würde. Seemann scheint von Folgendem auszugehen:

Netzwerkeffekte -> Monopol -> Missbrauch

Das ist problematisch, weil es durchaus nicht so sein muss, dass einer dieser Umstände automatisch zum anderen führt. Im Internet ist Monopolbildung auf vielen Ebenen nicht zwangsläufig damit verbunden, was der Volksmund Missbrauch und der Ökonom Abschöpfung der Konsumentenrente nennt. Warum? Weil die Markteintrittsbarrieren oft niedrig genug sind, um neue Marktteilnehmer zuzulassen, die potentielle Konkurrenz bedeuten können.

Nun wachsen allerdings seit Jahren in einigen Bereichen die Markteintrittsbarrieren im Internet. Die bald 500 Millionen aktive Nutzer auf Facebook gehören ebenso dazu wie die riesigen, global verteilten Serverparks von Google.

Die Durchlässigkeit des Online-Marktes nimmt also ab. Eine natürliche Entwicklung. Das kommerzielle Internet wird erwachsen.

Aber rechtfertigt das einen weitgehenden staatlichen Eingriff, eine "hoheitliche Macht und Kontrolle der zivilen Gesellschaft"?

Warum sollte online den Unternehmen mehr vorgeschrieben werden als Unternehmen, die offline agieren? Warum soll Google zum Beispiel seinen Pagerank-Algorithmus offenlegen, wenn etwa Coca Cola sein Cola-Rezept nicht offenlegen muss? Diese Antwort bleiben sowohl Seemann als auch Schirrmacher, der ähnliches fordert, schuldig.

Die zugrundeliegende Annahme, so scheint mir, ist die, dass die Monopolstellung oder einmal erreichte Marktmachtstellung der Webunternehmen so stark ist, dass diese Position nichts mehr erschüttern kann. Tatsächlich wird diese Position mit größerem Marktanteil aufgrund der Netzwerkeffekte oft stärker. Aber auch online ist nichts in Zement gegossen.

Eine starke Kontrolle des Plattformproviders, die das Ausführen diverser Aktivitäten auf der Plattform erschwert, schafft in erster Linie eine Marktlücke. Je bedeutender die Einschnitte für die Plattformnutzer, desto größer die Marktchance.

Je höher die Markteintrittsbarrieren, desto größer wird auch das Potential des Plattformproviders, Kontrolle durchzusetzen (sowohl im Sinne von Plattform'zensur' als auch im Sinne von Abschöpfung der Konsumentenrente). Das heißt, niedrige Markteintrittsbarrieren sind politisch erwünschenswert. Das bringt uns zum nächsten Punkt.

Das Multihoming-Missverständnis

Michael Seemann schreibt:

Bei Plattformen, die eine gewisse soziale Gravitation entwickelt haben, hilft das Öffnen des Quellcodes herzlich wenig. Hier muss versucht werden, die Plattform zu zwingen, offene Schnittstellen für alle seine Funktionen nach außen hin anzubieten, so dass man die Plattform mit eigenen Mitteln und ohne sich den Fängen eines einzelnen Anbieters auszuliefern, daran teilhaben kann. Offene Protokolle zum Datenaustausch, so dass ich von Xing oder StudiVZ Nachrichten an Freunde auf Facebook schicken kann und ich mein Freundesnetzwerk (Social Graph) von einer auf eine andere Plattform portieren kann.

Das bezeichnet Seemann als Multihoming. Das ist es nicht.

Multihoming bezeichnet den parallelen Einsatz von Plattformen. Dieser kann auf verschiedene Arten stattfinden und ist heute bereits möglich. Endnutzer, die sowohl Twitter als auch Facebook benutzen, betreiben Multihoming.

App-Entwickler, die ihre Applikation für Facebook als auch für Googles Open Social programmieren, betreiben Multihoming.

Was Seemann tatsächlich fordert, ist die größtmögliche Senkung der Kosten für Multihoming.

Will man als Endnutzer heute Multihoming bei Social Networks betreiben, ist das nahezu kostenlos möglich (von den Kosten für den Netzzugang abgesehen). Man kann seine Freunde auf Facebook, MySpace und co. hinzufügen; man kann seine Fotos auf all diesen Netzwerken hochladen usw. Das Problem: Diese (redundante) Arbeit ist mit Zeitaufwand verbunden. Das Gleiche gilt für den umgekehrten Fall, wenn Entwickler für verschiedene Plattformen entwickeln.

Das hat zur Folge, dass zwar theoretisch viele Netzwerke gleichzeitig genutzt werden können, weil die Nutzung der meisten keine monetären Kosten nach sich zieht, die Nutzung aber von der zur Verfügung stehenden Zeit beschränkt wird: Es werden nur wenige Plattformen gleichzeitig genutzt.

Michael Seemanns Lösung für diesen Umstand ist der Zwang zur Offenlegung von Code, zur Nutzung von offenen Standards und zur Bereitstellung von Datenaustausch über offene Schnittstellen:

Eine konkrete Aufgabe der Politik könnte also sein, solche Abschottungen der Marktführer gegen das Multihoming effektiv zu unterbinden und ihn im Gegenteil dazu zu zwingen, alles für das Multihoming erforderliche zu tun.

Das Problem bei dieser Lösung liegt im Wort "Zwang".

Zwei Problemfelder offenbaren sich:

1. Wer entscheidet über die offenen Standards? Ob Kommittees, Workinggroups oder staatliche Institutionen: Nicht die Unternehmen und der Markt würden über die komplette Weiterentwicklung von Technologie entscheiden, sondern Bürokratien bzw. externe Institutionen.

2. Ein Problem liegt in der Funktionalität von Plattformen, die Seemann komplett ausblendet. Lock-In findet nicht nur in Form von Netzwerkeffekten statt. Lock-In kann auch über Funktionen erfolgen.

Was ist besser, wünschenswerter:

Eine Welt, in der wir auf eine standardisierte, ratifizierte mobile Plattform mit Webappstore-Anbindung warten müssten, oder das Jetzt, wo wir mit einem geschlossenen iPhone/iPad-OS und nicht kompatiblem Android "leben müssen"? Facebooks Open Graph jetzt oder diesen verbieten und darauf warten, dass der Open Stack irgendwann sinnvoll umsetzbar wird? Wo kommt Innovation her?

Wer bewegt sich schneller? Apple/Google oder W3C?

Multihomingkosten in Informationsmärkten entstehen durch Lock-In. Multihomingkosten eliminieren, heißt Lock-In eliminieren. Dieser kann auf viele Arten entstehen: direkte oder indirekte Netzwerkeffekte, Funktionen der Plattformen.

Facebook war jahrelang das einzige Social Network mit angeschlossener Plattform und konnte damit und zum Beispiel mit den darauf stattfindenden Social Games eine Funktionalität bieten, die anderen fehlte und teilweise noch immer fehlt. Die neuen Funktionen von Facebook gehen noch weiter. Die Nützlichkeit der Funktionen ist der Grund, warum Facebook sie einführt und warum sie den Lock-In von Facebook verstärken. Wie sollte diese Entwicklung bei politisch verordnetem, absolutem Multihoming-Zwang aussehen? Wie kann da überhaupt Innovation mit angemessener Geschwindigkeit stattfinden?

Darf keine Funktion eingeführt werden, bevor sie selbst und die ihr zugrundeliegenden Daten als offener Standard definiert und durchgewunken sind? Nur so kann schließlich sichergestellt werden, dass Aktivitäten auf Plattform XY komplett exportierbar bleiben.

Ein weiteres Beispiel: Man übersetze diese Forderung auf die Desktop-Betriebssysteme. Dort ist das aktuelle Monopol wesentlich stärker und folgenreicher, als alles, was bis dato online Marktmacht aufgebaut hat. Die Forderung nach Plattformneutralität bei OS würde bedeuten, dass alle Programme für Windows auch auf Linux und MacOS laufen können müssen. Damit Windows (oder MacOS oder Linux) eine neue Funktion im OS integrieren dürfte, müsste diese Funktion erst komplett offengelegt werden, damit sie in die anderen integriert wird. Die anderen hätten zusätzlich die Verpflichtung, die Funktion zu integrieren, um umfängliches Multihoming sicherzustellen. Wie langsam wäre wohl die Weiterentwicklung von Betriebssystemen, wenn jede Neuerung erst beantragt, dann genehmigt und schließlich von allen umgesetzt werden müsste?

Markt vs. Staat

Michael Seemann fasst Plattformneutralität in einem weiteren Artikel wie folgt zusammen:

Plattformneutralität geht davon aus, dass jede Kommunikation auf mehreren Plattformen stattfindet. Jeder Markt, jedes Gespräch, jeder Telefonanruf und jeder Chat basiert auf mehr als einer sozialen, ökonomischen, technologischen Infrastruktur. Jede Kommunikation hat mehrere vertikal übereinander geschichtete Layer zur Grundlage und es reicht niemals aus, nur die Neutralität einer dieser Plattformen zu sichern, sondern man muss alle in den Blick nehmen. Plattformneutralität versucht jede Engführung, jeden Flaschenhals und jedes Machtgefüge auf den jeweiligen Layern der Kommunikation zu identifizieren und zu beseitigen.

(Hervorhebung von mir)

Die Schlussfolgerung aus der Aussage im letzten Satz ist: Die Unterscheidbarkeit zwischen Webunternehmen wird auf das User-Interface reduziert. Alles andere wird vom Staat streng reguliert mit Hinblick auf Gleichschaltung. Darin steckt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Marktkräften im Web (wie bereits oben angesprochen, werden die durchaus zu beachtenden Auswirkungen von Monopolen im Web unter Umständen stark überschätzt). Wenn man so argumentiert, muss man allerdings auch die staatlich reglementierte Alternative modellieren und aufzeigen, wo genau der Wohlfahrtsgewinn liegt.

Fazit

Eine Internet-Politik, die sich mit den tatsächlichen Rahmenbedingungen beschäftigt, ist notwendig. Diese muss nicht zwangsläufig auf stärkere Kontrolle von Web-Unternehmen hinauslaufen, als man dies bei Unternehmen außerhalb des Webs kennt. Der Online-Markt funktioniert wie der Markt offline, besser noch: Niedrige Transaktionskosten sorgen für eine im Verhältnis bessere Allokation als man sie offline beobachten kann.

Will man den Online-Markt niederknüppeln, dann kann man eine Politik umsetzen, die vorschreibt, offene Standards zu nutzen und die Anbieter zwingt, staatlich oder anderweitig marktextern kontrollierte, standardisierte Exportmöglichkeiten bereitzuhalten. Das alles liefe auf eine starke staatliche Kontrolle hinaus. Jede zusätzliche Funktion einer Plattform müsste extern genehmigt werden, weil sie potentiell zu einem Lock-In-Effekt führen kann.

Dass die Endnutzer in so einem Szenario im Vergleich zu einer freien Online-Marktwirtschaft automatisch besser gestellt sind, ist stark zu bezweifeln.

Der Gedanke der "Plattformneutralität" sieht auf den ersten Blick gut aus. Aber ohne konkrete Ansätze, wie er umgesetzt werden soll, ohne schwerwiegende Nebenwirkungen zu erzeugen, erscheint er zunächst als massiver staatlicher Eingriff, der die Weiterentwicklung der Webwelt in weiten Teilen lähmen würde.

Das Gegenteil von 'gut' ist eben oft 'gut gemeint'. Auch in diesem Fall.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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