7. Juni 2010 Lesezeit: 7 Min.

Suboptimale Plattform-Strategie von Twitter ist gut für den Rest des Webs

twitter

Die Entscheidung von Twitter, im eigenen Ökosystem zu wildern, um umfänglich auf Werbung setzen zu können, zwingt auf Twitter setzende Drittanbieter zum Multihoming als Ausdifferenzierungsmerkmal. Das sind gute Nachrichten für Facebook, Google Buzz und auf offene Standards setzende Angebote wie StatusNet. Und für die Nutzer.

Inhalt:

Twitter setzt auf Werbung

Vor knapp zwei Monaten begann Twitter mit dem Kauf von Tweetie seinen Strategieschwenk, den ich seinerzeit als eine Fehlentscheidung bezeichnete.

Mittlerweile hat Twitter sein geplantes werbebasiertes Geschäftsmodell bekanntgegeben: Es beginnt mit "Promoted Tweets" von zahlenden Kunden, welche in den Suchergebnissen hervorgehoben werden (und entsprechend gekennzeichnet). Das (halbherzige) Vorgehen gegen Dienste, die Werbung direkt in Streams von Twitter-Nutzern verkaufen, deutet auf eine Ausweitung des Geschäftsmodells Werbung hin.

Auch der Kauf von Tweetie deutet auf eine Ausweitung der Werbung hin die auch das Frontend mit einbezieht. Dass Twitter nicht gleichberechtigt auf verschiedene Einkommensströme setzen wird, sondern Werbung in den Vordergrund rückt, legt auch ein Interview mit dem Ex-Twitter-Entwickler Alex Payne nahe. Dieser sagt:

The move toward making advertising a core part of the business makes a lot of sense for the company’s future and profitability, but from my perspective, that’s one of the things that let me know that it was time for me to leave … because I wasn’t interested in working for an ad company. For a long time, the promise at Twitter was that we were going to look at different ways of making money, and to some degree I feel that hasn’t happened .

(Hervorhebung von mir)

Dass Twitter Werbung als einen wichtigen Standpunkt einsetzt, ist nicht verwunderlich. Wenn das Unternehmen der hohen Bewertung durch seine Investoren gerecht werden will, muss es jede Art von Einkommensstrom in Betracht ziehen.

Die Art und Weise, wie man dies angeht, ist aber strategisch unklug und deutet mittel- bis langfristig auf Probleme, die auf Twitter zukommen - was wiederrum gut für den Rest des Webs ist.

Plattform-Strategien: Twitter vs. Ökosystem

Twitter hat mit der Übernahme von Tweetie ein klares Zeichen in die Entwickler-Community gesendet: Künftig ist keine Kategorie vor möglichen Übernahmen sicher. Ich schrieb seinerzeit:

Twitters Plattform wird durch diesen Schritt nicht attraktiver, eher im Gegenteil.

Twitter hat mit dem Kauf von Tweetie mehr noch als damals mit der Übernahme von Summize gezeigt, dass sich das Verhältnis von Twitter zu seinem Ökosystem ändert (denn die Hauptkategorie für Twitter-apps waren immer Clients).


GigaOm hat einige Investoren zur Attraktivität der Twitter-Plattform befragt. Die Ergebnisse bestätigen meine Analyse:

Many of them, who had themselves invested in Twitter-related startups, said they were stepping back from the Twitter ecosystem, even if only momentarily. They said that while they understood some of the onetime shifts that Twitter has made, and the necessity for the company to make money, its recent moves had given them reason to pause.

Die gegensätzliche, auf netzwertig geäußerte Annahme, die Übernahmemöglichkeit durch Twitter könnte von Entwicklern wohlwollend angenommen werden, hat sich also, wie erwartet, nicht bestätigt.

Warum bietet Twitter kein offizielles App-Verzeichnis an?

Nach der Übernahme des Tweetie-Clients habe ich über Twitter und das Verhältnis zu seinen Dritt-Anbietern intensiv nachgedacht. In diesem Zusammenhang ist mir wieder etwas eingefallen, das ich schon früher erstaunt zur Kenntnis genommen habe und das so offensichtlich ist, dass es verwundert, dass dies noch nicht von anderen aufgegriffen wurde:

Obwohl Twitter massgeblich von durch die auf die API aufsetzenden Clients und Zusatzdienste groß geworden ist, bietet es kein eigenes offizielles Verzeichnis der Applikationen an.

Das ist außerordentlich bemerkenswert.

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit intensiv mit Plattformen im Internet. Eine Konstante bei allen Plattformen ab einer bestimmten Größe von der Plattform selbst und/oder dem Ökosystem ist das Anbieten eines offfiziellen Verzeichnisses von Applikationen. Beispiele:

  • Facebook
  • Salesforce
  • Apples Appstore
  • Android
  • Palm WebOS
  • Anbieter von addon-fähiger Software (Google Chrome, Firefox, Thunderbird, Songbird)
  • usw.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Ein offizielles Verzeichnis verbessert die Sichtbarkeit der Angebote im Ökosystem; was wiederrum die Attraktivität des gesamten Systems steigern sollte. Zusätzlich ist so ein Verzeichnis für eine Internet-Plattform einfacher umsetzbar als beispielsweise für einen OS-Anbieter wie Microsoft vor dem Internet-Zeitalter:

Je nach Geschäftsmodell kann man der Plattformprovider die Drittanbieter ihre Angebote selbst eintragen lassen. Zusätzlich können Endnutzer mit Bewertungen und Kommentaren helfen, die für sie attraktivsten und damit für das System nützlichsten Angebote sichtbarer zu machen: Jedes Drittanbieter-Verzeichnis eines Plattformproviders bietet die Möglichkeit, nach Nutzerbewertungen zu sortieren. Diese Art der Darstellung des Ökosystems ist erst mit dem Internet möglich geworden.

Twitter, das bereits 2007(!) stolz verbreitete, dass zehn Mal(!) mehr Traffic über die API als über die Site selbst kommt (weitere Zahlen: 75% der Tweets sollen über Applikationen kommen), hat kein Verzeichnis für diesen wichtigen Teil des eigenen Geschäfts. Bemerkenswert. Das Einzige, was Twitter aktuell macht, um Drittanbieter und Nutzer zusammen zu bringen, ist eine willkürliche Auswahl von Angeboten, die einzeln in der Sidebar angezeigt werden:

Über die API wird noch über Twitter verbreitet, über welchem Dienst oder von welchem Client ein Tweet abgesetzt wird. Mehr Sichtbarkeit erhalten Drittanbieter über den Dienst selbst nicht. Dass das Ökosystem rund um Twitter trotzdem florierte, lag vor allem an drei Umständen:

  • Die grundlegende Architektur von Twitter erlaubt das rasche Verbreiten von Informationen. Wenn Nutzer also zum Beispiel einen Client für besonders nützlich empfinden, dann kann dieser über ihre Äußerungen schneller an Verbreitung finden.
  • Das Web außerhalb von Twitter hat sich mittlerweile so weit entwickelt , dass die Dienste außerhalb des Systems, auf dem sie aufbauen, bekannt werden können.
  • Die Twitter-API hatte gegenüber anderen APIs immer einen entscheidenden Vorteil: Die Entwickler wussten, dass sie immer maximal 140 Zeichen, manchmal mit Link, manchmal ohne, bekommen würden. Diese Vorhersehbarkeit des Formats der Inhalte machte und macht Mashups und auch Clients für Twitter einfacher umsetzbar als beispielsweise für Facebook oder Google Buzz, wo man jeweils mehr als dieses eine Format in Informationsarchitektur und Interface des Angebots einbeziehen muss. (Die Schwierigkeit der Umsetzung sieht man aktuell an den jeweils ersten Iterationen der Google-Buzz-Implementation bei Seesmic und Tweetdeck.)

Trotz dieser Gründe steht es für mich außer Frage, dass ein offizielles, speziell auf die Plattform zugeschnittenes Verzeichnis, das Ökosystem massiv stärken würde.

Was Twitter mit einem solchen Verzeichnis machen könnte:

  • Prominent platzierte, bezahlte Werbeplätze für Drittanbieter
  • Kostenpflichtiges Verified-Programm
  • Drittanbieter, die den kostenpflichtigen Firehose-Zugang nutzen, gesondert hervorheben
  • Sichtbarmachung miteinander verknüpfter Applikationen
  • Support-Community für die Entwickler
  • etc.

Mit einem Verzeichnis hätte Twitter die Möglichkeit, die eigenen Einkünfte stärker anreizkompatibel mit den Drittanbietern zu verknüpfen (gleichzeitig wären die Einkommensströme diversifizierter). Damit wäre, entsprechend umgesetzt, auch ein stärkerer Lockin für die Entwickler entstanden. Was nicht unwichtig ist, wie wir im nächsten Abschnitt zum Multihoming sehen werden.

Warum also hat Twitter bis dato kein offizielles Verzeichnis der Twitter-Mashups und Twitter-Clients? Dieser Umstand deutet meines Erachtens auf ein zumindest ambivalentes Verhältnis vom Plattformprovider zu den auf die Twitter-Plattform setzenden Drittanbietern hin. Diese Ambivalenz geht weit über den Kauf von Tweetie hinaus. Ein Verzeichnis hätte bereits 2007 oder 2008 eingeführt werden können.

Entwickler zum Multihoming gezwungen

Investoren zu GigaOm über die Twitter-Plattform:

Most said they were no longer interested in talking to pure-play Twitter startups.[..] However, there is still interest in startups that are using Twitter as a broad distribution platform and as part of an overall growth strategy.

Das bestätigt eine weitere Annahme, die ich nach Bekanntgabe des Tweetie-Kaufs machte:

In den nächsten Monaten werden wir von vielen Twitterclients lesen, die auf einmal etwas machen werden, was der offizielle Twitter-Client nie machen wird: Andere Dienste wie Facebook, Tumblr, Google Buzz und Status.net unterstützen. Denn das wird der einzige Weg sein, sicherzustellen, dass der eigene Client Mehrwert gegenüber dem offiziellen Twitter-Client haben wird.

Es ist kein Zufall, dass kurz nach der Tweetie-Übernahme die Clients Seesmic und Tweetdeck in ihren neuen Versionen vor allem mit neu unterstützten Diensten glänzen.

Wordpress-CEO Matt Mullenweg hat vor einigen Wochen noch kritisiert, dass kein Client-Anbieter die von Wordpress via Reverse Engineering implementierte Twitter-API unterstützt, obwohl dafür lediglich die Möglichkeit geschaffen werden muss, auf die Twitter-API über einen Proxy-Server zuzugreifen. Twitter kauft Tweetie und schon integriert Tweetdeck diese Funktion. Das ist kein Zufall. Das ist das einzige, was für Client-Anbieter wie Tweetdeck sinnvoll ist: Massiv Multihoming unterstützen.

Twitters eigene Applikation ist dabei gleichzeitig im Nachteil, wenn es keine Plattformen neben Twitter unterstützt; und das wird es natürlich nicht. (Ausnahme: Tweetie unterstützte eine eigentlich für Proxy-Server gedachte Funktion, mit der auch Twitter-API-kompatible Dienste angesprochen werden. Diese wird man wohl nicht abschaffen.)

Gleichzeitig:

Twitter ist nicht Microsoft

Wenn über Plattform-Strategien debattiert wird, wird oft Microsoft als Vergleich herangezogen. Microsoft hat mit Windows eine enorm erfolgreiche Plattform aufgebaut. Gleichzeitig hat Microsoft mit Microsoft Office erfolgreich ein Angebot auf der Plattform etabliert, dessen Funktionen vorher von Drittanbietern angeboten wurden. Das Argument geht also wie folgt: Microsoft war damit erfolgreich, also wird das ja wohl auch für alle anderen Plattformprovider gelten.

Das stimmt allerdings nicht. Man kann nicht alle Plattformen in einen Topf werfen und wild vergleichen. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen  Betriebssystemen wie Microsoft Windows und Internetplattformen wie Twitter:

Zum einen sehen sich letztere in der Regel wesentlich niedrigeren Markteintrittsbarrieren gegenüber, was den Aufstieg eines Herausforderers auch für etablierte Plattformen immer real hält. Sie müssen also immer den Lockin für die verschiedenen Seiten auf der Plattform im Auge behalten.

Zum anderen ist Multihoming oft um ein Vielfaches einfacher umsetzbar, gerade und besonders bei Clients: Die Implementierung mehrerer APIs in Tweetdeck ist einfacher umgesetzt, als die Portierung eines Programms für Windows auf Linux und Mac. Gleichzeitig bedeutet Multihoming hier kein zusätzliches Angebot sondern eine Funktionserweiterung eines bestehenden Angebots.

Das heißt, dass Twitters offizieller Client nie zum Äquivalent von MS Office für die Plattform werden kann, weil ihm aus strategischen Gründen immer die Multihoming-Funktionalität fehlen wird.

Gerade Clients sind nun aber wichtig für die Plattformen. Für viele Nutzer sind die Clients der Zugang zur Plattform. Twitter hätte die Client-Anbieter näher an sich binden müssen, statt sie vor den Kopf zu stossen. Abgesehen vom offiziellen Twitter-Client wird man nun bald keinen Twitter-Client mehr vorfinden, der nur Twitter unterstützt.

Nun kann man argumentieren, dass Multihoming bei Twitter-Clients, sprich die Unterstützung anderer Plattformen, eine logische Entwicklung ist. Das ist in der Tat richtig. Die Frage, die sich aber stellt ist, ob Twitter gut damit beraten ist,

  • diese Entwicklung noch zu beschleunigen;
  • einen Client zu kaufen, der nie Multihoming unterstützen wird;
  • und, zumindest in Teilen, darauf ein Geschäftsmodell zu bauen.

Twitter macht seine Plattform nicht attraktiver für die Entwickler. Es mutet ein bisschen an, als ob Twitter glaubt, man würde nicht mehr mit anderen Plattformen konkurrieren müssen.

Twitter liegt damit aus dem gleichen Grund falsch, warum Drittanbieter-Verzeichnisse für Internetplattformen sinnvoll sind: Das Internet bedeutet Vernetzung und diese hat Implikationen für das eigene Geschäft. So banal das klingt, so oft wird das von Anbietern im Web vergessen. Twitter macht es gerade vor.

Fazit

Was Twitter also mit der aktuellen Richtung macht ist, die eigene Zukunft langfristig aufs Spiel zu setzen. Twitter bringt den eigenen Drittanbietern gerade brutalstmöglich nahe, dass es neben Twitter noch mehr im Web gibt.

Das ist schlecht für Twitter. Es ist gut für Facebook, Google Buzz, StatusNet und andere auf offene Standards setzende Anbieter. Und letztlich ist diese Entwicklung mit der dadurch wieder entstehenden Konkurrenz zwischen Plattformen um Drittanbieter gut für die Endnutzer.

Es kommt wieder Bewegung in die Mashup-Welt.

Marcel Weiß
Unabhängiger Analyst, Publizist & Speaker ~ freier Autor bei FAZ, Podcaster auf neunetz.fm, Co-Host des Onlinehandels-Podcasts Exchanges
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